Die Faszination des Undramatischen

Seine vielfach prämierten Fotografien zieren die Wände renommierter Museen, Institutionen sowie von öffentlichen und privaten Sammlern auf der ganzen Welt. Der gebürtige Erfurter Hans-Christian Schink zeigt in seinen vielfältigen Werken Eingriffe und Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur und urbane Lebensräume. Ab 16. März präsentiert die Erfurter Galerie Rothamel Bilder aus der eindrucksvollen Serie „Burma“. TOP THÜRINGEN begleitete den Wahl-Mecklenburger vorab auf seinem Heimatbesuch zu zwei ganz besonderen Orten.

„Das Hinweisschild für die Gartenzwergmanufaktur war vor zehn Jahren noch nicht da“, antwortet Hans-Christian Schink nach einer kurzen Denkpause auf meine Frage, was sich hier geändert habe, seit er das letzte Mal durch Gräfenroda gefahren ist. „Und einige Häuser haben einen neuen Anstrich bekommen. Ansonsten sicher nicht viel.“

Wir fahren weiter Richtung Gehlberg. Vor dem kleinen Sägewerk biegen wir links in einen Waldweg. Es geht bergan. Wir kommen aber auf der zwanzig Zentimeter hohen Neuschneedecke nicht weit. Die moderne Antriebstechnik versagt. Zu Fuß geht es weiter. Jetzt spüren wir die Natur und hören die Stille. Wunderbar. Wir folgen einer Hasenspur. Keiner spricht. Nach fünfzehn Minuten kommen wir an eine Lichtung. Vor uns türmt sich ein 552 Meter langer und 110 Meter in die Höhe sprießender Stahl-Beton-Koloss auf, der sich über das Tal der Wilden Gera erstreckt. Hans-Christian Schink bleibt stehen. „Das Bild könnte ich heute gar nicht mehr so machen“, sagt er. Birken und Nadelholz haben sich im Laufe der Jahre einen Teil des verlorenen Terrains zurückgeholt und somit die Bildachse verändert. Wobei die Lichtsituation – bewölkter, aber nicht trüber Himmel, der pastellige Farben ermöglicht – an diesem Wintervormittag geradezu perfekt wäre. Perfekt für den Perfektionisten. Aber dazu später.

Jedenfalls schafften es zwei von den hier im Jahr 2001 fotografierten Motiven der beiden aufeinander folgenden Autobahnbrücken auf der A71 bei Ilmenau in den Ausstellungs-Katalog der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (1995–2003)“ von Hans-Christian Schink. Das 2004 erschienene Fotobuch wurde als Jahresbestes seiner Klasse prämiert! Jetzt, knapp zwanzig Jahre später, resümiert der Foto-Künstler unterhalb der Brücke „Wilde Gera“:

„Auf der einen Seite ist es immer wieder spannend, hier zu stehen. Auf der anderen Seite ist es ein Projekt, was lange abgeschlossen ist. Natürlich hätte ich Bildauswahl und Bilddramaturgie anders gestalten oder Bildmotive ergänzen können. Das Foto der Elbebrücke bei Magdeburg habe ich damals zum Beispiel nicht mit ins Buch genommen, weil es mir in dem Kontext zu symmetrisch, zu perfekt, zu schön war. Möglicherweise würde ich es heute anders machen.“

Mit der Schönheit ist es eben so eine Sache. Gerade für einen Perfektionisten, für den Schönheit eben nicht nur im Perfekten liegt. Deshalb würde der gebürtige Erfurter auch seine allerersten Fotografie-Erfahrungen, als er 1968 mit der vom Vater zum siebenten Geburtstag geschenkt bekommenen DDR-Rollfilmkamera Pouva Start seine Meerschweinchen ablichtete, „jetzt auch nicht unbedingt als Beginn meiner Karriere bezeichnen“. Immerhin entwickelt er sich aber in der Schulzeit zum ambitionierten Fotoamateur, der bei Wandertagen fix auf die Bäume klettert, um spektakuläre Fotos zu machen. Als Mitglied im Fotoklub beim Kulturbund der DDR nimmt er sogar an Amateurwettbewerben teil. Traumberuf Fotograf? Mitnichten. Paläontologie soll es sein, also die Wissenschaft der Fossilien, also das Studium der Lebewesen und Lebewelten der geologischen Vergangenheit. Das verhindert aber der Schuldirektor, der ihn nicht zur Abiturstufe zulässt, weil der Schüler eine Verpflichtungserklärung zum dreijährigen Dienst bei der Nationalen Volksarmee nicht unterzeichnet. Über diesen Umweg ist Hans-Christian Schink heute aber gar nicht mehr böse. Hat sich doch dafür in der Lehrzeit zum Monteur für Mess-, Steuer und Regelungsanlagen umso deutlicher herauskristallisiert, „dass Fotografie das ist, was ich machen will“. In den folgenden Jahren bewirbt sich der Hobbyfotograf drei Mal für den Studiengang Fotografie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. 1986 klappt es, sieben Jahre später ist er ausgewiesener Meisterschüler und Meister seines Fachs. Er beginnt zunächst für eine Bildagentur zu arbeiten. Aber das ist nicht das, was ihn an- und umtreibt. Mitte der 1990er Jahre fängt er mit freien Arbeiten an.

„Damals hat mich alles interessiert, was mit den Veränderungen im Umfeld meines Lebensbereiches zu tun hatte. Gerade die Entstehung von suburbanen Strukturen, die wir ja gar nicht kannten und durch die sich auch die Beziehungen zwischen Orten verändert haben, weil sie sich quasi aufeinander zubewegt haben.“

2/20/2010, 6:53 am – 7:53 am, S 37°40.831′  E 178°32.635′

Win Sein Taw

A 71, Brücke Schwarzbachtal

Nach der Wende sprießen im Osten riesige Shopping Malls, Gewerbeparks und Einfamilienhaussiedlungen aus der grünen Wiese, Autobahnen entzweien Wälder. Landschaften, Dörfer und die Städte verändern sich unwiderruflich. Das zeigt Hans-Christian Schink zum Beispiel 1993 in seiner Serie „Von Leipzig nach Günthersdorf“. Vier Jahre später stolpert er auf seinem Weg zur Klosterruine Paulinzella über ein Motiv: eine Autobahn-Baustelle, bei der sich eine rot-violette Erdzunge scheinbar ins Bild wälzt. Plötzlich weiß er, „das wird ein Thema“. Er besorgt sich Pläne, Archivaufzeichnungen und Fotogenehmigungen für geplante oder sich im Bau befindliche Verkehrsprojekte im Osten. Anhand von Topografie und Streckenverläufen bekommt er eine Vorstellung, welche Orte interessant sein könnten. Dann fährt er hin, manchmal mehrfach, und fotografiert mit Stativ und Großformatkamera. Wenn das Licht stimmt! Bloß kein Sonnenlicht, das einen Schatten wirft. Genau wie an diesem Vormittag des 30. Januars 2019. Bis heute sind das für Hans-Christian Schink „die idealen Bedingungen, um richtig zu fotografieren“. Aber wie entstand dieser Blick?

Wir laufen mittlerweile wieder zurück zum Auto, bergab geht es wesentlich einfacher. Geredet wird trotzdem nicht. Einvernehmlich genießen wir die Ruhe. Auf der Fahrt nach Erfurt erklärt der ansonsten angenehm sorgsam mit seinen Worten umgehende Bildvirtuose die ursprüngliche Anregung für seine Arbeitsweise.

„Aufgrund der chemischen Zusammensetzung des Films in der frühen Fotografie des 19. Jahrhunderts war die Sensibilität für Blau verschoben. In der schwarz-weißen Wiedergabe aber bedeutete das, dass Wolken, die eigentlich im Bild waren, nicht dargestellt werden konnten. Auf allen Bildern aus dieser Zeit sind die Himmel deshalb ziemlich gleichmäßig und hell. Damals haben manche Fotografen sogar Wolken einmontiert, damit es dramatischer aussah. Mir hat aber gerade dieser homogene, undramatische Himmel gefallen. Weil er den Blick auf das eigentliche Objekt nicht verstellt und weil er dem Bild eine gewisse Grundstimmung gibt. Und weil er meiner Ansicht nach auch das Bild in den Raum hin öffnet. Einen tiefblauen Himmel in einem Farbfoto empfinde ich persönlich als auf dem Bildmotiv lastend.“

Dass das Hans-Christian Schink auch in Bezug auf Menschen empfindet, dafür sprechen seine Bilder. Auf denen fehlen sie nämlich fast gänzlich. Der Mensch steht bei ihm hinter der Kamera und blickt quasi durch die Linse auf seine Eingriffe in die Natur und die dadurch entstandenen Auswirkungen auf unsere Lebensräume. Ohne erhobenen Zeigefinger!

