Der letzte Punkt

1984–1999. Matchbilanz: 713:214. 49 Titel, darunter 6 Grand-Slam-Titel, jüngster Wimbledon-Sieger aller Zeiten, 12 Wochen lang die Nr. 1 der Weltrangliste, 3 x ATP-Weltmeister, 2 x Davis-Cup-Gewinner, Olympiasieger. Das sind die beeindruckenden Zahlen der Tennis-Karriere des Boris Becker aus Leimen. Millionen Deutsche nennen ihn noch heute liebevoll: Bumm-Bumm-Boris. Oder Bobbele, bestenfalls „unser“ Bobbele. Stadtmeister seiner Heimatstadt Leimen war er allerdings nie. Das hat ihm Olaf Seibicke, Stadtmeister von Schlotheim und Gastgeber von „Ein Abend mit …“ im Gothaer Hotel DER LINDENHOF allerdings voraus. Trotz dieser Schmach ließ sich die 52-jährige Tennis-Ikone an diesem Abend vor 200 Gästen während eines 4-Gang-Menüs noch einiges mehr an Delikatem entlocken.

„Ich bin hier, um zu gewinnen.“ Das war der erste Satz, den ich Mitte Juni 1985 von einem gewissen Boris Becker im Radio vernahm. Die Frage war, was er sich denn als 17-Jähriger beim wichtigsten Tennisturnier der Welt vorgenommen habe. Von da an verpasste ich in den folgenden zwei Wochen keinen Satz des Leimeners auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Bis es am 7. Juli hieß: Game, Set and Match Becker! Boris Becker, der jüngste Wimbledon-Sieger aller Zeiten, der erste ungesetzte Spieler, der das Turnier gewann. Rekorde für die Ewigkeit.

35 Jahre später steht dieser Boris Becker im Cranach-Saal des Gothaer Hotels Der Lindenhof auf der Bühne. Die 200 Gäste haben sich erhoben. Gänsehaut liegt in der Luft. Für einen ganz Großen. Nein, in Gotha war er noch nie. Gastgeber Olaf Seibicke wollte ihm auf der Fahrt vom Frankfurter Flughafen nach Gotha die Vorzüge der Thüringer Residenzstadt ausführlich schildern. Er sei aber leider eingeschlafen. Macht doch nix, einem Boris Becker haben die Deutschen schon immer alles verziehen. Eine bessere Figur macht der Boris dann schon beim Zusammenstückeln eines Original Bravo-Starschnitts aus dem Jahr 1985. Auch wenn er das wohl lieber beim Motiv Samantha Fox getan hätte. Die war ja aber an diesem Abend nicht zu Gast, deshalb brachte Olaf Seibicke aus seinem Privatbesitz den Becker-Schnitt mit. Locker und gelöst wirkt er, der Weltstar, als er nach der Vorspeise (Carpaccio von geräuchertem Duroc Schweinefilet) überschwänglich die Küche lobt und mitteilt, dass er jetzt nicht mehr so viel erzählen könne, weil er ja ansonsten so lange auf die Hauptspeise warten müsse. Auch wenn einigen Fans jetzt vor lauter Schreck der grüne Spargel im Halse stecken blieb, kam doch fortan jeder auf seine Kosten. Denn der Boris hat doch nur einen netten Spaß gemacht und erzählt zwischen den folgenden drei Gängen viel Delikates aus seinem turbulenten Fünfsatz-Match, seinem Leben.

 

WIE ALLES BEGANN …

„Ich hätte mir nie träumen lassen, was ich erreicht habe. Anfang der 80er Jahre war aber Profitennis in Deutschland fast nicht möglich. Aber klein Boris gewinnt nahezu jedes Nachwuchs-Turnier, was internationale Agenturen auf den Plan ruft. Sie alle reden in Leimen mit meinem Vater, der aber klarstellt: ,Mein Sohn steht nicht zum Verkauf!‘ Manager Ion Tiriac, mein wichtigster Mentor im Sport und Leben, stellte sich da schon geschickter an. Er sprach 1986 stundenlang mit meiner Mutter in der Küche. Tiriac versprach ihr, die kommenden zwei Jahre so auf mich aufzupassen wie auf seinen eigenen Sohn.“

 

DIE BEDENKEN DES SCHULDIREKTORS

„Mein Schuldirektor ließ sich aber noch schwerer überzeugen, mir eine zweijährige Schulpause zu genehmigen. Nach einem Jahr versuchter er 1986 wieder, mir einzureden, dass ich es doch mit dem Tennis lieber sein lassen sollte. ‚Ich kriege das schon hin‘, antwortete ich ihm, ‚es läuft ganz gut, ich habe vor ein paar Wochen so ein Turnier in London gewonnen.“

 

DER WELTENBUMMLER

„Mit 12 begann für mich das Reisen mit der Jugendnationalmannschaft rund um den Globus. Im Herbst 1983 habe ich in Monaco mit 16 Jahren meine erste eigene Wohnung bezogen. Seit zehn Jahren lebe ich in London, davor war ich für jeweils zehn Jahre in Zürich, München und Monte Carlo. Ob ich jemals wieder nach Deutschland zurückkomme, weiß ich nicht. Die Deutschen meinen, mich zu kennen. Ich habe aber nicht das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen. In London kann ich mich ungestört bewegen, das ist hier leider nicht möglich.“

WIMBLEDON

„Es ist das bedeutendste, traditionellste und bekannteste Tennisturnier der Welt, das einzige Grand-Slam-Turnier, das auf Rasen gespielt wird. 800 Millionen Menschen schauen jedes Jahr am Fernseher zu. Als ich Björn Borg dort gesehen habe, wollte ich das Turnier auch unbedingt einmal gewinnen. Ich wusste natürlich, was es bedeutet, in Wimbledon zu triumphieren. 1984 war ich das erste Mal dabei, musste aber leider in der dritten Runde wegen einer Verletzung aufgeben. Ein Jahr später knickte ich im Achtelfinale gegen Tim Mayotte im vierten Satz um. Mein Trainer Günther Bosch schrie: ,Hör auf‘, Tiriac rief: ,Spiel den Satz zu Ende‘. Das tat ich, sonst gäbe es den Boris Becker aus Leimen nicht. Ich möchte in Wimbledon begraben werden.“

 

DER ZWEITE GEBURTSTAG

„Ich bin am 7. Juli 1985 um 17.26 Uhr zur öffentlichen Person geworden. Für mich ist dieses Datum mein zweiter Geburtstag, dabei habe ich ja nur ein Tennisspiel gewonnen. Irgendwann wird jemand kommen und meinen Rekord als jüngster Wimbledonsieger (Anm. d. Red.: 17 Jahre) brechen. Momentan sehe ich aber keinen. Das ist mir auch ganz recht.“

 

DIE TITELVERTEIDIGUNG

„Ein Jahr später in Wimbledon den Titel zu verteidigen, war viel schwieriger als der erste Sieg. Die Saison lief nicht so gut. Vor dem Turnier sagte ich zu Bosch und Tiriac: ‚Ich habe bis jetzt das gemacht, was ihr wolltet. Jetzt mache ich das, was aus meiner Sicht wichtig ist.‘ Ich habe Tennis gespielt, wie ich es wollte. Und gewonnen. Diese 14 Tage mit der Titelverteidigung haben mich mehr geprägt als irgendein anderer Sieg.“

 

DER RUHM

„Nach meinem ersten Wimbledon-Sieg haben mich 50.000 Leute in Leimen empfangen. Das war mir unangenehm, ich wollte lieber ganz bei mir sein. Ein Jahr später nach der Titelverteidigung habe ich den Empfang abgesagt. Ich sagte zu meinem Vater: ‚Du kannst nicht über mein Leben bestimmen.‘ Es kann sein, wenn man so früh so erfolgreich ist, dass man die Bodenhaftung verliert. Das ist mir immer wieder passiert, wenn ich zum Beispiel ein Mädchen angesprochen habe. Das macht doch aber Spaß, ich kann das nur jedem empfehlen (lacht).

