Als Herr Lochthofen der DDR „Das Volk stahl“.

Am 13. Januar 1990, gerade einmal acht Wochen nach dem Mauerfall, entmachtet die Belegschaft die Chefredaktion der Erfurter SED-Bezirksparteizeitung „Das Volk“. Drei Tage später erscheint erstmals die „Thüringer Allgemeine“ – die erste unabhängige ostdeutsche Zeitung. Ihr neuer Chefredakteur Sergej Lochthofen, einer der Hauptinitiatoren des „Putsches“, leitet die auflagenstärkste Tageszeitung des Freistaates bis Ende 2009 und wird dabei selbst zur „Stimme des Ostens“. Ein Gespräch mit dem Erfurter Journalisten und Buchautor im verlassenen alten TA-Hochhaus, wo seine journalistische Karriere 1971 als Volontär begann, über ein Wunder, Zensur und ein demokratisches Defizit.

Herr Lochthofen, wir haben uns verabredet, um über die Geschichte zu sprechen, nun kommen wir um die aktuellen Ereignisse in Thüringen nicht ganz herum. Meinen Sie, der gefundene Kompromiss trägt?

Es ist dem Land zu wünschen. Und uns auch. Wir lassen mal alles Auf und Ab der letzten Wochen beiseite, darüber ist ja schon viel gestritten und geschrieben worden. Im Kern geht es doch darum, dass eine rechtsradikale Partei mit Hilfe der Ostdeutschen das erfolgreiche Modell Deutschland zerstören will. Die Menschen, die vor dreißig Jahren flehentlich um Aufnahme baten, legen nun die Lunte an das gemeinsame Haus. Das ist bitter. Und dass die Thüringer, genauer gesagt ein kleiner, aber radikaler Teil davon, besonders eifrig zu Werke gehen, sollte uns Warnung sein. Jedenfalls werden wir die braunen Flecken auf unserer weißen Weste nicht so leicht los.

 

Zurück zur Geschichte: 30 Jahre Einheit bedeutet auch 30 Jahre neue Medienlandschaft im Osten. Sie haben der allmächtigen Partei im Januar 1990 „Das Volk“ gestohlen, das schrieb zumindest die taz. Wie haben Sie das angestellt?

Man fragt ja immer wieder, ob es Wunder gibt. Ich kann nur sagen: Ja. Ich habe es erlebt. Mauerfall, und kein Schuss fiel, das bleibt für mich ein Wunder. Was danach kam, war wie ein Wirbelwind, der alles mitriss, und wir waren mittendrin. Die Frage war: Lässt man sich einfach treiben oder greift man selbst ein? Ich war Teil einer Gruppe junger Redakteure, die sich für Letzteres entschieden.

Wir hatten Glück, wir konnten auf die Ereignisse Einfluss nehmen. Viele andere hatten nicht die Möglichkeit. Es hieß, ich sei damals der jüngste Chefredakteur Deutschlands gewesen.

 

Welchen Anteil an diesem Wunder hatten die Journalisten der DDR?

Keinen. Im Grunde haben wir versagt. Die Uhr zeigte fünf nach zwölf, auf den Straßen forderten Hunderttausende Veränderungen, und auf den Zeitungsseiten standen noch immer die gleichen Verlautbarungen. Als dann im „Volk“ als erster DDR-Zeitung das „Westprogramm“ von ARD und ZDF erschien, jubilierten die Leser. Aus den Redaktionen anderer Zeitungen kamen Anrufe mit der für die Zeit typischen Frage: „Wer hat euch das erlaubt?“ Wir antworteten: „Niemand!“ Wir waren nicht mehr bereit zu fragen.

 

„Das Volk“ gehörte der SED.

Alle Zeitungen in der DDR gehörten den Parteien, streng kontrolliert und aufgeteilt. Als die politische Macht erodierte, waren die Verantwortlichen paralysiert, so begannen wir die Freiräume auszuweiten. Bereits im Herbst 1989 veröffentlichten wir als erste Zeitung eine investigative Geschichte über einen SED-Bonzen. Gerhard Müller war der Erfurter Bezirkschef der Partei und hatte sich auf Staatskosten ein Jagdhäuschen bauen lassen. Damit nicht genug: Der Waldweg dorthin war auch noch asphaltiert. Das war in einem Land, das nur aus Schlaglöchern bestand, natürlich eine Provokation. Dann kamen die Fernsehteams und wollten die Geschichte um „Sägemüller“ – so hieß er im Volksmund – filmen. Plötzlich war sogar das Ostfernsehen spannend.

 

Warum dauerte es noch bis Mitte Januar, dass die erste unabhängige Zeitung – die „Thüringer Allgemeine“ – erscheinen konnte?

Das sieht nur aus der heutigen Perspektive so glatt und einfach aus. Über der Zukunft lag damals noch dicker Nebel. Selbst Kohl traute sich nicht, von der baldigen Einheit zu sprechen. Noch nicht. Und es war ja eine deutsche Revolution. Am Tag gingen die Leute zur Arbeit und erst nach Feierabend wurde das Regime gestürzt. So konnte es auch für uns nur einen legalen Weg der Machtübernahme geben. Es bedurfte mehrerer hitziger Versammlungen, bis wir endlich eine Mehrheit hinter uns hatten. Ohne Unterstützung durch die Drucker wäre es noch schwerer gewesen. Die wollten dann nur noch das drucken, was wir freigaben. Der neue Name zeigte, dass wir einen klaren Schnitt vollzogen haben. Das etwas andere Thüringen-Wappen im Kopf der Zeitung habe ich damals mit dem Gestalter gemeinsam entworfen. Ein offizielles gab es ja noch nicht. Es wurde dann tausendfach kopiert und auf den Plakaten durch die Straßen getragen. Somit ist es ein echtes Produkt der Wendezeit.

 

Die PDS als Nachfolgepartei der SED und somit Eigentümerin der Zeitung sah das sicherlich etwas anders?

Klar. Die reagierten sauer. Es war Wahlkampf. Alle Parteien – auch die CDU oder die Liberalen – versuchten, ihre Zeitungen als Geschütz in Stellung zu bringen. Da kamen wir mit unserem Vorschlag, die Zeitung für eine symbolische Mark – meinetwegen auch Westmark – der PDS abzukaufen, nicht gut an. Man versuchte, uns schlichtweg zu erpressen: Wenn ihr nicht kuscht, bekommt ihr kein Papier mehr. In der DDR konnte man ja eine Zeitungsrolle nicht einfach kaufen. Gysi & Co. befürchteten einen Erdrutsch. Wir hielten dagegen: Auf den letzten Rollen Papier wollten wir die Erpressung publik machen. So ließ man uns gehen.

 

Und Sie wurden als Unbelasteter – „Keine Stasi. Keine Partei. Kein Polit-Studium in Moskau“, wie Sie einmal selbst sagten – zum Chefredakteur gewählt?

Erst mal haben wir ganz im Sinne des Zeitgeistes einen Redaktionsrat gewählt. Aber schnell war klar, stundenlange Diskussionen und Tageszeitung, das verträgt sich nicht gut. Jemand muss entscheiden und dafür am nächsten Tag die Verantwortung übernehmen. So wurde ich in geheimer Wahl zum Chefredakteur gewählt. Natürlich streng basisdemokratisch. Zeit zum eingewöhnen blieb nicht. Von allen Seiten marschierte die Konkurrenz mit modernster Technik nach Thüringen ein.

 

Haben Sie sich anfangs mit Ihrem Acht-Seiten-Blättchen nicht wie David gegen Goliath gefühlt?

Nun, ich würde eher sagen: Ein Trabant trat gegen mehrere Porsche an. Das hieß: Die anderen hatten Computer, und wir arbeiteten noch mit Bleisatz. Aber: Wir haben ja auch später den Elch-Test mit dem Trabi gemacht, und der hat gegen Mercedes klar gewonnen. Alle prophezeiten uns, dass wir nicht überleben würden. Seitdem bin ich, wenn es um das Urteil von „Experten“ geht, vorsichtig. Ausschlaggebend in diesem ungleichen Wettbewerb war sicher, dass die Redakteure durch den gleichen Fleischwolf gedreht wurden wie ihre Leser. Alles änderte sich, und wir waren mittendrin. Die allwissenden Kollegen aus dem Westen schauten auf die Ereignisse von oben herab. Das gefiel den Lesern nicht wirklich. Unsere ohnehin hohe Auflage schnellte weiter nach oben. Das ist leider nur noch Geschichte. Wenn ich die Auflagen jetzt sehe, schaue ich wehmütig zurück. Denn der heutige Bedeutungsverlust der Tageszeitungen ist auch ein gesellschaftlicher Verlust, weil ein Teil der wirren und teilweise sogar dummen Diskussionen, die in diesem Land geführt werden, auch etwas mit der Uninformiertheit der Leute zu tun hat.

 

Zumindest einseitig informiert wurden die Leser in der DDR. Wie haben Sie das als Zeitungsredakteur erlebt?

Eine direkte Zensur wie in der Sowjetunion gab es nicht. Aber die indirekte Form der Zensur in der DDR war nicht weniger wirksam. Jeder Redakteur kannte den schmalen Grat, den die Parteibeschlüsse vorgaben. Wer davon abwich, hatte beruflich keine Zukunft. Dadurch, dass ich Russisch konnte, schrieb ich häufig über die Sowjetunion und war auch oft dort. Das war spannend in Zeiten von Glasnost und Perestroika, wurde aber immer schwieriger. Wenn ich aus Sibirien oder Litauen zurückkam und einen Text vorlegte, machte der Chefredakteur ein zerknirschtes Gesicht: „Toll, spannend, aber so können wir das nicht bringen, dann würde hier kein Stein auf dem anderen bleiben.“ Dabei hatten wir Glück, er selbst war kein Hardliner, die saßen in der Bezirksleitung der SED. So hoffte man auf Gorbatschow und bessere Zeiten. Zugleich musste man mit Verwunderung feststellen, wie aus dem einstigen großen Bruder plötzlich der böse Onkel wurde.

 

Die großen westdeutschen Verlage gingen im Frühjahr 1990 im Osten auf Einkaufstour. Warum schloss sich die „Thüringer Allgemeine“ der WAZ-Gruppe an?

Wir waren die ersten, die aktiv Kontakte suchten und die letzten, die dann „unter die Haube“ kamen. Und die einzigen, die ein Joint Venture mit einem Verlag aus dem Westen abschlossen. So gingen wir nicht wie bei einer Viehauktion meistbietend weg, sondern konnten uns den Partner aussuchen. Es war klar, um in der Marktwirtschaft zu bestehen, musste viel Geld in die Zeitung investiert werden. Es ging da nicht um ein paar, sondern um hunderte Millionen. Viele, die kamen, hatten zwar Appetit, aber nur einen kleinen Löffel. Im Gegensatz dazu war die „Kriegskasse“ der WAZ prall gefüllt. Und: Die beiden führenden Köpfe hatten vollen Respekt vor dem, was wir bereits geleistet hatten. Das passte. Die wesentlichen Dinge wurden per Handschlag geregelt und alle konnten sich darauf verlassen. Das hielt zwanzig Jahre. Dann kamen Leute, bei denen man aufpassen musste, ob nach der Begrüßung noch alle Finger an der Hand sind. Die Redaktion sollte zur Ader gelassen werden. Ich weigerte mich das mitzumachen. Die Folgen sind bekannt.

Heute gehören die meisten wichtigen Tageszeitungen, Online-Portale und Fernsehsender mehrheitlich drei Familien in Deutschland: Springer, Bertelsmann und Burda. Spricht das noch für eine pluralistische Medienlandschaft?

Konzentration ist ein Thema, die Ausdünnung der Redaktionen ein nicht minder dramatisches. Manche Ausgabe der Regionalzeitungen macht den Eindruck, als würden die Seiten schon in China zusammengeschraubt. Dennoch: Wir können uns heute besser informieren als jede andere Generation zuvor. Ganz zu schweigen von der DDR. Vorausgesetzt: Man kann es, und man will es. Neben den traditionellen Printmedien gibt es die Öffentlich-Rechtlichen und auch das Internet. Um diesen Mix beneidet man uns zu Recht. Schauen Sie nach Amerika, dort gibt es das so nicht und die Verblödung der Massen ist schon weit vorangeschritten.

Siehe die Wahl Trumps. Natürlich machen auch Journalisten Fehler. Wie es auch Ärzte oder Richter tun. Nur die Fehler der Journalisten stehen schwarz auf weiß. Das führt zu kritischen Reaktionen und das ist auch gut so.

 

Die AfD spricht dennoch von Gleichschaltung der Medien und Lügenpresse.

Das ist einfach nur Unsinn. Die meisten, die lauthals „Lügenpresse“ skandieren können vermutlich gar nicht lesen. Zumindest haben sie noch nie eine „Süddeutsche“ oder „FAZ“ in den Händen gehalten. Es ist ja auch nicht ganz ungefährlich, die eigene Filterblase zu verlassen. Gerade schien es noch, man sei „Viele“ und muss plötzlich feststellen, dass man doch nur eine Randgruppe ist. Wenn es ernst wird, schalten die meisten Menschen in diesem Land noch immer die gute alte „Tageschau“ ein, weil sie wissen, dass sie hier solide informiert werden. Wenn Sie die großen investigativen Geschichten unserer Tage nehmen, zum Beispiel die „Panama Papers“, blieben diese ohne den professionellen Einsatz von Journalisten ungeschrieben. So werden die dunkelsten Ecken der Gesellschaft ausgeleuchtet. Genau das fürchtet die AfD.

 

Hanns Joachim Friedrichs – einst „Mister Tagesthemen“ – sagte einmal, man dürfe sich als Journalist nicht gemeinmachen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Gilt das heute auch noch?

Das Zitat wird leider oft falsch wiedergegeben. Er bezog es auf sich als Moderator in Situationen, in denen er über grausamste Dinge sprechen musste. Daraus ist gemacht worden, dass du als Journalist um jeden Preis neutral sein musst. Wenn die Demokratie in Bedrängnis gerät, dann kann es keine Neutralität geben. Dann ist es Pflicht, sich einzumischen. Die Großen der Zunft – Kisch oder Tucholsky – waren mitnichten neutral. Man darf sich nur nicht parteipolitisch einspannen lassen.

Die Greußener Salami, für jeden Thüringer noch aus Ostzeiten ein Begriff, würde es ohne die Zeitung nicht mehr geben. Weil bei der Treuhand die Marke keiner kannte, wurde die Firma dem Sterben überlassen. Wir legten damals eine Salami auf die Seite 1 und schnitten täglich eine Scheibe ab. Es war klar: Wenn die Wurst alle ist, dann ist die Firma tot. Zwei Tage später meldete sich Bernhard Vogel bei mir und fragte, ob er etwas tun könne. Am Tag darauf rief der Bundeswirtschaftsminister aus Bonn an. Am Wochenende hatte man einen Investor gefunden, und die Greußener war gerettet. Das klappt nicht immer. Aber man muss es versuchen.

 

Können Journalisten auch Menschen „zurückholen“, die behaupten, man könne in Deutschland nicht mehr seine Meinung sagen?

Die absolute Mehrheit der Thüringer hat bei den letzten Wahlen vernünftig gewählt. So panisch müssen wir also nicht sein. Es gibt aber auch solche, deren Blick durch Hass verstellt ist. Das Chaos der letzten Tage hat uns gezeigt, wohin das führt. Vielleicht kommt ja bei Neuwahlen der eine oder andere endlich zum Nachdenken. In Hamburg ist das passiert. Guter Journalismus kann da helfen. Wir müssen ruhiger und sachlicher informieren, dürfen nicht überdrehen. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Informationswellen wie in Fieberschüben über uns rollen. Der Druck kommt vor allem aus dem Internet. Ob etwas stimmt, spielt keine Rolle, Hauptsache die Erregung ist groß. Da muss mehr Ordnung rein. Man wird um mehr Regulierung nicht herumkommen.

 

Stirbt die Tageszeitung aus, wie es seit der Erfindung des Internets quasi jedes Jahr prognostiziert wird?

Ich bin ja im Grunde ein optimistischer Mensch. Es wird weiter Zeitungen geben. Sie werden aber nicht mehr das sein, was sie einmal waren: Massenprodukte. Immer weniger Leute sind bereit, für den Nutzwert, den sie in der Zeitung sehen, zu bezahlen. Die Gratiskultur aus der virtuellen Welt verändert die reale. Eliten werden auch künftig Zeitungen und Zeitschriften lesen. Der Rest wird sich mit Halbgarem und Häppchen begnügen. Das ist ein enormes demokratisches Defizit. In Ostdeutschland sieht man die verheerende Wirkung bereits überdeutlich.

 

Haben Sie ein Patentrezept?

Qualität ist die einzige Antwort. Es muss wieder verstärkt in Qualität, in die Redaktionen investiert werden. Das Hinterherrennen, um 20-, 30-jährige Nichtleser zu kriegen, die übrigens auch zu meiner Zeit kaum Zeitung gelesen haben, ist eine Illusion. Ich gebe der Zeitung eine Chance, dafür muss sie aber auch liefern. Nur lokale Meldungen, die von der Polizei geschrieben werden, bringen es nicht, weil sie schon tags zuvor kostenlos im Netz stehen. Und wer kann eine gute Story schreiben, die auch interessant ist? Nur ein Journalist, der dafür aber auch am Ort des Geschehens sein muss. Wenn aber diese Stelle schon vor Jahren gestrichen wurde, dann wird es schwer. Mit Fast Food, das irgendwo in Zentralen angerührt wird, hält und gewinnt man keine Leser, Hörer und Zuschauer.

 

Herr Lochthofen, vielen Dank für das Gespräch!

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, Sascha Fromm