„Das Gemälde ist unser Kind“

Als Werner Tübke, der „Altmeister der Leipziger Schule“, am 16. Oktober 1987 auf dem Schlachtberg von Bad Frankenhausen sein Monumentalgemälde „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ signierte, war Mario Niedan dabei. Der Seehäuser agierte nicht nur drei Jahre lang als einer der beiden persönlichen Fahrer des Meisters. Er war auch dabei, als Margot Honecker am 14. September 1989, neun Wochen vor dem Fall der Mauer, das Panorama Museum mit einem Staatsakt einweihte. Und heute, im 30. Geburtsjahr des größten Gemäldes Mitteleuropas, ist Mario Niedan als Ausstellungs- und Museumstechniker immer noch dabei.

Im Bildsaal ist es noch dunkel, nur die zwei Treppenaufgänge sind beleuchtet. Es ist kurz vor dreizehn Uhr an diesem Montag im Juli. Mario Niedan steht in der Mitte der Rotunde. Das Licht geht an. Ganz langsam erscheinen auf der 123 mal 14 Meter großen und nicht enden wollenden runden Leinwand die Konturen von Landschaften, Himmel, Gegenständen und 3000 historischen Figuren. Die ersten Besucher kommen in den Saal, um sich Werner Tübkes „mittelalterliches Welttheater“, sein Gemälde „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ anzusehen. „Manchmal, wenn ich meinen Moralischen habe“, sagt Mario Niedan nachdenklich, „setze ich mich hier hin und schaue mir das Bild an. Am meisten hat mich immer beeindruckt, wiw Herr Tübke gemalt hat: mit großen, dicken Bürsten. Manchmal ließ er mich auch über die Schulter schauen.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Ich muss mal wieder an einer Führung teilnehmen, um mir alles ganz genau erklären zu lassen. Über die vielen Jahre habe ich doch einiges vergessen.“

 

Vor 34 Jahren, also 1984, Anfang März, steht der gebürtige Seehäuser das erste Mal inmitten des achtzehn Meter hohen zylindrischen Rundbaus mit einem Außendurchmesser von knapp 44 Metern – der 1975 fertig gestellten Betonhülle für das geplante Rundgemälde. Der für dieses einzigartige Kunstprojekt extra freigestellte Rektor der Leipziger Kunsthochschule und weit über die Landesgrenzen der DDR hinaus bekannte und geachtete Maler der berühmten „Leipziger Schule“, Werner Tübke, steht auf dem Gerüst und malt gerade an seiner Interpretation des Jüngsten Gerichtes. Es ist Mario Niedans erster Arbeitstag.

 

Ein paar Wochen zuvor hat er sich als Fahrer für den Herrn Tübke beworben. Der gelernte Landmaschinenschlosser möchte nach seiner NVA-Zeit nicht mehr zurück in den alten Beruf. Aus dem Bekanntenkreis hat er erfahren, dass der Herr Professor Tübke einen persönlichen Fahrer sucht. Und da dereinst schon Vater und Großvater als Berufskraftfahrer tätig waren, bewirbt sich Mario Niedan. Etwas mulmig ist ihm aber dennoch zumute, als er zum Bewerbungsgespräch den Speiseraum des Elefantenklos, wie der Betonbau im Volksmund heißt, betritt. „Ich wusste ja nur, dass Herr Tübke das Panoramabild malt und einen personengebundenen Fahrer braucht, der auch kleinere Botengänge miterledigen soll“, erinnert er sich an seine damaligen Gedanken. Mit Kunst hat er indes nicht viel am Hut. Etwas nervös beginnt Mario Niedan seinen bisherigen Lebensweg zu erzählen. Von Tübke erfährt er, dass dieser in Leipzig wohnt und für Fahrten in Bad Frankenhausen und von sowie nach Leipzig einen Fahrer sucht, der ausschließlich für ihn da ist. Nach einer halben Stunde ist das Gespräch beendet. Der Meister kann sich nicht entscheiden, also wird ein zweiter Termin vereinbart. Drei Wochen später. Dort bekommt der Bad Frankenhäuser dann gesagt, dass er mit seinen 21 Jahren schlichtweg zu jung sei.

