„Ein Geflecht der kleinen Versehrtheiten.“

„Mein Name ist Miku Sophie Kühmel. Ich bin 1992 in Gotha geboren und 2010 nach Berlin gegangen. Ich schreibe seit immer. Mein erster Roman „Kintsugi“ ist 2019 erschienen und ich freu‘ mich, wenn Sie ihn lesen. Ich lese auch. Manchmal auch laut.“ So stellt sich die Autorin auf ihrer Homepage kurz und knapp vor. Freuen über sehr viele Leser ihres Debütromans kann sich die 27-Jährige jedenfalls. Die Jury des Deutschen Buchpreises hatte sogar so viel Freude, dass sie den Roman über eine moderne Familie mal eben auf die Shortlist setzte! Von der renommierten Jürgen-Ponto-Stiftung und dem Kulturmagazin aspekte gab es sogar den jeweiligen Literaturpreis. Ein Besuch in Berlin-Kreuzberg, der Wahlheimat Miku Sophie Kühmels.

Ein nieselig-feuchter Januarnachmittag in Kreuzberg. Hagelberger Straße 15, Ecke Großbeerenstraße, Kramuri Café, Weinbar & Blumenbinderei. Dort wollten wir uns um 14 Uhr treffen. Haben wir auch, aber die Bar ist geschlossen. Renovierungsarbeiten. Also lädt uns Miku Sophie Kühmel spontan in ihre WG ein, nur ein paar Straßen weiter. Seit sie 14 Jahre alt ist, hat sie nahezu jeden Ferientag und so manches Wochenende zwischendurch in Berlin verbracht, bei der großen Halbschwester und später bei Freunden.

Es hat sie schon immer rausgezogen aus Gotha. „Das einzige, was ich dort gekauft habe, waren Bücher. Ansonsten bin ich für alles andere am Freitagnachmittag mit der Regionalbahn nach Erfurt gefahren“, erinnert sie sich. Die Mutter, Lehrerin an einer dortigen Schule, hat sie dann am Abend wieder mit zurückgenommen. In ihrer Heimatstadt hat sie sich irgendwie nicht dazugehörig gefühlt. Trotz ein, zwei schöner Freundschaften in der Oberstufe. Meistens war sie für sich. In ihrer Welt der Kunst. Des Schreibens.

Sie schreibt schon immer, sagt sie. Im gutbürgerlichen Eltern-Lehrerhaushalt gibt es einfach sehr viele Bücher, der Urgroßvater war gelernter Buchhändler. Bücher, Literatur, überhaupt Kunst waren das Fenster hinaus: „Man kann mit geringem finanziellen und zeitlichen Aufwand durch Welten und Körper, Universen und Zeiten reisen“, erklärt sie in der Wohnküche mit Blick über die Dächer Kreuzbergs. Imagination war und ist für sie elementar. Die Schwestern sind zehn Jahre älter, Miku Sophie spielte also viel allein, begann zu fabulieren und damit die beiden Großen zu nerven. In der Schule kristallisierte sich sehr schnell heraus, wo ihre Talente liegen: in der Lektüre, beim Schreiben. Wenn sie andererseits Dinge nicht interessieren, kann und will sie die auch nicht können. Und umgekehrt. Nie hat sie sich gefragt, was sie mal machen möchte. Das steht fest: Literaturwissenschaften studieren. In Berlin. Und schreiben.

„Weil wir zusammen Dinge konnten, tun und lassen und wagen. Stürme konnten über uns hinwegziehen und Fluten und Großbrände, und am Ende, wenn der Rauch sich verzog, standen wir immer noch beide da.“ (Max)

Mit 18 verlässt sie Gotha. Wo sie die Depression der Nachwendezeit bis in die frühen 2000er Jahre erlebt hat. Viele verlassen die einstige stolze Residenzstadt. Viele Karrieren wurden auf Null gesetzt. Viele Konflikte in der Gemeinschaft brechen nach dem Mauerfall auf. Die Mutter hätte gern zu DDR-Zeiten Jura studiert, doch weil sie ein Akademikerkind war, durfte sie das aber nicht. So wird sie Lehrerin für Deutsch und Russisch, ein Wechsel zu Französisch wurde abgelehnt. Reine Schikane. „Ich habe dagegen die maximale Freiheit gehabt, mir das auszusuchen, was ich machen will. Das Beispiel meiner Mutter hat mich geprägt.“ Sie sei „aufgewachsen wie in einem löchrigen Käse“. Den Arbeiter- und-Bauern-Staat kennt sie nur aus den Unterhaltungen mit Verwandten und Freunden. Dennoch spürte sie „eine bestimmte Art von Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl, wie man miteinander umgeht“.

Wenn sie heute Gotha besucht, sieht sie, was sich in den letzten zehn Jahren getan hat. Sie sieht die restaurierten Häuser, die Bemühungen, kulturell wieder etwas voranzubringen. Es sei wieder „viel mehr Leben“ in der Stadt.

„So drückte ich jede Klage, die mir auf der Zunge lag, gleich tief in das geheime Verlies in mir herab, zusammen mit allen Tränen, bis nur noch Wut übrig blieb und das Gebet, dass die Zeit schneller vergehen und ich wachsen möge, wachsen, bis mein Kopf an die Decke stieße und ich kräftiger wäre als die alle.“ (Reik)

Viel mehr Leben gibt es auch in Berlin. Im Überfluss. Und das Studium der Literatur! Ein Wagnis für die verbeamteten Eltern. Kunst ist schön, aber das machen doch die anderen. Miku Sophie Kühmel schreibt immer weiter. Kurzgeschichten, Beobachtungen, Notizen, Blogbeiträge, Zeugs. Wenig journalistisch, immer fiktional. „Ich schreibe nicht ohne Unterlass. Es ist immer ein Ankämpfen gegen den Zweifel. Eine Rechtfertigung vor sich selbst, dass man das will.“ Vom Bücherschreiben einmal leben zu können, ist für sie illusorisch. Das Gefühl verstärkt sich zunächst durch die kompetitive Stimmung unter den Geisteswissenschaftlern an der Universität. Das schüchtert sie ein. Sie schreibt nicht mehr, ein ganzes Jahr lang. Mentoren, ein Professor, der Schriftsteller Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“), bei dem sie einige Wochen in New York studiert, und vor allem der Publizist Roger Willemsen („Das Hohe Haus“), in dessen Kurs sie sich in Berlin einschreibt und zu dem sie schon lange aufschaut, bringen die Motivation zurück. Erst jetzt merkt sie, wie sehr ihr das Schreiben gefehlt hat. Ihr hilft es, „Dinge zu verstehen, aufzunehmen, zu prozessieren, zu verarbeiten, was mir passiert. Schreiben macht irgendetwas mit meinem Gehirn, was mir wahnsinnig gut tut. So gut, dass es ein Drang ist.“

Kintsugi – Goldverbindung, Goldflicken – ist eine im 16. Jahrhundert in Japan vor dem Hintergrund des sich stärker verbreitenden Zen-Buddhismus entwickelte traditionelle Reparaturmethode für Keramik. Keramik- oder Porzellanbruchstücke werden mit Urushi-Lack geklebt, fehlende Scherben werden mit einer in mehreren Schichten aufgetragenen Urushi-Kittmasse ergänzt, in die feinstes Pulvergold eingestreut wird. Der Makel, die mit Goldlack reparierten Bruchlinien, ist deutlich zu erkennen.

Im Herbst 2017 macht sie sich in New York die ersten Notizen für ihren ersten Roman. Im darauffolgenden August ist er fertig. Ein Buch über Beziehungsprobleme dreier Männer Anfang 40, zwei davon sind seit zwanzig Jahren ein Paar (Max und Reik), und der zwanzigjährigen Tochter (Pega) des dritten im Bunde (Tonio). Ein Kammerspiel: Vier Leute, ein Wochenende, ein Haus, ein Wasser. Und die Frage, wie man mit Brüchen in der Biografie umgeht. Was mache ich, wenn die Exitstrategie keine Option ist, sondern man irgendwie weitermachen muss? „Man sucht ja nach Metaphern, aber das Bild von einer zusammengesetzten Schale mit Goldadern war plötzlich da“, erklärt sie. „Die menschengemachte Tonschale, die Risse werden nicht verdeckt, sondern es wird eher zelebriert, dass es den Bruch gab und er überwunden wurde.“ Kintsugi.

Das klingt sehr ambitioniert für einen Debütroman einer 27-Jährigen. „Natürlich hätte ich auch einen Debütroman schreiben können in der ersten Person Singular Präsens aus der Sicht einer Frau in meinem Alter, die im gleichen Berliner Bezirk wohnt, in die gleichen Clubs nicht reinkommt und überhaupt das Gleiche erlebt wie ich. Das hat mich aber überhaupt nicht interessiert. Schließlich schreiben ja seit Jahrhunderten viele ältere männliche Autoren über junge Frauen und wie sie sich zu fühlen und zu leben haben. Da dachte ich, dann kann ich auch über ältere schwule Männer schreiben. Wenn wir alle nur schreiben würden, was wir schon erlebt haben, das wäre ja ganz traurig.“ Touché.

Ihr Schreiben soll in erster Linie etwas machen mit ihr und im besten Falle auch mit den Lesern. Und die queere Lebensgeschichte war für sie die Chance, „Dinge aus vier verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, um selber zu verstehen, wie innerfamiliäre und Beziehungen an sich funktionieren. Warum hat jeder in so einer Konstellation ein anderes Bild, und wie entstehen die unterschiedlichen Erinnerungen an die gleichen Ereignisse? Das sind alles reell existierende Themen.“ Und der Bruch ist eben nicht das Ende.

„Ein bisschen Bildkrisseln bleibt natürlich, dass man nie ganz genau weiß, was wirklich passiert und vor allem was passiert ist, weil wir unsere Erinnerungen einfärben mit dicker Batikfarbe, bis sie sepiafarben sind, weil wir uns in ihnen wälzen, nächtelang, ohne voranzukommen, weil wir sie zerschneiden und einzelne Blätter verlieren und den Rest schief und krumm zusammenkleben, bis es unserer Meinung nach passt und gut aussieht.“ (Tonio)

Jeder der vier Protagonisten, also Max, Reik, Tonio und Pega, bekommt ein eigenes Kapitel, in dem sie in der Ich-Form ihre Sicht der Dinge erklären. „Spätestens beim Pega-Kapitel war es mir eine diebische Freude, einfach Dinge auch zu widerlegen. Mir war es wichtig, dass diese junge Frau ausführlich zu Wort kommt und diese Ideen, die die drei Männer so massiv in sie rein projizieren aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, dass sie das aufbricht.“ Mehr wird jetzt aber nicht verraten.

„Da sind kleine Risse, entstanden durch den Gebrauch, von der ersten Tasse Tee an geht das los, hat Max mir einmal erklärt. Jeder neue Riss steigert den Wert, statt ihn zu schmälern. Diese Risse sind und waren schon vor dem Zerbrechen ein Geflecht der kleinen Versehrtheiten, das sich mit jedem Aufguss vertieft haben muss.“  (Pega)

Der renommierte Verlag S. Fischer veröffentlicht am 28. August 2019 das Erstlingswerk. Prompt landet es erst auf der Longlist und dann auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Es folgen Interviews, Lesungen, Filmdrehs, positive und negative Kritiken. Alles Neuland. Sie ist überfordert mit der Situation und merkt, „dass diese öffentlichen Auftritte gar nicht so mein Lieblingsteil an dieser Tätigkeit sind. Ich mache das natürlich gerne und bin froh, dass ich dieses Jahr noch ziemlich viele Lesetermine habe. Aber dieser Kulturbetrieb ist am Ende auch nur ein Betrieb, ein Schlachtfeld. Es geht um Aufmerksamkeit, die teuer und wertvoll ist.“

„Und auf dem dämlichen Sideboard steht neben dem Pinsel aus Holz und dem gusseisernen Kännchen auch wieder zusammengesetzt die Teeschale. Und an den Stellen wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht.“

Am wertvollsten ist für sie jetzt aber Zeit. Zum Verarbeiten. Zum Schreiben. „Ich bin froh, dass ich mich jetzt nach dem ganzen Rummel wieder wochenlang in Bibliotheken einigeln kann, um zu recherchieren, zu planen.“ Ein paar kleinere Sachen hat sie fertig, die werden im Herbst erscheinen. Es funktioniert wieder. Sie kann „diese Rezeptionskiste ausschalten“. Für den Sommer hat sie ein dreimonatiges Stipendium erhalten. Ganz weit weg. Nur sie und der neue Roman.

Für den wird sich Miku Sophie Kühmel, wie früher in ihrem Gothaer Kinderzimmer, wieder auf Reisen begeben, durch Welten und Körper, Universen und Zeiten.

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus