Das besondere Leuchten

Denken Sie bei deutscher Industriekultur an Thüringen? Bestimmt nicht. Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff tat es auch nicht, bevor er im Dezember 2014 Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur-, Bundes- und Europaangelegenheiten wurde. Seitdem weiß er aber nur zu gut, dass am Freistaat im Herzen Europas kein Weg vorbei führt, ganz gleich, ob es sich um Themen wie die industrielle Entwicklung, die Entstehung sozialer Bewegungen oder allgemein die kulturellen Entwicklung in Deutschland und Europa handelt.

Deshalb initiierte der Minister das Themenjahr 2018: „Industrialisierung und soziale Bewegungen in Thüringen“. Es erzählt anschaulich an authentischen Orten im Freistaat Geschichten tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen zwischen 1800 und 1918.

TOP THÜRINGEN traf Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff zum Gespräch genau an einem solchen Ort, dem Heizwerk in Erfurt. 

Herr Hoff, wie haben Sie eigentlich als Berliner auf Thüringen geblickt, als Sie noch kein Minister im Freistaat waren?

Ich war 1982 oder 1983 beim Filmfestival Goldener Spatz in Gera zum ersten Mal in Thüringen. Auch wenn man damals formell nicht in Thüringen sondern im Bezirk Gera war. Ehrlich gesagt habe ich mich damals nicht wirklich mit der Stadt beschäftigt. Aber ich werde den Besuch immer mit dem Film „Isabell auf der Treppe“ verbinden. Es ist ein trauriger Film, der die Geschichte eines Mädchens beschreibt, das aus Chile vor dem Pinochet-Regime in die DDR flüchtet. Sie lebt in einer Plattenbausiedlung und wartet jeden Tag auf eine Nachricht von ihrem Vater. Eines Tages erfährt sie, dass er umgebracht wurde. Das war mein erstes aktives Filmerlebnis.

 

Die ursprüngliche Frage war…

wie ich auf Thüringen geblickt habe, ich weiß. Eigentlich gar nicht. Wenn man in Berlin wohnt, hat man nur wenige Informationen über das Land. Ich habe das erste Mal ernsthaft auf Thüringen geblickt, als mich der heutige Ministerpräsident Bodo Ramelow 2009 gebeten hat, seinen Landtagswahlkampf zu unterstützen. Leider verliefen die Sondierungsgespräche nicht erfolgreich und ich bin wieder zurück nach Berlin gegangen. Ich hatte dann aber das Glück, dass mich Bodo Ramelow 2013 wieder um Unterstützung gebeten hat, um es besser zu machen. Und als das geklappt hatte, habe ich mich, wie jeder guter Konvertit, ganz schnell in Thüringen verliebt.

 

Was war das Erste, was Sie in Thüringen bewusst wahrgenommen haben?

Das Licht. Wenn man aus Erfurt rausfährt in Richtung Drei Gleichen, wenn man in Weimar aus dem xxx-Haus rauskommt und über den Vorplatz läuft, dann gibt es so ein ganz besonderes Leuchten. Dazu die vielen unglaublich schönen Blicke von den Schlössern und Burgen. Und wenn man dann noch an die Industriegeschichte denkt, dann merkt man, was es heißt, deutsche Geschichte zu fühlen.

 

Dabei denkt man aber nicht unbedingt als Erstes an Thüringen.

Thüringen ist untrennbar mit Industriegeschichte und sozialen Bewegungen verbunden, insofern denke ich schon daran.

 

Aber die meisten wissen das gar nicht. Sie wussten es auch nicht.

Das stimmt. Zu DDR-Zeiten hat man Thüringen nicht mit Industriegebieten verbunden.

 

Und deshalb haben Sie das Themenjahr 2018: „Industrialisierung und soziale Bewegungen in Thüringen“ ausgerufen?

Die Idee dahinter ist eine doppelte. Auf der einen Seite hat mein Vorgänger Christoph Matschie schon 2012 gesagt, dass es zwischen dem Reformationsjubiläum 2017 und dem Bauhausjubiläum 2019 ein Themenjahr Industrialisierung und soziale Bewegungen geben sollte. Auf der anderen Seite bin ich ja bei der Linken, die historisch gesehen zu einem Teil aus der gemeinsamen Arbeiterbewegungsgeschichte entstammte. Und in einer rot-rot-grünen Landesregierung, in der zwei Parteien historisch zu dieser Arbeiterbewegung gehören, plus einer Partei, die Teil einer neuen sozialen Bewegung ist, machen wir uns in Zeiten der Digitalisierung viele Gedanken über Industrialisierung und soziale Bewegungen.

Wir wollen mit dem Themenjahr zeigen, was Industrie damals und heute bedeutet, was prekäre Lebensverhältnisse damals waren und heute sind. Und außerdem glaube ich, dass wir in Thüringen manchmal dazu neigen, eine Barockisierung unserer Geschichte vorzunehmen. Wir können doch aber auch stolz sein auf die Geschichte der Industrialisierung, die bei uns eben keine Großindustrie hervorbrachte. Sondern die in ihrer Struktur immer sehr von Handwerks-, Manufaktur- und Mittelstandsbetrieben geprägt war. Das ist heute noch umso stärker erkennbar. Wenn neun von zehn Thüringern sagen, dass sie das höchste Vertrauen in Unternehmer im Freistaat haben, dann hat das auch etwas mit der Kleinteiligkeit der Industrie zu tun. Und das man stolz ist auf den Erfindergeist und auf die Global Player, die wir ja auch haben. Insofern gibt es viele Verknüpfungspunkte für so ein Themenjahr.

Warum sollten sich Thüringer und Touristen gleichermaßen die Ausstellungen im ganzen Land ansehen?

Thüringen ist eine schlafende Schönheit. Und wir nutzen alle Möglichkeiten, sie zum Leben zu erwecken und die Leute von Thüringen zu begeistern. Wir wollen mit den Ausstellungen Geschichten erzählen, das ist das Spannende, was ich mit Verknüpfungspunkten meine. Man kann die Landes- und Kulturgeschichte ab der Reformation über das  Wartburgfest 1817, die Weimarer Republik, dem Bauhaus, dem Nationalsozialismus und der DDR als eine Geschichte immer wieder kehrender Brüche erzählen, aus denen heraus die Thüringer aber immer wieder etwas Neues aufgebaut haben. Und wenn das Teil unserer Thüringer DNA ist, aus Brüchen etwas Neues, Kraftvolles, auch durch Ideen von außen, zu entwickeln. Dann haben wir quasi schon die Entwicklungslinie, die uns auch das aktuelle Jahrhundert beschäftigen wird, aufgezeichnet.

 

Könnte denn nicht der nächste einschneidende Bruch sein, dass der Mensch gänzlich aus der Industrie 4.0 verschwindet?

Das kennen die Thüringer bereits aus der Nachwendezeit, in der die Automatisierung nach einem De-Industrialisierungsbruch einsetzte. Heute geht es doch darum, wie wir unter den Rahmenbedingungen der Digitalisierung neue Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsverhältnisse generieren. Wenn der Regierende Bürgermeister von Berlin jetzt ein solidarisches Grundeinkommen vorschlägt, greift das im Prinzip eine Frage auf, die Hannah Arendt und André Gorsk??? sich auf jeweils unterschiedlicher Sichtweise gestellt haben: Was tun wir, wenn wir tätig sind? Und wie ermöglichen wir es Menschen, auch jenseits von Lohnarbeit gesellschaftliche Anerkennung für das zu bekommen, was sie gemeinwohlorientiert für die Gesellschaft leisten? Das ist die solidarische Gesellschaftsfrage des 21. Jahrhunderts. Wir in der Landesregierung sind dabei, sie zu beantworten.

 

Aber soll sich nicht der Staat aus der Wirtschaft heraushalten?

Das ist völlig richtig. Wenn wir das auf der einen Seite sagen, müssen wir auf der anderen aber dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Wir haben lange Zeit gesagt, dass wir vom Bund Mittel für die gemeinwohlorientierten Tätigkeiten haben wollen. Jetzt steht es endlich im Koalitionsvertrag drin. Im Kern heißt das: 1. Wir lassen keinen zurück. 2. Wir schließen keine Schulen auf dem Land, wir sorgen dafür, dass es Daseinsvorsorge in der Fläche gibt. Und wir sorgen in einer alternden Gesellschaft für gemeinwohlorientierte Beschäftigung und schaffen dadurch auch erfolgreiche Integration.

 

Welche Rolle kann die Kultur zur Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme einnehmen?

Die Kultur ist in Thüringen auch Teil der DNA. Wir sind ein Land, das anders als zum Beispiel Sachsen, kein einiges Königreich mit einer Hauptstadt war. Wir waren acht Herzogtümer in wechselnder Konstellation mit über 250 Burgen, Schlössern und Herrenhäusern. Das ist in Stein gewachsene Kulturgeschichte. Gleichzeitig haben wir unglaublich viele Erinnerungen an unterschiedlichste Kulturerlebnisse aus der Residenzkultur, dem Bauhaus, aus der durch die Reformation geprägte Kirchenkultur, und aus einer 40-jährigen DDR-Kulturgeschichte mit Künstlern, die im mitteldeutschen Raum großen Einfluss hatten. Es gab und gibt auch ein gesellschaftliches Verständnis dafür, dass der Staat in Kultur investiert. Insofern brauchen wir die Kultur gesellschaftlich und auch als Arbeitgeber. Und deshalb ist es gerade in Thüringen, und das sage ich ohne Schmu, eine der schönsten Aufgaben, Kulturminister zu sein. Das war für mich die schönste Überraschung, zu entdecken, wie toll es ist, in Thüringen dieses Amt auszuüben.

 

Die Themenjahr-Leitausstellung „Erlebnis Industriekultur – Innovatives Thüringen seit 1800“ findet in Pößneck statt. Warum?

Das Prinzip unserer Kulturpolitik heißt dezentrale Konzentration. Wir haben verschiedene Standorte, die jeweils aus sich selbst heraus eine klare Funktionsbeschreibung haben. Die Industriegeschichte Thüringens ist eine, die auch und vor allem im Ost- und Südostthüringer Raum stattfand. In Ostthüringen haben wir klare Beispiele von industrieller Entwicklung, in der aus der Herzogtums-Industrie Manufakturen entstanden sind. Deshalb liegt Pößneck als Standort für die Leitausstellung tatsächlich nah. Die Kommune hat zum Beispiel auch mit ihrem prämierten Konzept für das Museum 642 das städtische Museum quasi neu erfunden. Das muss man unterstützen.

 

Herr Dr. Hoff, vielen Dank für das Gespräch.

 

TOP Service:

www.themenjahr-2018.de

www.industriekultur-thueringen.de

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus