Ein Birkenkreuz für die Freiheit –
Die Geschichte des Bernhard Fey

Grüne, saftige Wiesen, endlose Wälder, Berge und Täler, so weit das Auge reicht. Blauer Himmel. Die Luft riecht nach Sommer. Wunderschöne Rhön. 500 Meter erhebt sich hier das Land zwischen dem hessischen Rasdorf und dem thüringischen Geisa.

Bernhard Fey steht vor einem drei Meter hohen Birkenkreuz und lässt seine Blicke schweifen. Und seine Gedanken. „Genau hier muss es passiert sein.“

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Es ist sternenklar in dieser Nacht zum 24. Dezember 1975. Die Kälte spüren sie nicht, Bernhard Fey und sein Freund. Gegen 19 Uhr sind sie in Weilar (im damaligen Kreis Bad Salzungen) losgelaufen. Stadtlengsfeld, Gehaus, Oechsen sind die nächsten Stationen. Vor Bremen verlassen sie die Straße, um den Kontrollpunkt zu umgehen. Sie befinden sich jetzt in der 5-Kilometer-Sperrzone, in der man sich nur mit Genehmigung aufhalten darf. Ab hier gehen sie querfeldein. Auf einer Lichtung stehen zwei Eichen, zu ihren Füßen ein gemeißeltes Kreuz aus Stein. Die letzte Rast. „Wenn es dich gibt lieber Gott, dann bring uns Glück“, denkt Bernhard Fey. Sie laufen weiter, das Flüsschen Ulster überqueren sie auf einem Baumstamm. Sie reden nicht viel, haben es eilig. Das Ziel ist klar, auch wenn sie es noch nicht sehen, nur erahnen. Als Orientierungspunkt dient eine Lampe an einem LPG-Gebäude vor Geisa. Sie halten sich immer rechts von dem Licht. Geisa lassen sie links liegen. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Dann taucht er auf, am Ende einer Senke, der Zaun. Nach 25 Kilometern Fußmarsch sind sie da. Die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik. Dahinter ist die Freiheit, die Bundesrepublik Deutschland. Dort erhofft sich Bernhard Fey „ein besseres Leben“. Mittlerweile ist der Heilige Abend vier Stunden alt. „An Weihnachten sind die Grenzer vielleicht nicht so aufmerksam.“ Sie überqueren den Kolonnenweg, den Schutzstreifen und die PKW-Sperre. Jetzt sind es noch vier Meter bis zum Zaun. Werkzeug haben sie nicht dabei. Bei einer möglichen Festnahme soll es nicht nach einer geplanten Flucht aussehen. Sie wissen von den Selbstschussanlagen. Die Drähte, die sie auslösen, sind in verschiedenen Höhen angebracht. Keiner will den anderen vorschicken, also gehen sie nebeneinander bis zum letzten, 3,50 Meter hohen, Hindernis, das sie vom westlichen Teil Deutschlands trennt. Mit Stöcken berühren sie die untersten Drähte. Nichts passiert. Dann fassen beide die Drähte an, um zu testen, ob sie Strom führen. Wieder nichts. „Die bluffen“, sagt Bernhard Fey zu seinem Freund. Sie beeilen sich trotzdem, falls es stiller Alarm ist, der die Grenzposten alarmiert. Sie tasten sich höher. Dann plötzlich, ein lauter Knall durchbricht die Stille. Innerhalb einer Sekunde verändert sich alles. Wie ein Blitzeinschlag. Dann wieder unheimliche Stille. Es riecht wie im Chemieunterricht. Magnesium. Im Kopf von Bernhard Fey dreht sich alles, der 19-Jährige liegt auf dem Boden und betrachtet sich selbst. Als wenn er einen anderen Menschen sieht. Schockzustand. „Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt und rief nur: Lauf, lauf, die sind gleich da!“ Sein Freund läuft wieder zurück Richtung Osten.

 

Keine 50 Meter entfernt, auf westdeutscher Seite, beobachtet man den Vorfall im Point Alpha, einem Beobachtungsposten der US Armee. Sie dürfen aber nicht helfen … Ein Militär-Jeep der DDR-Grenztruppen nähert sich, der taghelle Lichtkegel des Scheinwerfers findet Bernhard Fey. Von einem LKW springen Soldaten herunter. Ein Motorrad hält. Aus dem Beiwagen steigt ein Offizier aus und führt die Soldaten zu Bernhard Fey, der „keine Angst“ hat. Im sächsischen Dialekt sagt der Offizier: „Sie bleiben liegen!“ „Du Depp“, denkt Bernhard Fey, „wenn ich aufstehen könnte, wäre ich schon lange weg.“ Dann tragen sie den Grenzverletzer auf die Ladefläche des LKW. Erst als der anfährt und über den Kolonnenweg holpert, spürt er die Schmerzen. Elf Einschüsse einer SM 70 haben ihn hüftabwärts getroffen. Überall ist Blut. Bernhard Fey wird bewusstlos.

Der harte Untergrund lässt ihn aufwachen. Weihnachtsdekoration steht im Zimmer. Soldaten haben Tische zusammengestellt und Bernhard Fey darauf gelegt. Militärärzte untersuchen ihn in einer Kaserne. Anschließend wird der Schwerverletzte ins Krankenhaus nach Vacha gebracht. Das Wachpersonal wechselt alle acht Stunden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag legt man ihm, obwohl er nicht mal laufen kann, Handschellen an. Der nächste Transport. Nach drei Stunden Fahrt schließt sich die Schleuse. Bernhard Fey ist im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig. Nachdem sich sein Gesundheitszustand einigermaßen verbessert hat, wird er in das Stasi-Gefängnis Suhl verlegt. Seine Eltern dürfen ihn nach acht Wochen erstmals besuchen. Am 30. April 1976 wird Bernhard Fey im Kreisgericht Suhl wegen „versuchtem ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall in Tateinheit mit Verletzung der Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze der DDR“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Zusätzlich wird eine Aufenthaltsbeschränkung für den Kreis Bad Salzungen und für alle Grenzkreise der DDR zur BRD und zu Berlin West auf unbegrenzte Dauer verhängt.

Die Strafe hätte geringer ausfallen können, aber Bernhard Fey folgte dem Vorschlag seines Anwaltes nicht, ein psychisches Abhängigkeitsverhältnis zu seinem zwölf Jahre älterem „Mittäter“ vorzutäuschen. Bernhard Fey konnte mit seinem Gewissen nicht vereinbaren zu lügen, und somit zu bewirken, dass sein „Komplize“ noch härter bestraft wird. Zudem ist Bernhard Fey ein Wiederholungstäter. Am 19. November 1971 versuchte er bereits in den Westen zu fliehen. Die Flucht wurde aber verraten und Bernhard Fey und die 15 anderen Jugendlichen beim Betreten des Speergebiets bei Henneberg verhaftet. Ein Jahr und vier Monate lautete das Urteil.

 

Bernhard Fey wächst in Weilar, 15 Kilometer Luftlinie bis zur deutsch-deutschen Grenze, auf. Schon früh stellt er in der Schule und zu Hause Fragen. Unangenehme. Es ärgert ihn, „dass die Ja-Sager immer weiter kommen“. Bernhard Fey merkt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus „Welten liegen“. Seine Eltern verstehen ihn auch nicht. Mit 14 macht er sich das erste Mal Gedanken über eine Flucht in den Westen. Während seiner Lehre zum Betonfacharbeiter überlegt er zusammen mit einem Freund, wie sie es anstellen könnten. Zunächst wollen sie sich mit einer Lochsäge von unten Zutritt in einen Eisenbahnwaggon verschaffen, der Chromflaschen aus dem Kali-Werk in Merkers direkt in den Westen transportiert. Der Plan wird schnell verworfen. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch vom 19. November 1971 beendet Bernhard Fey seine Lehre („Damit ich im Westen bessere Berufschancen habe.“) und denkt sofort an den nächsten Fluchtversuch, der an Heiligabend 1975 ebenfalls scheitert.

 

Seine zweite Haftzeit verbringt Bernhard Fey „in der Politischen“ in Cottbus. Hier sitzen überwiegend Menschen ein, die in den Westen fliehen wollten. Die Wärter provozieren ihn: „Strafgefangener Fey, an ihrem verletzen Fuß machen wir nichts, sonst reißen sie nur wieder aus.“ Die Stasi lässt ihn in Ruhe: „Wir waren doch nur kleine Lichter, wollten doch nur rüber. Die waren für etwas anderes zuständig.“ Bernhard Fey stellt einen Ausreiseantrag, doch er wird ausgelacht: „Wir lassen doch keinen lebenden Beweis rüber.“ Denn offiziell gibt es keine Selbstschussanlagen im Arbeiter- und Bauernstaat.

Kontakt zu seinen Eltern ist nur per Schriftverkehr erlaubt. Viele Briefe werden willkürlich zurückgehalten. Bernhard Fey ist verzweifelt, „warum schreiben sie nicht mehr?“. Einen Monat vor seiner Entlassung am 11. Juni 1977 stirbt sein Großvater. Obwohl es gesetzliche Regelungen gibt, dass er an der Beerdigung hätte teilnehmen können, wird ihm die Nachricht vom Tod seines Opas vorenthalten.

Nach seiner Entlassung wird ihm Bermbach, bei Schmalkalden, als Wohn- und Arbeitsort zugewiesen. Seinen Ausweis bekommt er nicht zurück, nur ein zweiblättriges Ersatzdokument (PM 12). Die Idee, in den Westen zu gehen hat er nicht aufgegeben, ein weiterer Fluchtversuch ist aufgrund seiner Verletzungen aber nahezu unmöglich. Erst als seine Frau schwanger ist, zieht er seinen Ausreiseantrag zurück. Er möchte seine Familie nicht im Stich lassen. Noch einmal rebelliert er, als er „private Gründe“ für seinen vermeintlichen Sinneswandel angibt, „keine politischen“. Diese Genugtuung will er ihnen nicht geben.

Er arbeitet in der Metallbranche, verbirgt seine Schmerzen. Es geht aber nicht, fortan muss er im Sitzen arbeiten. Das wurmt ihn. Nach außen passt er sich an, lebt als „leiser Opportunist“ und baut ein Haus, in dem er noch heute lebt.

 

Am 18. Mai 1989 wird nach mehreren erfolglosen Anträgen seine Aufenthaltsbeschränkung für das Grenzgebiet und Berlin West aufgehoben. Wenige Monate später fällt die Mauer. „Ich habe es zwei Mal versucht, war wohl zu dumm. Jetzt kommt der Westen eben zu mir.“ Am 14. November fährt er zum ersten Mal in den Westen, nach Kassel. Er setzt sich im Stadtinneren auf eine Bank und genießt, im Stillen, nur für sich.

 

Ein halbes Jahr später liest er in der Südthüringer Zeitung einen Artikel über einen gescheiterten Fluchtversuch im Raum Geisa an Weihnachten 1975. Ein Mann sei dabei ums Leben gekommen. Um ihn zu ehren, habe die Junge Union aus Rasdorf damals ein Birkenkreuz aufgestellt. Seitdem treffen sie sich dort einmal im Jahr, zum Gedenken. Bernhard Fey stockt der Atem: „Hat es an dem Tag noch jemand versucht und ist dabei ums Leben gekommen?“ Er beginnt zu recherchieren und findet schließlich heraus, dass es sich um seine Geschichte handelt. Daraufhin meldet er sich bei der Gemeinde Rasdorf und klärt alles auf.

Bernhard Fey steht noch immer vor dem Birkenkreuz, sein Blick geht zum Zaun, der heute ein Mahnmal ist. „Das Kreuz steht für alle, die es versucht haben. Wenn ich draufgegangen wäre, würde das Kreuz auch an mich erinnern.“ Seine Augen schauen ins Leere. Die Narben und der zum Teil steife rechte Fuß zeigen die physischen Folgen des Erlebten, die seelischen lassen sich nur erahnen. Seit vielen Jahren ist er erwerbsunfähig, bezieht eine „Kriegsrente“. Bereuen tut er seine Fluchtversuche indes nicht: „Das ist mein Weg, ich würde mir immer vorwerfen, es nicht versucht zu haben.“ Hass empfinde er nicht für die Grenzsoldaten („Jeder hatte die Möglichkeit, in die Luft zu schießen.“) oder die Stasimitarbeiter, die ihn überwachten und ihm namentlich bekannt sind: „Die müssen selber damit klar kommen.“ Vielmehr überwiegt die Freude, „dass ich es überlebt habe, nicht im Rollstuhl sitze und dass heute Kinder auf dem Todesstreifen spielen“. Das ist für den 53-Jährigen wie „ein innerer Parteitag“. Seit Jahren erzählt er Kindern und Jugendlichen in Zusammenarbeit mit der Point-Alpha-Stiftung von seinen Fluchtversuchen und von einem Staat, der seine Bürger einsperrte und sie gewaltsam daran hinderte, das Land zu verlassen.

 

Zu DDR-Zeiten hat Bernhard Fey nie an die Wiedervereinigung geglaubt, aber „… es macht die Freiheit kostbarer, dass man es anders erlebt hat“. Um ein Haar wäre er für sie gestorben, hier oben zwischen Geisa und Rasdorf. In der wunderschönen Rhön.

 

Fotos: pikarts