Zwischen den Zeilen: Lochthofen über…

… die Fahne, Steinmeiers Patriotismus und Chaos im Frühling

An dieser Stelle wird sich fortan der renommierte Thüringer Journalist und Buchautor Sergej Lochthofen – der sich von 1990 bis 2009 als Chefredakteur der Thüringer Allgemeine und im ARD-Presseclub als „Stimme des Ostens“ einen Namen machte – zu Fragen unserer Zeit äußern. Zum Auftakt traf TOP-Chefredakteur Jens Hirsch den 65-Jährigen im Erfurter Kurhaus Simone.

Herr Lochthofen, haben Sie schon im Garten oder am Haus eine Deutschlandfahne gehisst?

Ich glaube, wenn man im Osten groß wurde, ist man mit Fahnen eher vorsichtig. Zu DDR-Zeiten musste viel geflaggt werden. Es fuhren tatsächlich Leute durch die Straßen und haben das überprüft. Wenn man nicht alles vergessen hat, dann empfiehlt sich bei diesem Thema Zurückhaltung. Bei kleinen Ländern, wie der Schweiz, sehe ich das als Folklore, bei den größeren mit Distanz.

 

Sie wissen sicherlich, worauf ich hinaus will?

Das weiß ich noch nicht, aber Sie werden es mir sicher gleich sagen.

 

Auf die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Feierlichkeiten zu „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“ im Deutschen Nationaltheater …

Die habe ich bei Phoenix verfolgt.

 

Und dabei gehört, dass sich Herr Steinmeier einen demokratischen Patriotismus wünscht, der auch von Symbolen wie der schwarz-rot-goldenen Fahne lebt?

Ich fange mal mit einem anderen Symbol an. Ich habe mich an diesem Tag sehr gefreut, dass Thüringen nicht Sachsen ist. Dass man in Weimar ganz friedlich so einen Anlass begehen kann, ohne dass Leute herumschreien und die Redner auspfeifen. Grundsätzlich habe ich nichts gegen politischen Meinungsstreit, da kann es auch ordentlich zur Sache gehen. Aber nicht in der Form, die wir in Städten wie Dresden oder Chemnitz gesehen haben, wo man kaum mehr auftreten kann, es sei denn, man heult mit den Wölfen.

 

Die Wölfe jaulen derzeit aber am lautesten.

Der Streit um Begriffe und Symbole ist nicht neu. Dass Steinmeier sich einmischt, finde ich vernünftig. In Weimar ist vieles mit richtigen Worten am richtigen Ort gesagt worden. Das haben nicht wenige dem Steinmeier so nicht zugetraut. Ich auch nicht. Dennoch habe ich kaum Hoffnung, dass sein Appell auch Wirkung zeigt. Die Radikalen werden weiter versuchen, die Deutungshoheit für sich zu beanspruchen. Wenn sie zu zehnt stehen und schreien „Wir sind das Volk“ in Anspielung an das, was vor 30 Jahren auf den Straßen der DDR gerufen wurde, ist das einfach nur unverschämt. Aber wir machen es ihnen ja auch nicht wirklich schwer. Irgendjemand hält immer irgendwo ein Mikrofon als Verstärker hin.

 

„Schwarz-Rot-Gold, das sind unsere Farben! Sie sind das Wahrzeichen unserer Demokratie! Überlassen wir sie niemals den Verächtern der Freiheit!“, forderte unser Staatsoberhaupt und schaute ganz gezielt ins Publikum.

Wo auch Vertreter einer Partei saßen, die durchaus eine andere Republik wollen und das auch offen sagen. Insofern ist es richtig, die Leute direkt anzusprechen. Und die Reaktion im Publikum war ja eindeutig: Der eine schüttelte den Kopf und fühlte sich ertappt, andere applaudierten kräftig. Solange das alles friedlich bleibt, finde ich das in Ordnung. Ansonsten glaube ich schon, dass die Gesellschaft an vielen Stellen zu träge ist und schon wieder wegschaut. Das ist aber keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Schauen Sie nach Frankreich. Oder nach Italien, wo gewählte Vertreter des Volkes offensichtlich das Land gegen die Wand fahren. Die Demokratie ist eben keine einfache Form des Zusammenlebens. Es dürfen leider nicht nur die Klugen wählen.

 

Können Patriotismus und Symbole das gespaltene Land kitten?

Ich würde das Wort „spalten“ nicht verwenden. Gespaltene Länder sehen anders aus. Ich empfehle, damit vorsichtig zu sein, man kann Katastrophen auch herbeireden. Die Verächter der Demokratie schwadronieren bereits vom Bürgerkrieg. Der Thüringer Fraktionsvorsitzende der AfD spricht in Interviews offen davon. Wer das tut, will mit den Mitteln des Bürgerkrieges das Land verändern. Noch bleiben sie eine Minderheit. Das heißt, wir sind noch weit davon entfernt, gespalten zu sein. Wir sollten aber alles dafür tun, damit die Gräben nicht tiefer werden und eine kleine radikale Gruppe nicht die Hoheit über den Stammtischen und im öffentlichen Diskurs übernimmt. Vor allem in den neuen Bundesländern ist man besonders anfällig dafür, weil der Lebensweg ein anderer war, weil die Lebensumstände noch immer andere sind. Vieles, was als selbstverständlich galt, ob man es wollte oder nicht, brach weg. Unsichere Menschen sind viel schneller zu beeindrucken und zu verführen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

 

Und was tun?

Sicher, Patriotismus ist für viele ein wichtiges Gefühl, mit dem aber leider viel Schindluder in der Geschichte getrieben wurde. Und wird. Die drei größten Patrioten unserer Tage heißen zweifelsohne Trump, Putin und Erdogan. Man muss sich nur ihre Reden anhören. Da lob ich mir den Begriff „Verfassungspatriotismus“, auch wenn es ein typisch deutsches Wortungetüm ist. Vernunft statt Emotionen, hoffentlich bleibt es so. Man akzeptiert die Grundordnung und versucht in diesem Rahmen die Gesellschaft zu verbessern. Im Augenblick tobt der Kampf darum, wer ein wahrer Patriot ist. Einer, der auf dem Domplatz „Höcke, Höcke“ krakeelt? Oder ist ein Patriot der Student auf der anderen Seite, der ruft „Nazis raus!“? Ich bin bei den jungen Leuten.

Das ist die große Mehrheit der Thüringer auch. Trotzdem belegt der Thüringen-Monitor 2018 wiederholt eine permanente Unzufriedenheit. Ministerpräsident Bodo Ramelow reagiert so darauf: „Seit 20 Jahren sagen die Thüringer, mir geht es gut, uns geht es aber schlecht.“

Diese Geschichte greift weiter zurück. Schon zu DDR-Zeiten wurde gern und viel gemeckert. Man hatte immer das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Die Thüringer ganz besonders. Der Legende nach wurden wir ja 1945 von den Alliierten gegen West-Berlin eingetauscht. Man hätte also so wohlhabend sein können wie der West-Onkel, durfte aber nicht. Es gab immer Gründe zu sagen: Eigentlich steht mir mehr zu. Wir sind aber nicht nur Opfer im Osten, wir haben alle gemeinsam von einem Tag auf den anderen nur noch West-Produkte gekauft und damit viele Arbeitsplätze kaputtgemacht. Mittlerweile haben sich viele wieder berappelt. Es ist wirklich etwas Großes in diesem Land geleistet worden. Trotzdem diese ständige Unzufriedenheit. Wenn man bisweilen über den Erfurter Anger geht und in die freudlosen Gesichter sieht, möchte man ihnen zurufen: Lächelt doch mal!

 

Vielen vergeht das Lächeln beim Blick ins Portmonee.

Das ist richtig. Aber auch das: Endlich gibt es eine Debatte über Altersarmut. Und das ist nicht nur ein Thema für die Betroffenen. Manche konnten die neue Situation nach der Wende gut nutzen, andere wurden ganz schön rumgeschubst. Der Mindestlohn ist sehr spät gekommen. Viele Menschen hatten nicht die Möglichkeit zu sparen oder Betriebsrenten aufzubauen. Für die muss in diesem reichen Land gesorgt werden. Dabei geht es nicht um Almosen, sondern um Würde. In den vergangenen zehn Jahren erlebte das Land einen kräftigen Aufschwung. Selbst jetzt, wo andere Länder in die Rezension gleiten, haben wir in Deutschland noch Wachstum. Wir sollten diese privilegierte Situation für Stabilität in diesem Land nutzen. Schulden abbauen ist wichtig, aber das reicht allein nicht aus. An einem guten Drittel der Bevölkerung im Osten ist die Entwicklung vorbei gerauscht. Es kann nicht sein, dass es nur den Starken und Wohlhabenden gut geht, die anderen muss man auch mitnehmen. Das ist kluge Politik! Da haben wir noch ganz schön zu tun, erfreulicher Weise hat das auch Steinmeier festgestellt. Und es ist das beste Mittel, um den Populisten das Wasser abzugraben.

 

Herr Lochthofen, am Ende noch ein angenehmeres Thema: Der Frühling steht vor der Tür. Worauf freuen Sie sich am meisten?

Mehr Licht! Und natürlich wärmere Tage. Ich habe als junger Volontär in der Lokalredaktion in Gotha erlebt, wie Anfang April der Winter mit starken Schneefällen zurückkam. Die gesamte DDR versank im Chaos. Seltsam, heute kann das ja immer noch passieren. Ich freue mich auf den Frühling, aber sicher fühle ich mich erst im Mai.

 

Herr Lochthofen, vielen Dank für das Gespräch und ein schneefreies Frühjahr.

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus