„Im Wettkampf bin ich allein.“

Olympia-Bronze mit der Staffel, erstes Weltcup-Podium, beste Schützin, Platz 13 im Gesamtklassement: Vanessa Voigt aus Floh-Seligenthal stürmte in ihrer ersten kompletten Weltcup-Saison in die Weltspitze – und war die Überraschung des vergangenen Biathlon-Winters. Ein Gespräch zwischen zwei Sommer-Trainingseinheiten in Oberhof, wo im kommenden Winter vom 8. bis 19. Februar die Biathlon- Weltmeisterschaften stattfinden, bei Waldbeeren-Eistee über neue Reize, einen komischen Vogel und einen ganz besonderen Nachbarn.

Frau Voigt, wenn ich das so sagen darf, Sie sehen etwas müde aus.

Das bin ich auch, ich bin noch ganz schön kaputt von der Trainingseinheit am Vormittag.

 

Was stand auf dem Programm?

Eine zwei-dreißiger Einheit auf Skirollern. Also jeweils eine Stunde und fünfzehn Minuten im klassischen und im Skating-Stil. Am späten Nachmittag gehe ich noch an den Schießstand.

 

Dass Wintersportler im Sommer gemacht werden, ist ja auch längst kein Geheimnis mehr.

Auf jeden Fall. Die Vorbereitung läuft bis jetzt ganz gut, ich war bisher weder krank noch verletzt. Und meine im Sommer 2020 operierte rechte Schulter hält auch. Ein MRT zu Beginn der Vorbereitung hat keine Komplikationen gezeigt. Es ist alles in Ordnung, ich mache fleißig meine Übungen und ab und zu schauen sich die Ärzte und Physios meine Schulter an.

 

Die Frauen-Nationalmannschaft hat neben Kristian Mehringer mit dem Norweger Sverre Olsbu Röiseland einen neuen Disziplintrainer. Was macht der Neue anders?

Es ist immer mal wieder notwendig, ein paar neue Reize zu setzen. Grundsätzlich sind die Basics ja immer gleich. Es geht um die Feinheiten, gerade beim Schießen. Da ist es wichtig, auch mal etwas anderes auszuprobieren. Das macht er gut. Wir schießen zum Beispiel auch mal ohne Riemen. Es ist interessant zu sehen, wie das den gesamten Schießvorgang beeinflusst. Klar, die Scheibe ist immer gleich groß, aber der Weg dahin ist sehr komplex.

 

Sie waren im letzten Winter die beste Schützin im Weltcup. Müssen Sie überhaupt etwas ändern?

Ich hatte eine Trefferquote von 92 Prozent, da fehlen ja noch 8 Prozent zu 100. Man lernt nie aus.

 

Sverre Olsbu Röiseland ist nicht nur Ihr neuer Trainer, er ist auch der Ehemann der norwegischen Top-Athletin Marte Olsbu Röiseland …

Das Rad neu erfinden kann er auch nicht und so geheimnisvoll ist unser Trainingsplan auch nicht, dass er etwas verraten könnte. Es ist aber schon interessant zu sehen, wie die Norweger trainieren. Wir waren im Sommer in Lillehammer im Trainingslager. Die brennen so für den Sport und haben dabei eine ganz andere Mentalität als wir. Zum Beispiel machen sie Schießtraining nicht stur nach Plan, sondern wie sie Lust haben, das kann auch mal 21 Uhr sein. Sie lassen auch ihre Waffe am Schießstand stehen, laufen auf Skirollern vom Stadion nach Lillehammer und wieder zurück. In der Zeit könnte jeder an das Gewehr gehen, nebenan ist ein Campingplatz. Das ist in Deutschland undenkbar.

 

Sie gewannen im vergangenen Winter Olympia-Bronze, erreichten ihr erstes Weltcup-Podium und wurden im Gesamtklassement als 13. die zweitbeste Deutsche hinter Vanessa Herrmann. Hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Das Medieninteresse ist größer geworden, aber das kann ich selber steuern. Wenn es mir zu viel wird, sage ich nein. Und ich bin immer noch die Vanessa, die ich vorher war.

 

Wie war das eigentlich in Peking – bei Ihren ersten Olympischen Spielen?

Ich bin ohne Erwartungen nach Peking gefahren. Für mich war es schon total cool, dass ich mich nach meiner ersten kompletten Weltcup-Saison überhaupt für Olympia qualifizieren konnte. Im Vorfeld und vor Ort ist viel auf uns eingeprasselt, auch bezüglich der politischen Situation. Wir sind aber nicht dafür verantwortlich, dass die Spiele in China stattgefunden haben. Für uns haben die Zeitumstellung und vor allem die Kälte eine viel größere Rolle gespielt.

 

Im Einzel über 15 Kilometer verpassten Sie als Vierte um 1,3 Sekunden die Bronzemedaille. Wissen Sie mittlerweile, wo Sie die Zeit verloren haben?

Man findet immer etwas zum Mäkeln. Klar, meine Schießzeiten sind ausbaufähig. Ich schieße lieber Treffer vor Zeit, aber eher unbewusst. Läuferisch kann ich mir nichts vorwerfen, ich hatte die schnellste letzte Runde und insgesamt die fünftbeste Laufzeit. In der Wiederholung im Fernsehen habe ich dann aber gesehen, dass ich nach meinem letzten Schießen beim Rauslaufen aus dem Stadion auf die Anzeigetafel geschaut habe. Vielleicht war es genau dieses kurze Zur-Seite-Schauen. Bei der letzten Zwischenzeit lag ich 0,2 Sekunden hinter der Dritten. Das habe ich aber gar nicht mehr richtig mitbekommen, weil alle Trainer und Betreuer an der Strecke nur noch geschrien haben. Da war kein normales Wort mehr dabei, ich habe nichts verstanden. Sie wollten mir helfen und mich pushen. Mehr ging aber nicht.

 

Sie wirken sehr cool. Hatten Sie vor der Staffel, die Sie als Startläuferin eröffneten, wenigstens ein bisschen Bauchkribbeln?

Wir haben zusammen mit den Trainern vorher sehr lange überlegt, wer welche Position laufen soll. Die anderen drei Mädels haben es mir überlassen, ob ich als Startläuferin beginnen will. Schließlich hatte ich die Mixed-Staffel an Position eins verkackt.

 

Bei sehr starkem Wind am Schießstand…

Das ist aber keine Ausrede. Ich habe dann entschieden, dass ich beginne, auch, weil die anderen viel mehr Erfahrung auf den anderen Positionen haben. Natürlich hatte ich ein bisschen Bauchweh vor dem Start. Aber trotzdem machen wir auch bei Olympia nur das, was wir das ganze Jahr über tun. Man hat ja auch auf der Strecke oder am Schießstand gar keine Zeit, so viel zu überlegen. Die Trainer haben mir vor der Staffel sehr geholfen und mir Mut zugesprochen. Ich wollte es mir und allen anderen beweisen.

 

Das ist Ihnen fehlerfrei gelungen.

Das stimmt. (lacht)

 

Wie haben Sie das dramatische Finish erlebt, in dem Vanessa Herrmann die Bronzemedaille gegen den Top-Favoriten Norwegen sicherte?

Wir standen direkt an der Strecke, da war uns die Kälte dann völlig egal. Ich weiß gar nicht, wie man auf Schluss laufen kann, ich war schon beim Zuschauen fix und fertig. Eine Stimme hatte ich danach auch nicht mehr. Wir haben gebrüllt, gebangt, gehofft. Und es ist ja auch gutgegangen. Dabei waren wir nicht unbedingt ein Medaillenkandidat. Bei den Weltcups standen wir nicht einmal auf dem Podest.

Wie entspannen Sie sich vom Training oder vor dem Wettkampf, wie lenken Sie sich ab?

Vor einem Rennen höre ich meistens Musik. Das ist tagesabhängig, manchmal brauche ich es, manchmal nicht. Ansonsten ist der Ablauf immer derselbe, Rituale habe ich keine. Zum Entspannen schaue ich ab und zu Serien. Aktuell habe ich mit „Monk“ angefangen. Der war mal Polizist und löst jetzt als Detektiv die Fälle mit seinem genialen Spürsinn. Er ist aber auch ein komischer Vogel mit nervtötenden Marotten. Er muss zum Beispiel immer alles ordentlich und sauber haben. Wenn er jemandem die Hand gibt, hat er in seiner linken Hand schon ein Taschentuch, um sich danach seine rechte Hand abzuwischen. Einmal ist er in eine Garage gekommen mit Schaufeln, Sägen, Hämmern, … alles hing total akkurat an der Wand. Er schaute sich um und sagte: „Wenn ich mal eine Garage habe, dann soll sie genau so aussehen.“ Das ist so lustig! Bei mir muss auch immer alles ganz ordentlich sein, ich sortiere sogar meine Sachen im Kleiderschrank nach Farben.

