„Wir haben das Richtige getan.“

Am 4. März 1990 steht Irene Ellenberger auf dem heutigen Platz der Demokratie in Weimar bei einer Wahlkampfveranstaltung für die ersten und letzten freien Wahlen in der DDR direkt hinter Alt-Bundeskanzler Willy Brandt. Wenig später zieht die Architektin für die SPD in die letzte Volkskammer ein, im Oktober 1990 nach der Wiedervereinigung in den Thüringer Landtag. Von 1994 bis 1999 war sie Sozialministerin des Freistaates und von 1999 bis 2004 Vizepräsidentin des Landtags. TOP THÜRINGEN traf die 73-Jährige 30 Jahre später in Weimar.

Was wird jetzt passieren? fragt sich Irene Ellenberger an diesem Abend im Oktober ’89 in Weimar, als sie die glänzenden Stiefel der Volkspolizisten sieht. Es ist stockdunkel. Zusammen mit ihrem Mann ist sie auf dem Weg zu einer politischen Veranstaltung des oppositionellen Neuen Forums in der Herderkirche. „Ich habe mich so erschrocken. Erst als wir in der Kirche ankamen und die vielen Menschen sahen, fiel die Angst von mir ab. Das hätte ich nie gedacht, dass so eine große Menge Gleichgesinnter so eine beruhigende Wirkung haben können“, erinnert sie sich mehr als 30 Jahre später. Diese innere Ruhe, die sich damals in der Kirche bei ihr einstellte, hatte aber vor allem damit etwas zu tun, „dass man wusste, man tut das Richtige“.

Seit Beginn des – aus heutiger Sicht – historischen Herbstes in der DDR geht die Architektin, die seit 1965 in Weimar lebt, zum Neuen Forum. Sie möchte sich aktiv beteiligen. Mit den Inhalten ist sie einverstanden, aber es fehlen die Strukturen. Im Oktober wird in Schwante bei Berlin die Sozialdemokratische Partei der DDR – SDP – gegründet (die ein Jahr später in die SPD integriert wird). Irene Ellenberger gehört zu den Gründungsmitgliedern des Ortsverbandes Weimar. Nach dem Mauerfall am 9. November, den sie im Fernsehen verfolgte, aber erst am nächsten Tag so richtig realisieren konnte, möchte sie sich politisch engagieren.

Anfang Januar 1990, es muss an einem Wochenende gewesen sein, sitzt ihre Familie am Kaffeetisch, als es klingelt. Zwei Mitglieder der SDP erzählen Irene Ellenberger, dass die Partei für die Volkskammerwahlen am 18. März noch Frauen sucht. Verbunden mit der Frage, ob sie nicht kandidieren möchte. Nachdem Ehemann und Kinder nicken, sagt sie zu. Gedanken, dass sie gewählt werden könnte, macht sie sich keine. „Ich werde ja auf der Wahlliste sicher ganz hinten stehen.“ Denkt sie. Nach einer kurzen Rede auf dem Nominierungsparteitag in Mühlhausen steht sie aber plötzlich auf Platz zwei der Liste. Das bedeutet, Irene Ellenberger wird in die erste und letzte frei gewählte Volkskammer eines untergehenden Staates einziehen. „Eine Woche lang ging es mir nicht gut, weil ich nicht wusste, was das bedeuten sollte. Niemand wusste das“, erinnert sie sich an die aufregenden und unruhigen Tage. Auf Wahlkampfauftritten im Weimarer Land muss sie sich anhören, sie wäre eine „rote Sau“. Am 4. März steht sie bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Platz der Demokratie in Weimar direkt hinter Alt-Bundeskanzler Willy Brandt, der am Tag nach dem Mauerfall sagte: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.“

Die Niederlage gegenüber der Allianz für Deutschland bei der Wahl am 18. März 1990 kann aber auch die SPD-Legende nicht verhindern. Trotzdem zieht Irene Ellenberger in die Volkskammer ein.

Am 5. April konstituierte sich die letzte Volkskammer der DDR, am 12. wurde Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten gewählt. Es war ein Projekt auf Zeit, aber keiner wusste, wie es sein wird. Lediglich drei der 400 Abgeordneten hatten politische Erfahrung. Alle anderen, darunter auch Irene Ellenberger, waren Laien. An ihrem ersten Tag im Parlament hat die Weimarerin richtiges Herzklopfen. „Wir saßen im kleinen Saal des Palastes der Republik. Ich dachte, erst saßen hier jahrelang unsere Bestimmer und jetzt sind wir hier. Das war ein Triumph, daran erinnere ich mich unheimlich gerne.“

Irene Ellenberger wird Obmann für die SPD-Mitglieder im Sozialausschuss und hat zunächst „keine Ahnung“, was sie machen soll, aber sie lernt schnell. Das Büro im ehemaligen ZK der SED ist riesig, blaue Polstermöbel, holzfurniert. Der Alltag ist aufregend, sehr anstrengend und manchmal ernüchternd. „Die Große Koalition, ich war mit wenigen anderen dagegen, machte eigentlich Sinn, um die Arbeit an den Gesetzen auf breite Schultern zu legen, aber bald wurde unsere Meinung nur noch wenig berücksichtigt.

Deshalb sind wir auch ausgestiegen. Vielleicht war das auch gewollt, die CDU wollte allein die Einheitspartei sein.“ Entsprechend schnell wird am Einheitsvertrag gearbeitet. Zu schnell für Irene Ellenberger: „Viele wollten ja durchaus erst mal noch eine bessere DDR haben. Aber das war natürlich Quatsch, denn die Menschen fingen an, das Land zu zehntausenden Richtung Westen zu verlassen. Sie wollten so schnell wie möglich bundesdeutsche Lebensverhältnisse und Westgeld. Für den Einheitsvertrag war viel zu wenig Zeit. Ich jedenfalls konnte kaum erkennen, was da eventuell für Stolpersteine verhandelt oder ob Dinge nicht zu Ende gedacht waren. Die Auswirkungen konnten wir doch gar nicht richtig einschätzen. Ich habe nicht geglaubt, dass der Einheitsprozess ohne Probleme vonstatten gehen wird, wenn zwei so unterschiedliche Systeme zusammenkommen.“

Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, kamen sie schließlich zusammen – nach dem Volkskammerbeschluss vom 23. August: „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“. Einen Tag zuvor, am 2. Oktober um 17.10 Uhr, tagten die 400 Volkskammer-Abgeordneten zum 38. und letzten Mal. Mit einer Festsitzung im einstigen Staatsratsgebäude verabschiedete sich das erste und einzige frei gewählte Parlament in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik. Die 10. Volkskammer der DDR hatte den Auftrag, der ihr sieben Monate zuvor von den Wählern gegeben wurde, erfüllt. In 37 Arbeitssitzungen hatten die frei gewählten Volksvertreter 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und verabschiedet, um den Weg zur Deutschen Einheit für die Menschen in Ostdeutschland so optimal wie möglich zu gestalten.

Irene Ellenberger musste sich nun entscheiden: Bleibt sie Politikerin oder arbeitet sie wieder als Architektin in Weimar? Sie entscheidet sich gegen Weimar, gegen ein mögliches Bundestagsmandat, kandidiert aber für den Landtag in Erfurt. Aus egoistischen Gründen, wie sie sagt. „Ich wollte nicht mehr aus dem Koffer leben. Wir hatten wenig Schlaf, sind kaum nach Hause gekommen. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet, man hat das aber gar nicht als so anstrengend empfunden, weil es für eine gute Sache war.“

In der ersten Legislaturperiode in Thüringen passierte viel Positives, wie das Kindergartengesetz zum Beispiel, auf das sie heute noch stolz ist. Und auch wenn SPD und CDU in vielen Sachen nicht übereinstimmten, so haben sie doch zusammengearbeitet. „Später wurde dann mehr und mehr aus Prinzip gegen den politischen Gegner gestimmt, das hat mich auch bei meinen Leuten geärgert. Das sieht man ja auch aktuell wieder.“

Wie es gehen kann, erlebte Irene Ellenberger im Kabinett unter CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel von 1994 bis 1999. Als Sozialministerin war sie verantwortlich für die Bereiche Soziales, Sport, Jugend, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Verbraucherschutz. „Entsprechend lang waren meine Arbeitstage. Die fünf Jahre waren sehr erfüllend, haben aber an mir gezehrt, auch gesundheitlich.“ Von 1999 bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Landtag 2004 ist sie dessen Vizepräsidentin. Im Rückblick sei die Zeit im Kabinett Vogel „eine gute Zeit gewesen. Er hat immer auf Augenhöhe mit uns gearbeitet und versucht, Dinge so zu regeln, dass niemand im Kabinett das Gesicht verlor.“ Noch heute treffen sich ehemalige Fraktionäre in kleiner Runde zwei Mal im Jahr zum Wandern. Im Mai sind sie in Altenburg verabredet und im Herbst ist Bernhard Vogel Gastgeber in Rheinland-Pfalz. „Der fühlt sich wohl bei uns“, schmunzelt Irene Ellenberger.

Wohl fühlt sie sich auch in ihrem Leben außerhalb der aktiven Politik. Erst in der Landesseniorenvertretung und aktuell bei den „Grünen Damen“, die sich um kranke und alte Menschen kümmern. So macht Irene Ellenberger regelmäßig Besuche im Pflegeheim. „Meine Frau Schwarze freut sich, wenn ich ihr vorlese.“

Natürlich verfolgt die ehemalige Politikerin das aktuelle Geschehen im Land. Es schmerzt sie, „dass die AfD die Wende vollenden will und für sich reklamiert, das Volk zu sein. Furchtbar ist diese Anmaßung. Das Schlimme ist aber, das so viele Wähler ihnen folgen. Diese Entwicklung muss einem Sorge bereiten.“ Dazu kommen hemmungsloser Hass und Hetze in den sozialen Medien, aus denen Gewalt werden kann. Die Anfänge seien ja schon da. Aber positiv stimmt sie, dass bei der letzten Landtagswahl 75 Prozent eben nicht die AfD gewählt haben. Und dass ihr Enkel und viele andere junge Leute sich jetzt politisch in Weimar engagieren würden. In ihrer SPD.

 

„Die Einheit“, sagt sie bei der Verabschiedung im Hotel Elephant, „war eine glückliche Fügung.“

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, Anselm Graubner