„Herr, segne alle, die nicht mehr weiter wissen.“
Weimar. 6. Februar 2020, 8 Uhr. Der Tag danach. Der Tag nach der denkwürdigen Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten. Gewonnen hat sie völlig überraschend Thomas Kemmerich, der Spitzenkandidat der FDP, die im vergangenen Oktober bei den Landtagswahlen gerade einmal 73 Stimmen vor dem erneuten Scheitern an der Fünfprozenthürde retteten. Gestern hievten den Wahlweimarer im dritten Wahlgang die Stimmen von CDU und der AfD in die Staatskanzlei. Ein demokratischer Vorgang. Der dennoch viel mehr als ein Geschmäckle hat und ein politisches Erdbeben in der ganzen Republik auslöste. Ein Stimmungsbericht.
Die Folgen sieht man am Tag danach auch in Weimar. Der Klassikerstadt. Aber auch der Mustergau-Stadt der Nationalsozialisten. Vor dem Wohnhaus von Thomas Kemmerich steht seit gestern Abend eine Polizeistreife. Es gab Drohungen gegen den Politiker und seine Familie, Personenschützer sind Vorort. Für Timo Gothe, dem Pfarrer der Herz Jesu Gemeinde Weimar, geht das zu weit. Vom Pfarrhaus aus kann er das Wohnhaus der Familie sehen. Er kennt sie. Gestern Abend schloss er auch sie in sein Gebet mit ein. Denn obwohl der Katholik diese Wahl „nicht für möglich gehalten und total überrascht und geschockt ist von diesem Politpoker um die Macht“, sei er „genauso überrascht von den heftigen Reaktionen, Demonstrationen und Hasskommentaren“. So dürfe man nicht miteinander umgehen. „Unser gestriges Gebet für Thüringen haben wir spontan aufgesagt, für die Situation im Land und für die Familie Kemmerich, um so auch für Besonnenheit und Ausgeglichenheit, für ein Miteinander zu sorgen.“ Politische Ratschläge zu geben, wie es jetzt weitergehen soll, das stehe ihm nicht zu.
Das Viertel rund um die Herz-Jesu-Kirche würde Thomas Kemmerich sicherlich als gut bürgerlich bezeichnen. Schick sanierte Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, zwei Apotheken, ein Bäcker, ein jüdischer Konditor, ein griechisches Restaurant. Aber auch einfache Wohnblöcke aus den 50er, 60er Jahren. Entsprechend vielfältig ist an diesem Morgen auch die Stimmung der Menschen. „Der Herr Kemmerich soll erstmal dafür sorgen, dass die Mitarbeiter in seinen Friseurläden fair bezahlt werden, bevor er Größeres versaut“, sagt ein Mann, der nicht namentlich genannt werden möchte. „Ich finde das cool“, findet dagegen Marlies Jaslan aus Vieselbach, „aber“, sagt sie weiter, „die AfD hat zwar einige gute Ansätze, aber ich möchte nicht, dass sie Regierungsverantwortung übernimmt“. Beim Bäcker um die Ecke spricht sich Verkäuferin Manuela Assmann geradezu in Rage: „Der hat immer Party gemacht, oder sein Sohn. Dreimal die Woche, das ging dann bis drei, vier, fünf Uhr in der Früh. Ich konnte oftmals nicht schlafen und musste dann zum Frühdienst. Ich mag Herrn Kemmerich einfach nicht, er ist ein unsympathischer Mensch, seine ganze Art, sein Auftreten, das sagen die meisten hier im Viertel. Und das er sich von der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lässt, war für mich klar. Trotzdem bleibe ich positiv und hoffe auf Neuwahlen.“ Vor dem Bäcker überquert Annett Reinhardt die Straße. Für die Weimarerin sei das alles „furchtbar“. Dass die AfD „jetzt die Fäden in der Hand hält“, das wolle sie nicht. Schließlich „glauben ja sowieso die meisten, dass wir im Osten alle rechts sind“.
Einigen fehlen auch einfach nur die Worte, sie sind „geschockt und frustriert“, wie der Regisseur Markus Dietrich oder die Architekturstudentin Susanne Kulumaznik, die sich „ein anderes Ergebnis“ gewünscht hätte. Für Felix Geith, den Medien- und Kunststudenten der Bauhausuniversität, geht es jetzt aber auch darum, „diesen Paukenschlag, den es in Weimar so ähnlich schon einmal vor 100 Jahren gab, als Weckruf zu sehen“. Man dürfe jetzt „nicht mehr zuschauen, sondern man muss sich aktiv dagegenstellen“.
Es ist kurz nach zehn Uhr. Der Streifenwagen steht noch vor dem Wohnhaus. Pfarrer Gothe wird auch am Wochenende wieder sein Gebet für Thüringen predigen. Da heißt es: „Herr, du sendest mich in diese Welt. Die Welt ist nicht irgendwo, sondern hier in Thüringen. Viele Menschen erlebe ich Tag für Tag in den Freuden und Sorgen ihres Alltags. Zu ihnen hast du mich gesandt. Segne alle, beschütze alle, deren Leben gefährdet ist und die nicht mehr weiter wissen. Begleite alle, die im Vielerlei der Angebote nach Sinn und Orientierung suchen. Sende deinen Geist denen, die hier in Thüringen politische und wirtschaftliche Verantwortung tragen und sich für andere einsetzen…“
Amen.
Text: Jens Hirsch
Foto: Sascha Fromm