 

Monk verfügt über ein fotografisches Gedächtnis, in die Zukunft blicken kann er aber auch nicht. Das können Sie wahrscheinlich genauso wenig. Sie können uns aber sicherlich sagen, mit welchen Erwartungen Sie in die neue Saison gehen?

Es wird jedenfalls nicht leichter, das ist mir bewusst. So eine Saison wie die letzte zu bestätigen, ist schwer. Da kann ich nicht einfach mit den Fingern schnipsen und dann wird es schon. Gerade auch, wenn die Heim-WM ansteht. Ich weiß, dass die Erwartungen an mich sehr hoch sind. Aber weil ich das weiß, kann ich das gut einschätzen. Ein Vorteil ist auf jeden Fall, dass ich bis Weihnachten im Weltcup gesetzt bin, das hilft mir ungemein. Und dann … schauen wir mal.

 

Ihr Trainer Kristian Mehringer traut Ihnen alles zu. Und auch viele Experten wie Kati Wilhelm und Sven Fischer sind sich einig, dass Sie Ihr Potenzial noch lange nicht ausgereizt haben.

Das glaube ich auch, ich bin ja erst 24. (lacht) Ich konnte vor der letzten Saison zum ersten Mal richtig gut durchtrainieren. Und jetzt pendele ich auch nicht mehr alle zwei Wochen zwischen Oberhof und Ruhpolding. Meine Basis ist Oberhof. Das Geheimnis ist, sich bei den Lehrgängen in der Gruppe zu pushen, aber dann auch wieder zurückzukommen und selber an sich zu arbeiten. Manchmal schließe ich mich einer Trainingsgruppe in Oberhof an. Meistens mache ich aber mein Ding. Im Wettkampf bin ich ja auch alleine.

 

Welche Potenziale gilt es noch auszureizen?

Bei der Lauftechnik habe ich noch viel Luft nach oben. Und meine erste Runde ist noch zu langsam. Ich mache das nicht bewusst, das liegt auch an der Trainingssteuerung.

 

Mit was für einem Puls sind Sie auf der Strecke unterwegs?

Das kommt auf die Strecke an. Meistens komme ich mit einem 190er Puls zum Schießstand. Dann muss er ganz schnell auf 160 runter.

 

Magdalena Neuner hatte großen Respekt vor dem langen Zieher zum Schießstand in Oberhof, weil man so lange an den jubelnden Zuschauern vorbeiläuft und aufpassen muss, nicht zu überziehen.

Das kann ich mir gut vorstellen. Leider habe ich das mit Zuschauern noch nie erlebt. Ich hoffe, dass die Arena bei der WM voll ist.

 

Apropos Magdalena Neuner: Haben Sie Vorbilder?

Im Biathlon nicht. Mein großes Vorbild ist der ehemalige Gewichtheber Matthias Steiner. Als Kind habe ich natürlich in alle Freundschaftsbücher geschrieben, dass ich mal so schnell sein will wie Magdalena Neuner oder Kati Wilhelm, aber ich habe niemanden angehimmelt. Und in Floh-Seligenthal treffe ich Sven Fischer auch schon mal an der Tankstelle, er wohnt ja im selben Ort. Ich erinnere mich auch, dass der Sven mal bei uns zu Besuch war, als ich noch auf der Sportschule war. Ich durfte ihm Fragen stellen, die ich vorher auswendig gelernt hatte. Er hat mir den Rat gegeben, Schieß-Trockenübungen zu machen.

 

Sein Markenzeichen war es, ohne Handschuhe zu laufen. Das hat er Ihnen aber nicht empfohlen, oder?

Nein. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Aber ich würde meine Hand ins Feuer legen, dass er in Peking bei minus 20 Grad definitiv mit Handschuhen gelaufen wäre.

 

Frau Voigt, vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für die neue Saison, vor allem bei der Heim-WM!

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Kevin Voigt