Der Anfang
Seit 1.700 Jahren gehört jüdisches Leben zu Deutschland – und seit über 900 zu Thüringen. Das feiert der Freistaat vom 1. Oktober 2020 bis zum 30. September 2021 mit über 100 Veranstaltungen. In der Neuen Synagoge in Erfurt sprach ich mit Professor Reinhard Schramm, dem Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde, über seine Geschichte und das bevorstehende Themenjahr.
B(eth) ist der erste von 304.805 Buchstaben der gerade in Berlin per Hand auf Pergament geschriebenen neuen Tora für die Jüdische Landesgemeinde Thüringens. Denn das erste Wort in der hebräischen Bibel lautet Bereshit und bedeutet „im Anfang“. Übergeben wird die Tora-Rolle im September 2021 zum Ende des Themenjahres „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“. Mit dem Geschenk wollen die Evangelische Kirche Mitteldeutschland und das Bistum Erfurt ein Zeichen für die enge Verbundenheit von Juden und Christen setzen.
Wir sind an diesem sommerlichen Tag Ende August zu Gast in der Erfurter Synagoge am Max-Cars-Platz, dem zentralen Gotteshaus der um die 700 Mitglieder zählenden Jüdischen Landesgemeinde Thüringens. Ihr Vorsitzender, Professor Reinhard Schramm, empfängt uns im Vorgarten der 1952 eingeweihten Synagoge. „Ein Neuanfang für die überlebenden oder zurückkehrenden Juden nach 1945“ nannte der Erfurter Historiker Dr. Steffen Raßloff den Neubau, dessen Vorgänger in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 niedergebrannt wurde.
Reinhard Schramm ist gut gelaunt und braungebrannt nach dem jährlichen Sommerurlaub an der polnischen Ostseeküste. Auf dem Weg in den ersten Stock macht der 75-Jährige Späße mit einer Mitarbeiterin. Für seinen tiefsinnigen Humor ist er schließlich bekannt.
Mit Humor hatte sein Start in das Leben allerdings rein gar nichts zu tun. Am 22. Mai 1944 kommt Reinhard Schramm in Weißenfels zur Welt. Der zweite Weltkrieg tobt, die Nationalsozialisten begehen einen Völkermord an den Juden, dem 6 Millionen Menschen, darunter 1,5 Millionen Kinder, zum Opfer fallen werden. Anfang 1945 müssen sich Reinhard Schramm und seine Mutter verstecken, weil jetzt auch die Juden aus Mischehen – sein Vater ist Christ – in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden. Zwei jüdische Familien gibt es zu diesem Zeitpunkt noch in Weißenfels, vor dem Krieg zählte die Gemeinde 165 Menschen. Nach einer Nacht in einer Dachkammer werden sie am nächsten Tag von einem Ehepaar im Ortsteil Leißling versteckt. Am 13. April befreien die Amerikaner die Stadt. Kurz nach dem Krieg stirbt der Vater, der zwölf Jahre nicht als Lehrer arbeiten durfte und diskriminiert wurde, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau hatte scheiden lassen. Mutter und Sohn sind jetzt allein. Sie sind die einzigen Überlebenden der Familie. Eine geplante Übersiedlung nach Palästina ist aufgrund der unsicheren politischen Lage zu gefährlich. Sie bleiben in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik.
Für die Mutter ist das sozialistische Land der Gegenentwurf zu dem Land, das ihre Familie und ihr Volk auslöschen wollte. Mit ihrem Sohn spricht sie nicht über ihre Konfession und das Geschehene. Erst mit sechs Jahren beim Spielen auf der Straße hört Reinhard Schramm zum ersten Mal in seinem Leben das Wort Jude. „Judenbengel, Judenbengel“, ruft ihm ein Junge hinterher. Die Mutter wiegelt seine Nachfrage ab und sagt, das werde nicht mehr passieren. Sie sollte Recht behalten. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, erinnert er sich. Ihm sei zunächst auch nicht aufgefallen, dass alle anderen Kinder Tanten, Onkel und Brüder haben und von ihren Familienfeiern erzählten. Bei ihnen gab es keine. „Ich war der einzige, der aus Mutters Welt übriggeblieben war.“ Deshalb erzählte sie nichts.