 

Mario Niedan ist enttäuscht, doch beim Rausgehen fragt ihn Museums-Direktor Müller, ob er nicht für das Museum als Fahrer arbeiten möchte. Klar möchte er. Die Aufgabenverteilung ist klar: Heinz Georg Barthel und Mario Niedan fahren für das Museum und Rainer Gilbert fungiert als Tübkes persönlicher Fahrer. Dank der Kreisparteischule, die Rainer Gilbert fortan regelmäßig besucht, legt Werner Tübke fest, dass Mario Niedan ihn doch während der Abwesenheit von Gilbert fahren soll. Dem ist das aber gar nicht geheuer, schließlich hatte der Meister ihn ja abgelehnt.

 

Die erste Dienstfahrt geht vom Atelierhaus, in dem Tübke wohnte und das oberhalb vom Residenzhotel auf der sogenannten Hundewiese steht, in das Museum. 7 Uhr ist Abfahrt. Nach der kurzen Fahrt folgt um 7.15 Uhr ein Gespräch im Büro des Direktors, gegen 7.30 Uhr zieht der Maler seinen Kittel an und besteigt das Gerüst, um mit dem Malen zu beginnen. Mario Niedan muss nun eine Thermoskanne mit frischem Kaffee und eine Schüssel Wasser hinauf bringen. Das ist manchmal etwas abenteuerlich, denn zunächst muss er schauen, auf welchen der fünf Gerüst-Etagen der Meister sich gerade befindet. Und dann müssen Kanne und Schüssel noch unfallfrei nach oben bugsiert werden. Und so geschieht es eines Tages: Mario Niedan ist auf dem Weg in die vierte Etage, in zehn Meter Höhe. Plötzlich fängt das Gerüst an zu wackeln und die Thermoskanne fällt in den Malsaal. Zum Glück nicht in Richtung Bild. Im selben Moment kommt Werner Tübke die Treppe hoch, um auf das Gerüst zu gehen. Neben ihm implodiert mit einem riesigen Knall die Thermoskanne. „Das war ein Attentat“, ruft der Künstler mit ernster Stimme, um im gleichen Moment mit Lachen anzufangen. „Er sprach dann immer mal bei bestimmten Anlässen im Spaß davon, dass ihn schon einmal jemand umbringen wollte“, muss Mario Niedan heute noch über diese Anekdote schmunzeln.

Während der Meister malend auf dem Gerüst steht, arbeitet Mario Niedan dessen Einkaufszettel ab. Oder er hilft, das Gerüst zu verschieben, welches einer Mammutaufgabe gleicht. Auf der halben Treppe, die zum Bildsaal führt, steht eine Seilwinde, in der Mitte des Saals eine Umlenkrolle. Die Traversen werden an den Lüftungskanälen eingehangen. Wenn die Seilwinde anzieht, fängt das Gerüst an zu wackeln, die Traverse verschiebt sich. Jedes Mal fallen dabei Steine von den Lüftungskanälen ab, die dann wieder hoch gemauert werden müssen, und zwei Tage zum Trocknen brauchen. Drei Mann sind bei diesen Verschiebaktionen nötig – auch am Wochenende, wenn die Assistenten oder Tübke selbst weiter malen. Einer bedient die Winde und jeweils einer steht rechts und links am Gerüst, um aufzupassen, dass nichts an die Leinwand kommt. Eigentlich soll der Künstler während des Verschiebens nicht auf dem Gerüst sein, aber er will natürlich noch mal auf das gerade Gemalte schauen. Das ist aber eben nicht ganz ungefährlich, weil das ganze Gerüst schwankt. „Wenn es einmal im Laufen war, ging es dann“, erinnert sich Niedan. Dem Meister gefällt dieses Improvisieren überhaupt nicht, er spricht stets von „Hinterwäldler-Technik“. Schließlich wird auf sein Drängen hin ein von einem Elektromotor angetriebenes Chassis eingebaut. Überhaupt setzte sich Tübke dafür ein, dass trotz vorherrschender Mangelwirtschaft „nur die besten Materialien“ auf dem Schlachtberg kamen.

 

Um Punkt 12.30 Uhr ist Mittagspause, der Meister legt sich für gewöhnlich eine halbe Stunde hin. Es kommt aber auch schon mal vor, dass er mit den Mitarbeitern zum Kiosk geht. Das ist aber eher selten. „Er war lieber allein, ging nicht oft aus. Manchmal besuchte ihn seine Frau oder der jüngste Sohn“, erzählt Mario Niedan. An eins, zwei angenommene Einladungen vom Kreisratsvorsitzenden zum Skatspiel erinnert er sich aber doch. „Plötzlich sagte Herr Tübke gegen 22 Uhr ganz erzürnt zu mir: Wir fahren jetzt. Unterwegs klärte er mich auf: Stellen Sie sich vor, die wollten mich bescheißen, ich habe sieben Pfennige verloren“, erinnert sich Niedan. „Ihm ging es nicht um das Geld, aber so etwas konnte er gar nicht leiden.“ Persönlich werden die Gespräche während der Fahrten eher selten, Fahrer und Maler unterhalten sich auch nicht über alltägliche Dinge. Die Gespräche drehen sich um die fortlaufenden Arbeiten rund um das Gemälde oder das Vermeiden von Schlaglöchern. Aber Mario Niedans erste Vaterschaft im Jahr 1987 interessierte den Meister dann aber doch.

 

Um 17.30 Uhr ist Feierabend im Malsaal. Mario Niedan fährt Herrn Tübke zurück in das Atelierhaus. Dann hat der Maler weitergearbeitet, er nannte das „runtermalen“. Am Freitag folgt in der Regel die Heimfahrt nach Leipzig. Oder der Meister bleibt in Bad Frankenhausen, weil er sein Wochenziel nicht erreicht hat. „Dann wurde er schon mal einsilbig und knurrig.“ Das bekamen auch seine fünf Assistenten zu spüren, von denen nur einer bis zum Schluss blieb. Mario Niedan blieb auch. Er war dabei, als Werner Tübke am 11. September 1987 in neunzehn Minuten den letzten weißen Fleck des Monumentalgemäldes füllte: den „Schuh des Schmeichlers“. Er war dabei, als der Meister am 16. Oktober des gleichen Jahres das Gemälde offiziell signierte. Er war dabei, als am 14. September 1989 Margot Honecker, in Vertretung des erkrankten Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, das Panorama Museum offiziell eröffnete. Und er erlebte die unsichere Wendezeit, als das Museum kurz vor der Schließung stand.

 

Werner Tübke arbeitete zu dieser Zeit längst wieder in Leipzig, das Panorama Museum und Mario Niedan blieben auf dem Schlachtberg. Niedan arbeitete nun als Fahrer für Kunstgütertransporte, Material und als eine Art Hausmeister. „Viele sagten, Mensch, du hattest doch einen schön Job, bist den ganzen Tag spazieren gefahren.“ Mario Niedan schüttelt den Kopf, winkt ab. Darüber kann er nicht lachen. Er war ja schließlich nicht nur der Fahrer des Herrn Tübke. „Viele sehen nur das Gemälde, aber nicht die Arbeit dahinter.“ Beschwert hat sich Mario Niedan nie: Nicht über die langen Tage im Museum, nicht über die Wochenenddienste, nicht über die langen Fahr- und Wartezeiten. Aber als er fast nur noch im Museum oder auf der Autobahn unterwegs war, stellte ihm seine Frau vor die Wahl. Er hat die richtige Entscheidung getroffen und das Arbeitspensum reduziert. Seit 2010 heißt seine Stelle Ausstellungs- und Museumstechniker. Niedan bereitet die Sonderausstellungen mit vor, transportiert Bilder, hängt sie auf und ab. Dazu betreut er die Heizungs- und die Klimaanlage. Wenn Not am Mann ist, stellt sich der 55-Jährige auch an die Garderobe. „Es ist spannend, hier zu arbeiten. Das Gemälde ist unser Kind“, sagt Mario Niedan. „Die meisten der heute 17 Mitarbeiter sind seit über 20 Jahren hier, ich bereits seit 34 Jahren. Ich habe den größten Teil meines Lebens hier oben verbracht und bin auch stolz darauf, etwas mit aufgebaut zu haben. Das ist für mich kein normaler Arbeitsplatz, man hat eine persönliche Bindung aufgebaut.“

Und die spürt Mario Niedan nicht nur, wenn er mal wieder in der Mitte des Bildsaals steht und auf das imposante Gemälde schaut.

 

www.panorama-museum.de

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus