Diese wunderbare Verschwendung von Angelerntem

Am 3. September erhält die in Weimar geborene Schriftstellerin, Autorin und Dramatikerin Sibylle Berg im Haus Dacheröden in Erfurt den Thüringer Literaturpreis 2019. TOP THÜRINGEN sprach vorab mit der Wahl-Schweizerin über Heimat, Quatschartikel und digitalen Überwachungsfaschismus.

Liebe Frau Berg, herzlichen Glückwunsch zum Thüringer Literaturpreis 2019!

Waren Sie überrascht, ob der frohen Kunde aus der fernen, alten Heimat?

Vielen Dank, ja, das war eine angenehme Überraschung, wie alle Auszeichnungen, mit denen ja keiner rechnen kann, oder Lottogewinne. Obwohl – ich hatte noch nie einen.

 

Sie sind in Weimar geboren, reisten noch vor der Wende aus der DDR in die BRD nach Westberlin aus und leben seit vielen Jahren in der Schweiz. Was bedeutet für Sie Heimat?

Ich habe die DDR verlassen und lebe jetzt seit über 24 Jahren in der Schweiz, also länger, als ich in der DDR wohnte, und ich kann Ihnen zum Heimatbegriff überhaupt nicht viel Erhellendes sagen. Das Wort Heimat meint, dass ich mich irgendwo wohlfühle und die Wege kenne. Ich bin nicht sehr gerne an neuen Orten, sondern mag im Alltag Vertrautes, wie fast alle Menschen.

 

Für Lutz Seiler, der 2017 den Thüringer Literaturpreis gewann und ebenfalls als junger Mensch Thüringen verließ, ist es dennoch ein Zuhause geblieben. Obwohl das Dorf Culmitzsch bei Gera, in dem er geboren wurde, für den Uranbergbau Geschleift wurde. Geht Ihnen das ähnlich, auch wenn Sie nach eigener Aussage damals nicht sonderlich glücklich waren?

Ich war damals so glücklich oder unglücklich, wie fast alle es in der Jugend sind, wenn die Welt zu groß scheint und man in ihr seinen Platz noch nicht gefunden hat. Das wäre mir vermutlich überall so gegangen, und wie viele musste ich mich ausprobieren in der Welt, bevor ich in ihr zu Hause werden konnte. Thüringen ist sehr schön, es hat freundliche Menschen und unfreundliche, wie überall auf der Welt. Aber es ist einfach keine sehr gute Idee, eine Bevölkerung einzusperren und daran zu hindern, sich andernorts davon zu überzeugen, dass es in ihrem Zuhause eigentlich recht nett ist.

 

Sie haben Ihren Ausreiseantrag direkt an den Staatsratsvorsitzenden, den „Genossen Erich Honecker“ adressiert. Was haben Sie ihm denn geschrieben?

Habe ich das mal gesagt? Sie müssen entschuldigen, ich habe noch nie gerne persönliche Fragen beantwortet und habe in unterschiedlichen Fassungen in meiner Verzweiflung viel Quatsch erzählt, der heutzutage in Wikipedia steht, was sich auf einen Quatschartikel bezieht. Sowas zum Thema „Neues Weltwissen“. Soweit zum Thema „Durch das Netz können endlich alle Menschen am Weltgedächtnis mitarbeiten“. Ja, also. Der Ausreiseantrag, Sie wissen es besser als ich, existierte ja nie, sondern war ein formloses Einschreiben mit Wunsch nach freier Wohnortwahl.

 

Wollten Sie den sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat verlassen, weil, wie Sie in Ihrem Roman „Vielen Dank für das Leben“ schreiben, dort „alte Nationalsozialisten Kommunismus spielten“?

Die Frage habe ich oben beantwortet. Ich habe ein Problem mit Autoritäten und wollte mich nicht in einem kurzen Leben damit zufriedengeben, mir vorschreiben zu lassen, was ich sehe, wo ich lebe. Ich vermute, wenn die BürgerInnen der DDR damals die Welt hätten bereisen können, wären trotz Einparteien-Diktatur und Bespitzelung, trotz Versorgungsengpässen die meisten zurückgekehrt, weil keiner, auch die Flüchtigen heute, keiner und keine freiwillig gerne Gewohntes verlässt.

 

Wie haben Sie den real existierenden Sozialismus erlebt?

Relativ arm. Was damals keine besondere Größe war, weil die meisten in unrenovierten Wohnungen lebten, die sie sich oft mit Fremden teilten, mit schlechten Heizungen, mit Wasser, das man in einem Kessel erhitzte, um sich zu baden, mit Küchenherden, die man anheizen musste. Ich erinnere mich an den Geruch brennender Aschekübel und an relative Langeweile. Aber auch mit der Freiheit, die es bedeutet, wenn bis auf einige Parteimitglieder fast alle die Größe Geld nicht kennen. Und: Die Menschen wurden einfach geschickter im Verbergen ihrer Meinungen.

 

Am 9. November dieses Jahres jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Wie haben Sie den historischen Tag und seine Vorboten auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verfolgt: Was haben Sie empfunden?

Ich kann mich leider wirklich nicht mehr erinnern. Ich war irgendwo auf der Welt ohne deutsche Nachrichten. Zu jener Zeit musste ich gerade die gesamte Welt begreifen und steckte vermutlich gerade in Bangladesch oder irgendeinem anderen Land.

 

Sie besuchten nach Ihrer Ausreise eine Akrobatenschule in der Schweiz, lebten in West-Berlin von Sozialhilfe, studierten in Hamburg Ozeanografie sowie Politikwissenschaften und arbeiteten als Gärtnerin, Putzfrau, Sekretärin und Versicherungsvertreterin. Dann fingen Sie an zu schreiben.

Das stimmt so auch alles nicht. Ich habe eine dreimonatige Probezeit in einer Artistenschule gemacht, ich war aber unglaublich schlecht. Danach habe ich angefangen zu studieren und zu jobben, um mir neben dem Bafög etwas zum Leben zu verdienen, wie alle Studierenden, wenn sie keine wohlhabenden Eltern haben. Ich habe Bafög erhalten, was keine Sozialhilfe ist, und immer geschrieben, weil ich wissen wollte, ob ich es kann. Weil ich nicht genau wusste, was ich will. Mir schienen Schriftstellerei und Forschung interessant.

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Sibylle Berg mit dem englischen Grime-Rapper T.Roadz, (Foto: Chas Apetti)

Was bedeutete beziehungsweise bedeutet Schreiben für Sie?

Es ist die Verbindung zwischen Wissenschaft und Unabhängigkeit, zwischen Etwas-schaffen und Nie-perfekt-werden, die ich großartig finde. Und was mich sehr dankbar sein lässt, denn ich habe das große Privileg, ohne Vorgesetzte leben zu dürfen. Die Forschung vor Büchern oder Stücken ist vielleicht die aufregendste Zeit in der Werdung einer Arbeit. Um zu verdeutlichen was ich meine, nehme ich mein letztes Buch (Anm. d. Red.: „GRM. Brainfuck“). Dafür habe ich mich über längere Zeiten in England aufgehalten, an Orten fernab der Touristenzentren, ich habe Computer begreifen gelernt, Systembiologie, Peer-to-Peer-Netzwerke, Layers in der AI und die Arbeitsweisen der Geheimdienste (bruchstückhaft). Diese wunderbare Verschwendung von Angelerntem, denn bei dem eigentlichen Schreiben von Büchern und Stücken geht es darum, die wissenschaftlichen Aspekte so sehr in den Text einfließen zu lassen, dass sie nur noch in Potenzierungen spürbar sind.

 

Ihren Debütroman „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“, der 1997 erschien, soll zuvor von mehr als 50 Verlagen abgelehnt worden sein. Er wurde ein Bestseller. Mehr als zwanzig Jahre später gehören Sie zu den meistgelesenen Kolumnistinnen Deutschlands, arbeiten erfolgreich als Autorin, Reporterin und Dramatikerin. Und polarisieren: Kritiker nannten Sie „Designerin des Schreckens“, „über Leichen latschende Schlampe“, „Höllenfürstin des Theaters“, „Kassandra des Klamaukzeitalters“ oder „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“. Liegt es vielleicht daran, dass Menschen, die so etwas schreiben, ihre Romane und Theaterstücke einfach nur nicht verstehen? Oder weil Sie eine Frau sind?

Es ist müßig zu betonen, dass kaum ein männlicher Autor mit solchen Beleidigungsversuchen bedacht würde. Erinnern Sie sich an die Namen der Journalisten, die diese Hasstexte voller Unwohlsein, dass eine Frau es wagt, erfolgreicher zu sein als sie, dass eine Frau wagt zu tun, wovon sie nachts träumen, verfasst haben?

 

Nein.

Na eben. Das scheint mir Bestrafung genug für all die Unverschämtheiten. Die unterdessen egal geworden sind, denn ich lese nichts mehr über mich. Es hilft mir ja nicht dabei, meinen Beruf zu meiner Zufriedenheit auszuführen, mich weiterzuentwickeln und im Privaten ein freundlicher, mitfühlender Mensch zu sein, der niemandem auf die Nerven fällt. Mehr kann ich nicht wollen, das Leben ist zu kurz und Eitelkeiten am Ende vollkommen unbedeutend. Ich habe nie als Reporterin gearbeitet, wenn ich das kurz erwähnen darf. Das ist ein Beruf. Den kann ich nicht. Ich habe wohl viele Essays verfasst und kleinere Texte, dafür aber 25 Theaterstücke und 14 Bücher geschrieben, das langt ja auch.

 

In der Jurybegründung zum Thüringer Literaturpreis heißt es: „In stilistischer und struktureller Klarheit beschreibt Berg die zentralen Veränderungen und Verunsicherungen unserer Gesellschaft und analysiert ihre Wirkung auf den Einzelnen mit großer Präzision. Kritisch wie politisch engagiert – auch in den neuen digitalen Medien – wirkt sie am zeitgenössischen Diskurs mit und vermag es dabei, mehrere Generationen zusammenzubringen. Ihre dystopisch anmutenden und längst als zeitgenössisch akzeptierten Lebenswelten stellen die existentiellen und großen philosophischen, anthropologischen und sozialen Fragen. Was ist der Mensch heute?“ Haben Sie eine Antwort?

Wir erleben gerade einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch. Zum einen die digitale Revolution, die unerfreulicherweise mit einer gewachsenen Weltbevölkerung, dem sich verändernden Klima, den schwindenden Ressourcen und sich verändernden Machtverhältnissen der Erde – für uns: mit dem schwindenden Einfluss der westlichen Länder – zusammenfällt. Dank der exponentiellen Beschleunigung erfolgt das alles in einer Geschwindigkeit, die uns überfordert. Das ist der Mensch heute. Überfordert.

 

Ihre Romanfiguren sind oft Außenseiter. Weil Sie selbst einer waren (sind)?

Alle Bevölkerungen setzen sich aus Minderheiten zusammen. Es hilft keinem, sich außerhalb der Gesellschaft zu verorten, denn wir alle sind die Gesellschaft. Es gibt den genormten Menschen noch nicht, auch wenn viele versuchen, sich zu trainieren, zu optimieren, um im Wettbewerb gegen Rechner gut abzuschneiden. Ansonsten sind wir alle zu dick, zu dünn, zu alt, zu jung, zu traurig, zu lustig, zu dumm, zu klug, zu sexuell, zu asexuell, zu homosexuell, zu streberhaft, zu faul, mit zu viel oder zu wenig Melanin. Die übertriebenen Betonungen eines individuellen Schicksals schwächen unser Bewusstsein für eine Klassenzugehörigkeit.

 

Hannah, Don, Karen und Peter sind die Protagonisten Ihres aktuellen Bestellers „GRM. Brainfuck“. Die vier Kinder erleben im neoliberalen Brexit-England bitterste Armut, Vernachlässigung, Depression, körperliche und seelische Gewalt sowie Ausgrenzung. Die Bevölkerung wird mittels implantierter Chips überwacht und mit einem Grundeinkommen ruhiggestellt. Ein Krieg zwischen Arm und Reich, wie Warren Buffett unsere Zeit nennt. Sind wir schon mittendrin oder ist Ihr Buch doch „nur“ eine Dystopie?

Wie erwähnt. Wir befinden uns in einem Zeitalter des Umbruchs. Ein digitaler Überwachungsfaschismus ist bereits da. Wir sind biometrisch erfasst, tragen mit Handys Ortungs- und Abhörgeräte mit uns, legen freiwillig unsere Profile an, sind in einer Art transparent und mit der KI überwacht, wie es in besten Staatssicherheitszeiten unmöglich gewesen wäre. Man hört immer von der Reich-Arm-Schere, wobei die zu jeder Zeit bestanden hat. Selbst in den sozialistischen Systemen, wie wir heute wissen. Neu ist einfach der obszöne Reichtum diverser Plattformanbieter, die ihre Milliarden unseren Daten verdanken. Neu ist die Potenzierung des Reichtums durch datengetriebene Börsengeschäfte. Es wäre möglich, den Reichtum ein klein wenig umzuverteilen, um die 90 Prozent der Nicht-Milliardäre sehr angenehm leben zu lassen. Mit guter Bildung, Gesundheitsvorsorge, Transportmitteln, Nahrung, Freizeitmöglichkeiten. Erstaunlich, dass die Super-Reichen heute mit ihrem Geld sterben wollen, ja, es noch vermehren wollen. Das neoliberale System, das zum Teil auch durch die AfD vorangetrieben wird, zielt darauf ab, den Staat zu verschlanken, sprich, noch mehr des gesellschaftlichen oder staatlichen Eigentums zu privatisieren. Die Sozialleistungen abzubauen.

 

Sie sagen: „Es ist die Welt, in der wir leben. Es wird nicht schlimm. Nur anders …“ Ein Satz in „GRM“ lässt mich daran zweifeln: „Die Empathie eines Menschen reicht nicht über sich selbst hinaus, und selbst das ist meist nicht von Erfolg gekrönt.“ Erklärt dies das Wiedererstarken der Rechten in Europa, auf das Sie im Buch auch hinweisen?

Das kurzfristige Erstarken faschistischer Kräfte ist eine kurze Periode, bevor, wie gerade erwähnt, der Neoliberalismus sich komplett durchsetzt. Viele der Führungskader der neuen Rechtsnationalen sind eng verzahnt mit Institutionen wie der Hayek-Gesellschaft, also den Neoliberalen. Das Erstarken rechter Schlägertruppen, Hass und Gewalt ist zum Großteil auf politische Mandatsträger zurückzuführen, die ihre Vorbildfunktion missbrauchen, um ihre Positionen zu stärken. Die Empathie der Menschen war noch nie besonders stark. Neu ist, dass Anstand kein Wert mehr ist. Und dass man Menschenverachtung laut äußern kann, ohne als geisteskrank betrachtet zu werden.

 

Ihre Kolumne auf Spiegel Online heißt: „Fragen Sie Frau Sibylle“. Ich frage Sie also: Gibt es dennoch ein klein bisschen Hoffnung für die Menschheit? Und für Thüringen: Am 27. Oktober finden Landtagswahlen statt, die AfD mit ihrem ganz weit Rechtsaußen Björn Höcke liegt aktuell über 20 Prozent.

Dann ist das der Wille des Volkes in Thüringen, und Herr Höcke und seine ParteikollegInnen müssen zeigen, was, außer Hass und Hetze zu verbreiten, sie an konkreten politischen Plänen für die Gemeinden erarbeitet haben. Konzepte für eine stärkere Entscheidungskraft der BürgerInnen im Kommunalen Bereich. Die unzureichende Altersversorgung, die Betreuung, die Gesundheitsvorsorge, der Nah- und Fernverkehr, der Klimaschutz, die Bildungsangebote, Universitäten, Arbeitsplätze, wie sind die Konzepte für flächendeckende Internetanbindung und attraktivere Freizeitangebote? Das kann doch sehr interessant werden.

 

Ja, wir können uns aber auch einfach an die letzten drei Sätze in „GRM“ halten: „Hannah, Peter, Karen und Don stehen eng zusammen. Ein fast perfekter Moment. In einer wunderbaren, ruhigen Welt.“ (Wobei für mich das Buch ja kein Happy End hat.)

Ein Happy End ist für Menschen nicht vorgesehen, denn unser Leben endet sehr schnell. Und wir wissen darum.

 

Frau Berg, vielen Dank für das Gespräch.

www.sibylleberg.com/de

 

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016), den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019) sowie den Thüringer Literaturpreis (2019).

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Katharina Lütscher, Chas Apetti (Sibylle Berg mit dem englischen Grime-Rapper T.Roadz, Foto Chas Apetti)