 

SIEG & NIEDERLAGE

„Ich habe es gehasst, zu verlieren. Mit 17 hat man noch keine Angst vor dem Versagen, weil man noch keinen Druck spürt. Ich hatte aber auch später nie Probleme damit. Ich bin geistig über meine körperlichen Schmerzen gegangen. Das Wichtigste im Tennis ist aber, egal wie alt man ist, wie erfahren, wie unbekümmert, es muss der erste und der letzte Punkt gespielt werden. Es gibt im Tennis nur Sieg oder Niederlage.“

 

ANGSTGEGNER

„Der Mann frühmorgens im Spiegel.“

 

BITTERSTE NIEDERLAGE

„Das verlorene Wimbledon-Finale gegen Michael Stich 1991. Es tut noch immer weh. Ich habe ihn komplett unterschätzt und nie daran gedacht, dass ich verlieren könnte. Er war aber besser an diesem Tag und hat verdient gewonnen. Als das Turnier begann, ist mein Freund Michael Westphal gestorben. Ich habe mich gefragt, ob der Sinn des Lebens ist, in Wimbledon Tennis zu spielen? Nein! Ich hätte wahrscheinlich aufgehört, wenn ich gewonnen hätte. Durch die Niederlage war ich wieder neu motiviert und habe noch bis 1999 weitergespielt.“

 

DER TRAINER BECKER

„Als Trainer bin ich ein fürchterlicher Typ, ich bin dein bester Freund und dein schlimmster Feind. Samthandschuhe sind nicht förderlich. Ich möchte Titel gewinnen, wenn der Spieler dafür nicht alles geben möchte, können wir es gleich lassen. Nach den ersten Siegen kommen viele Aasgeier auf die Spieler zu, damit können viele nicht umgehen und verlieren den Fokus.“

 

STEFFI GRAF

„Steffi war eine magische Tennisspielerin. Sie wäre eine großartige Lehrmeisterin. Ich wünschte, sie wäre öfter im Tennis zu sehen.“

 

ALLTAG

„Eine normale Woche gibt es in meinem Leben nicht. Am Wochenende bin ich meistens in meiner Funktion als Head of Men’s Tennis beim Deutschen Tennisbund oder als Eurosport-Moderator auf Turnieren unterwegs. In London habe ich ein Büro mit einem Geschäftsführer und Mitarbeitern. Ich habe meine meisten Matches nicht glatt gewonnen. Natürlich habe ich auch Fehler gemacht, auf die ich nicht stolz bin. Aber ich fühle mich wohl auf meiner Straße, auch wenn ich ein, zwei Mal davon abgekommen bin. Mein Lebensweg bleibt hoffentlich spannend. Ich weiß ich nicht, was ich mit 60 mache.“

 

FREUNDE

„Ich führe ein kompliziertes Leben und habe nur wenige enge Freunde, denen habe ich aber viel zu geben, das lasse ich auch zu. Titel von Personen interessieren mich nicht, ich bin am Menschen interessiert.“

 

DER PREIS

„Ich habe zwei künstliche Hüften und ein künstliches Sprunggelenk, die Knie schmerzen. Ob es das wert war? Oh ja. Meine Seele ist gesund, alles andere kann man flicken. Allerdings hätte ich dem 16-jährigen Boris Becker nicht erlaubt, Profi zu werden.“ Nach gut viereinhalb Stunden, also wie nach einem spannenden Fünfsatz-Match, endet der Abend mit Boris Becker. Der Weltstar aus Leimen bedankt sich, schreibt Autogramme, lässt sich fotografieren. Und gibt unumwunden zu, dass er heute Abend viel offener gewesen sei, als er das normalerweise ist. Er wird sich an Gotha erinnern.

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, dpa