Erst mit zwölf kommt er der eigenen Familiengeschichte auf die Spur. Im Kleiderschrank findet er einen großen Schuhkarton mit Enteignungsschreiben (die Großeltern hatten eine Schuhfabrik), Schreiben der Gestapo und Briefen von Verwandten aus Konzentrationslagern. Die lassen ihn nicht mehr los. „Jetzt merkte ich, dass es nicht normal war, dass nur ich keine Verwandten mehr hatte.“ Die Mutter fängt aber erst an zu reden, als sie 1961 im Fernsehen den Eichmann-Prozess in Israel verfolgt und einen der drei Richter erkennt. Mit Benjamin Halevi, der bereits 1933 nach Palästina floh, besuchte sie in Weißenfels den Religionsunterricht. „Er ist der frechste Schüler gewesen und jetzt ist er Richter im Eichmann-Prozess“, sagte sie damals erstaunt. Der Prozess wühlt Erinnerungen auf. „Die Mutter und die meisten in Deutschland und der ganzen Welt, selbst in Israel, haben erst jetzt verstanden, was in der Nazizeit geschah, was der Holocaust wirklich war!“, erklärt Reinhard Schramm. Er schreibt dem Richter und informiert sich beim ehemaligen Weißenfelser Kantor über die zionistische Geschichte seiner Heimatstadt. Später schreibt er sogar ein Buch darüber. Nach der Auswertung der KZ-Briefe und der Ausführungen der Mutter fühlt er sich plötzlich „sehr verbunden“ mit seiner Familie, „obwohl ich meinen Onkel und die Großmutter nie kennengelernt habe. Ich kann heute noch die traurigsten Sätze aus den Briefen rezitieren. Und ich konnte nachfühlen, was für eine zerstörte Jugend meine Mutter hatte. Zugleich wurde mir klar, dass mein Vater für uns auf seine Karriere verzichtet hatte.“
In der DDR geht er als „überzeugter Sozialist“ seinen Weg: Studium der Elektrotechnik in Danzig, lange Jahre Professor an der Technischen Universität in Ilmenau, Familienvater. Bis zur Wende denkt er, ganz im Gegensatz zu seiner Frau und seinen Kindern, der Sozialismus ließe sich reformieren, menschlicher machen. Getreu dem Spruch von Alexander Dubček, der Leitfigur des Prager Frühlings: „Man muss es nur tun, es können doch nicht nur dumme Sozialisten regieren.“ Der Ausgang ist bekannt.
1988 möchte die Mutter mit fast 80 Jahren plötzlich in die Synagoge nach Erfurt. Nach über 40 Jahren, in denen sie keinen Gebetsraum mehr betreten hatte. „Reinhard, wo war denn Gott?“, hatte sie nach dem Krieg gesagt. Der Schrecken hatte ihr den Glauben genommen. Der Sohn fährt sie nach Erfurt, er betritt die Synagoge ebenfalls zum ersten Mal. Reinhard Schramm engagiert sich fortan in der jüdischen Gemeinde. Als Mitglied, Vorstand, stellvertretender Vorsitzender und seit 2012 als Vorsitzender. „Ich habe mich entwickelt in den Jahren, in denen ich dazu beigetragen habe, jüdisches Leben in Thüringen aufzubauen. In dieser Zeit ist eine Religiosität gewachsen, die zunächst nicht da war. Aus Respekt sind religiöse Gefühle geworden. Die Religion ist ein wichtiges Mittel zur Stärkung unserer jüdischen Gemeinschaft.“
Das am 1. Oktober beginnende Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“ kann und soll auch zur Stärkung der jüdischen Gemeinschaft beitragen.
Herr Schramm, Bereshit – im Anfang – ist das erste Wort in der neuen Tora. Wofür kann das Themenjahr ein neuer Anfang sein?
Ich denke, das Themenjahr dient vor allem dazu, die jüdische Kultur der Bevölkerung sichtbar und hörbar zu machen. Weil es dort, wo das jüdische Leben geschehen ist, keine Juden mehr gibt. Insofern können wir die Vernichtung der jüdischen Kultur nicht rückgängig machen, aber wir können zumindest an sie erinnern. Diese Erinnerung fällt den Menschen aber schwer, weil die Nationalsozialisten in zwölf Jahre alles getan haben, um das, was jüdisches Leben auszeichnet, was die Leistung der Juden ausmacht, auszuradieren. Das ist weitgehend gelungen. Wir wollen jetzt diese Lücke im Wissen der Leute, vor allem in den Städten, wo Juden viele Jahrhunderte friedlich mit ihren Nachbarn gelebt haben, wieder schließen. Denn wenn man versteht, was Juden in Thüringen geleistet haben als normale Bürger dieses Landes, dann wird es sehr schwerfallen, keinen Respekt zu haben. Und es wird noch schwerer fallen, zu akzeptieren, dass das Wort Jude auf Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wird. Das ist für uns völlig unverständlich und schmerzlich.
Im Vordergrund steht also die Besinnung auf das jüdische Leben?
Ja, sie soll helfen, Antisemitismus zu bekämpfen und einzudämmen. Andererseits vergessen wir natürlich nicht, was unsere Familien in Europa für ein Leid ertragen mussten. Aber dies kann und soll nicht im Mittelpunkt des Themenjahres stehen. Das muss der Blick in die Zukunft sein. Bei allen Erinnerungen an die Schrecken müssen wir uns an das jüdische Leben über neun Jahrhunderte erinnern. Nur damit bekommen die Menschen ein Gefühl dafür, was das Judentum darstellt und welch wichtiger Teil der deutschen Kultur jüdisches Leben war und ist. Wenn wir nämlich nur über den Holocaust reden, dann hat Hitler das geschafft, was er wollte. Insofern ist dieses Themenjahr ein wichtiger Anfang, das jüdische Leben in seiner Gänze zu verstehen. Dazu gehört auch das Verhältnis zu den christlichen Kirchen, das aktuell sehr positiv ist. Die Evangelische und Katholische Kirche bemühen sich sehr stark, das Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden weiter zu stärken und zu verbessern.
Dieses Vorhaben beweist unter anderem auch die neue Tora, die ein Geschenk der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands und des Bistums Erfurt ist.
Ja, das ist ein wichtiges Zeichen. Es verkörpert den Respekt, den die christlichen Kirchen dem Alten Testament, der jüdischen Bibel, gewähren. Selbst dieser jüdische Beitrag zum Entstehen des Christentums wurde ja in Frage gestellt. Die neue Tora-Rolle als Symbol des Judentums von den Christen übergeben, das ist eine sehr schöne Geste. Ich hoffe, dass in den christlichen Gemeinden ein großer Impuls davon ausgeht, sich mehr mit dem Judentum zu beschäftigen. Und dies nicht als eine andere Religion, sondern mit ihren Schwestern und Brüdern. Ohne zu vergessen, in welchen Zeiten die Kirchen versagt haben. Das haben sie aber inzwischen selbst analysiert. Wir sind brüderlich verbunden.
Es wird im Themenjahr über 100 Veranstaltungen geben. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich freue mich besonders auf den Austausch mit Leuten in Städten, die früher eng mit dem jüdischen Leben verbunden waren. Dass das wieder in Erinnerung gebracht wird. Damit wird auch ein Stück der Geschichte dieser Städte in den Mittelpunkt gerückt. Andererseits freue ich mich auch, dass wir aufhören, den Holocaust in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das jüdische Leben in großen und kleinen Thüringer Städten. Viele nichtjüdische Zeitzeugen haben sich eingebracht, um über diese Zeit zu berichten und die Geschichte weiterzutragen. Damit wird die Erinnerung an jüdisches Leben wieder zur Normalität. Die Leute sollen wissen, was in ihrer Stadt an Positivem und Negativem passiert ist, sonst denken sie, dass jüdisches Leben bei ihnen nie stattgefunden hat. Das Themenjahr wird von der ganzen Gesellschaft getragen, nicht nur von der jüdischen Gemeinde. Die drei Festivals Achava, Yiddish Summer und die jüdisch-israelischen Kulturtage sind ganz wichtig, um Wissen zu vermitteln und Spaß zu bringen. Wir wollen den Respekt vor jüdischem Leben als Mittel gegen Antisemitismus einsetzen, der sich gerade in Zeiten von wachsendem Nationalismus entwickeln kann. Thüringen tut das. Dafür sind wir sehr dankbar! Genau wie für die Bewerbung Erfurts mit seinem jüdisch-mittelalterlichen Erbe für einen Unesco-Welterbetitel.
Wie blickt die jüdische Landesgemeinde auf das Themenjahr?
Es zeigt unseren Juden: Wir sind hier nicht vom Himmel gefallen, wir sind eine Fortsetzung jüdischen Lebens in Thüringen. Wir sind kein Fremdkörper. Damit verbunden registriere ich ein wachsendes Selbstbewusstsein der hiesigen Juden, die selber merken, dass es hier eine Tradition gibt, die geschätzt wird. Wenn es uns in Erfurt aufgrund der guten Bedingungen mit den demokratischen Parteien, Organisationen und den Kirchen gelingt, beispielsweise auch jüdische Restaurants zu schaffen, jüdische Bildungseinrichtungen, dann kommen vielleicht auch wieder mehr Juden nach Thüringen.
Herr Schramm, vielen Dank für das Gespräch.
Service:
kulturerbe.thueringen-entdecken.de
Das Programmheft zum Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“ ist ab Anfang Oktober online unter kulturerbe.thueringen-entdecken.de bestellbar und „live“ erhältlich in der Erlebniswelt 360Grad Thüringen Digital (Willy-Brandt-Platz 1, Erfurt), bei der Jüdischen Landesgemeinde (Max-Cars-Platz 1, Erfurt) und den Partnern des Themenjahres.
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus