Liszt oder Lizura?

Die Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt feiert in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen. Zu Ehren des berühmten Namensgebers haben Studierende der Musiktheorie Liszt-Fragmente weiterkomponiert – zu hören sind sie am 21. Oktober, am Vorabend von Liszts 211. Geburtstag, im Festsaal des Fürstenhauses. Eine der Aufführenden ist Diana Lizura.

Bei einer Probe im Hochschulzentrum am Horn traf ich die 24-jährige Masterstudentin.

„Nein, nein!“, sagt Diana Lizura, während ihre Finger weiter mit den schwarz-weißen Tasten spielen. Sie schüttelt den Kopf: „Eine Ballade ist es nicht!“ Das Stück, dass sie an diesem Freitagmittag an einem Flügel im Hochschulzentrum am Horn vorträgt, hat auch keinen Namen. Es sei kompliziert, einen passenden zu finden, weil bei Liszt so viel passiere, sagt sie. Das Stück sei Fantasie, ziemlich hell in der Stimmung, himmlisch, andächtig. Aber es gebe auch ein bisschen Donner. Und viel Theater. Wie immer bei Liszt. Ein Wort würde eben nicht alles das übertragen, was da tatsächlich steht. Auf dem Notenblatt steht „Fortsetzung des Liszt-Fragments“. 1846 hat Liszt angefangen das Klavierstück „Andante religiosamente in G-Dur“, S166j zu komponieren. Fortgeführt und weiterkomponiert hat es Diana Lizura 175 Jahre später im Rahmen ihres Klavierstudiums in einem Liszt-Kurs bei Marcus Aydintan. Aufgeführt wird es gemeinsam mit anderen weitergeführten Fragmenten von Studierenden am 21. Oktober 2022 um 19.30 Uhr im Festsaal des Fürstenhauses zu Weimar.

 

Im Alter von gerade einmal einem Jahr sitzt Diana Lizura am Küchentisch zuhause im sibirischen Tomsk und schlägt mit Gabel und Löffel auf Töpfe und Teller. Und hört gespannt, wie das wohl klingt. Stundenlang macht sie das. Ein paar Jahre später kommt sie, auf Zehenspitzen stehend, gerade so mit den Fingern an die Tasten des Klaviers. Während die Mama spielt, schlägt sie die Tasten an. Und achtet darauf, dass ihre Töne auch ja zum Spiel der Mutter passen. Ihr musikalischer Weg scheint vorgezeichnet. Aber zunächst muss sie zur rhythmischen Sportgymnastik, wie die acht Jahre ältere Schwester. Doch das macht ihr so gar keinen Spaß, dieses dauernde Verrenken und Dehnen. Sie weint viel. Schließlich erlöst sie die Mama, allerdings unter einer Bedingung: „Dann gehst du aber auf die Musikschule und lernst Klavier!“ Na klar macht sie das, Hauptsache nicht mehr diese Gymnastik. Die Musik, die sie fortan hört und erlernt, fasziniert sie.

 

Bis zur 5. Klasse und der nun einsetzenden Pubertät. Plötzlich sieht sie ihre Zukunft nicht mehr unbedingt in der Musik. Die Mutter, die selbst eine siebenjährige Ausbildung an der Musikschule absolvierte, hat eine Idee: Sie organisiert ein Vorspielen für ihre Tochter an der renommierten Musikschule für hochbegabte Kinder im 300 Kilometer entfernten Nowosibirsk. Diana willigt etwas missmutig ein. Sie spielt Slonimski, Bortnjanski, Rachmaninow und Denissow. Die Prüfenden sind überrascht, sie erwarteten eher Bach, Mozart, Haydn und Beethoven. Aber Diana liebt russische und ukrainische Komponisten. Sie wird angenommen und zieht ins Internat. Nach einem harten ersten Jahr fühlt sie sich rundum wohl in ihrer neuen Welt. Die Musik lässt sie jetzt nicht mehr los. Die Kommilitonen sind ihre Ersatz-Familie.

 

Ihre echte Familie hat mütterlicherseits deutsche Wurzeln. Viele Verwandte und Freunde reisen ab den 1970er Jahren als ethnische Deutsche in die Bundesrepublik aus. Oft besucht Diana, die in der Schule die deutsche Sprache lernte, ihre Oma in der Eifel. Und sie spielt auf Festivals und bewirbt sich mit 13 Jahren am Landesmusikgymnasium in Montabaur. Die würden sie aufgrund ihres Talents gern nehmen, raten aber vom Abitur in Deutsch ab. Sie soll ihre Grundausbildung besser in Russland abschließen und dann wiederkommen. Dasselbe sagt ihr Grigory Gruzman, Professor für Klavier an der berühmten Liszt-Hochschule in Weimar. Gesagt, getan! 2016 kommt Diana Lizura das erste Mal nach Weimar – und bleibt. Natürlich hatte sie schon viel gehört über die Klassikerstadt und das Renommee der Virtuosen-Schule, deren Gründung Franz Liszt als Hofkapellmeister bereits 1835 als „Fortschrittschulen der Musik“ vehement einforderte. Die Gründung der ersten Orchesterschule Deutschlands erfolgte schließlich 1872. Seinen Namen trägt die Elite-Schule seit 1956.

60 Jahre später besteht Diana Lizura die Eignungsprüfung zum Klavierstudium. Seitdem lebt sie in Weimar. Und widmet sich seit dem 5. Semester auch der Pädagogik – sie unterrichtet an Musikschulen. Das liegt ihr mehr als das ständige sich messen müssen mit sich und anderen Pianisten. Sie ist kein Wettbewerbstyp. Musiktheorie dagegen, das hat sie schon in Russland interessiert, das möchte sie vertiefen. Vielleicht in einem Masterstudium. Deshalb kommt ihr der Vorschlag von Marcus Aydintan gerade recht: Sie solle doch an seinem Liszt-Theorie-Kurs teilnehmen. Ohne zu wissen, was genau auf sie zukommt, stimmt sie zu.

Die Kurs-Teilnehmer hören die Musik des österreichisch-ungarischen Komponisten, analysieren seine Stücke, die kompositorischen Besonderheiten, die stilistischen Merkmale. Dann sollen sie selber etwas schreiben, das wie Liszt klingt. Diese Aufgabe ist aber nicht so einfach, denn der Meister zeigt in seiner Musik „theatralischen Gestus und verschiedene Charakterwechsel. Es ist immer Theater. Wenn alle Töne nacheinander donnern und grollen, ist das Liszt!“, erklärt Lizura. Die religiösen Stücke haben zudem „etwas Göttliches“. Liszt, der zu den wichtigsten Komponisten der Romantik gehört, war einst auch der erste Pianist, der in großen Sälen spielte. Und er war der Erste, der nicht „nur einfach“ in einem Salon spielte, er überraschte sein Publikum. Er war sozusagen der erste Showstar, der Paganini am Klavier.

 

Diana Lizura bekommt ein einseitiges Liszt-Fragment für Klavier, dass sie fortführen und weiterkomponieren soll. Am Klavier versucht sie, sich etwas vorzustellen, sie probiert aus, verwirft, beginnt neu. Sucht nach Kontrast und Harmonie. Nach Liszt. Aber auch nach Lizura. Was Liszt wohl dazu sagen würde? Ihr Lieblingskomponist ist er ja nicht unbedingt. Das sind eher Stravinsky, Schostakowitsch, Rachmaninow, Tschaikowsky. Aber auch Mahler, Wagner, Debussy, Ravel.  Es gibt nicht den „einen“. Sie mag aber auch experimentellen Rock wie Queen oder Scorpions. Und zum Entspannen auch mal gut gemachte Popmusik. Donner, Grollen, Harmonie, Theater. Liszt würde das sicherlich auch mögen.

 

Das kommende vierte Master-Semester absolviert Diana Lizura in Salzburg – der Mozart-Stadt. Später möchte sie Musiktheorie unterrichten, aber auch als freie Musikerin spielen, arrangieren. Und vielleicht auch Komponieren. Ihr Liszt-Stück ist ein Anfang, auch wenn es keinen Namen hat. Sie lacht, und spielt weiter. Wunderbar.

 

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Axel Clemens