„Es geht bei meinen Arbeiten nicht darum, den Betrachtern didaktisch etwas beizubringen, sondern dass bestimmte Aussagen mitlaufen. Ich versuche, mich einem Thema, einer Region, einem Land, einem Phänomen zu nähern, so gut ich es kann. Das ist meine Sichtweise. Wenn sich darüber auch andere Dinge vermitteln, ist es gut. Für mich ist das die beste Art der Fotografie, wenn man die Möglichkeit hat, in den Bildern etwas auf mehreren Ebenen zu lesen. Wenn man nicht von vornherein auf eine Schiene gesetzt wird.“

Natürlich hat er während des Studiums auch Menschen sozialdokumentarisch porträtiert, aber letztlich merkte er, dass er nicht auf sie zugegangen ist, sondern eher Situationen abwartete. Obwohl warten für einen Perfektionisten auch schwer sein kann. Zumindest, wenn das Warten mit Kontrollverlust einhergeht. Mit seiner Großformatkamera sei er nämlich ein „wahrer Kontrollfreak“, schließlich weiß er so „bis ins kleinste Detail, wie das Bild aussehen wird“. Umso schwerer fiel es ihm daher, die Kontrolle abzugeben. Wenn auch nur für eine Stunde. Das war aber notwendig für sein Projekt „1h“, für das er 2008 den mit 50.000 Euro dotierten internationalen REAL Photography Award gewann. Auslöser für das bisher umfangreichste und bedeutendste Projekt des Künstlers war 2002 ein Kurzausflug in die Mojave-Wüste im Westen der USA. Hans-Christian Schink, zu der Zeit Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles, experimentiert dort mit der Technik der Solarisation, bei der die Sonne so extrem überbelichtet wird, dass sie auf dem Bild schwarz erscheint. Er möchte die Belichtung auf eine Stunde ausdehnen, was zur Folge hat, dass ein schwarzer Balken den Weg der Sonne nachzeichnet. Er möchte für eine Stunde quasi die Zeit anhalten. Zwei Jahre lang sucht er nach einem Film, der diesen Effekt überhaupt noch hat. Denn der galt vor 150 Jahren als fehlerhaft. Mehrfach steht er kurz davor aufzugeben. Doch dann klappt es endlich. Und zum Abschluss der neunjährigen Arbeit an diesem Projekt reist er für drei Monate einmal um den Globus der Sonne hinterher. Es gibt lediglich zwei Zeitfenster für DAS Foto, am frühen Morgen und am späten Nachmittag, ansonsten steht die Sonne zu hoch oder zu tief, um ihren Verlauf ins Bild zu bekommen. Neben dem Stress, bestehend aus Logistik, Zeitdruck, dem Abwarten von Wetterkapriolen und der Suche nach dem geeigneten Platz mit der entsprechenden Kulisse, waren die meditativen Momente, wenn er während der Belichtung eine Stunde neben seiner Kamera saß und die Zeit beobachtete, für den Künstler „der größte Genuss“. Als Flucht aus der Zivilisation möchte der Alleinreisende, der seit einigen Jahren mit seiner Freundin in Mecklenburg wohnt und nur noch vierteljährlich auf Heimatbesuch in Erfurt weilt, das aber nicht verstanden wissen. Für ihn hatte es vielmehr „etwas Verrücktes“, das er sich mit dem Projekt für eine Stunde aus einer bestimmten Realität begeben habe. „Dieses Gefühl, mit Hilfe der Fotografie etwas zu zeigen, was das menschliche Auge sonst nicht sehen kann, das war faszinierend.“

M32, Huhn mit Reis und Currysauce, bestellt Hans-Christian Schink. Wir sind wieder in Erfurt, wo im wahrsten Sinne des Wortes alles begann. Und zwar in der Galerie von Jörk Rothamel, der gerade die Mittagessen-Bestellung „seines“ Künstlers aufgenommen hat. 1997 war es nämlich, als genau dieser Jörk Rothamel in einer Ausstellung Erfurter Künstler zeigte, die in die große weite Welt auszogen, um berühmt zu werden. Und dazu zählte seiner Meinung nach auch unbedingt ein gewisser Hans-Christian Schink, dessen Werke seitdem die Wände renommierter Museen, Institutionen sowie von öffentlichen und privaten Sammlern auf der ganzen Welt zieren.

 

Danke, Jörk Rothamel, auch für die M32! Und danke, Hans-Christian Schink, für einen undramatisch schönen Vormittag!

www.hc-schink.de / www.rothamel.de

Ausstellung:

Galerie Rothamel, Kleine Arche 1a, 99084 Erfurt
16. März bis 11. Mai 2019:
„Burma“ – Hans-Christian Schink

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, Hans-Christian Schink