Der Bilder-Erzähler aus dem toten Winkel

„Was willst du denn einmal werden?“, fragt der Meister seinen 6-jährigen Schüler. „Maler“. „Lass das mal lieber sein“, erwidert kopfschüttelnd der Meister, „nur einer von Tausend kann davon leben.“ Der Schüler überlegt kurz und sagt: „Das bin ich.“

Carsten Weitzmann hat sein Versprechen eingelöst. Sein Lehrmeister, Thüringens bekanntester Maler Otto Knöpfer – der am 13. März 100 Jahr alt geworden wäre – würde heute stolz sein auf seinen einstigen Zeichenschülern. Und das nicht nur, weil Carsten Weitzmann am 6. Mai seinen 50. Geburtstag feierte. Sondern viel mehr, weil der Erfurter nun seinerseits zu den besten figurativen Malern Thüringens gehört.

TOP traf den Jubilar in seinem Atelier und sprach mit ihm über sein Leben, seine Kunst und vor allem über sein Personal.

weitzmann-foto-2

Das treibt ihn nämlich um, den ganzen Tag, manchmal auch die Nacht. Die Farbtupfer auf seiner Arbeitsjacke sind der Beweis und Carsten Weitzmann bestätigt es, während er an seiner Zigarette zieht. „Ja, ich lebe mit ihnen und muss aufpassen, dass ich mich allen gegenüber demokratisch verhalte und keinen vernachlässige“.

Die Wände in seinem Atelier im Erfurter Norden sind voll mit Geschichten seiner Protagonisten. Gemalt in Öl auf Leinwand. Er arbeitet immer gleichzeitig an 30 bis 50 Bildern. Ist die Ölfarbe trocken, hat die begonnene Geschichte entweder Bestand, wird um- oder nie zu Ende erzählt.

 

Die Protagonisten, Carsten Weitzmann nennt sie sein „Personal“, das sind 20 verschiedene Charaktere. Sie arbeiten aber nicht für ihn, sie sind viel mehr „seine Stellvertreterfiguren, für eine Gesellschaft, wie sie Kunst, Kulturgeschichte und Medien erschaffen haben“, wie es einmal ein Laudator beschrieb. Was sie gerade machen, das könne Carsten Weitzmann gar nicht so recht sagen. Vieles passiere im toten Winkel, der ist eigentlich nicht einsehbar und doch sind er und das was dort passiert real.

Jede Figur steht für einen Aspekt des Lebens. Ihnen kann er alles erzählen. Und in seiner Malerei ist der Künstler „sehr geschwätzig“. Es geht um Beziehungsgeschichten, den Umgang mit Kunst, mit Gewalt. Vieles ist bewusst klischeehaft überzeichnet. Wie die Krankenschwester, die in der Regel ein Engel ist und die Sexualfantasie von uns Männern anregt. Bei Carsten Weitzmann ist sie böse und bringt gelegentlich ihre Liebhaber um die Ecke. Oder El Toro, das männliche Prinzip, der Macho, der aber nicht immer stark sein möchte und sich deshalb auch mal ein Frauenkleid anzieht. Oder der Freund der Schwerkraft, ein Kleinbürger, der alles festnagelt, was er kriegen kann …

„Sie lieben, quälen, betrügen, trösten, lügen, verschwenden ihr Leben … all das, was Menschen für gewöhnlich machen. Es ist wie ein ständig fortlaufender Film, der in meinem Kopf abläuft. Ich denke mir die Geschichten nicht aus, sondern sie fallen mir im wahrsten Sinne des Wortes ein.“ Es geht dem Künstler dabei nicht um Ethik, sondern um das Spiel mit Humor und Klischees. Den moralischen Zeigefinger lässt er aber unten. In seinen Bildern hält er nur das fest, was er vor seinem geistigen Auge sieht.

 

Bilder hatte Carsten Weitzmann schon immer im Kopf. Mit drei Jahren gibt ihm die Mutter Buntstifte und ein weißes Blatt Papier, damit ihm nicht so langweilig ist. So entsteht seine erste Bildergeschichte.

Er flüchtet immer wieder in seine Welt und zeichnet sie. Psychologen begründen das mit der Scheidung der Eltern. Im Kindergarten können sie ihm nichts mehr beibringen. „Ich habe gezeichnet wie jedes andere Kind auch, ich habe nur nicht damit aufgehört“, erklärt er seine Passion.

 

Aufgehört hat er indes aber ganz schnell, an den Arbeiter- und Bauernstaat der DDR zu glauben. Er hat keine Lust auf die Pionierorganisation, die Freie Deutsche Jugend. Er wird Ostpunk und verbaut sich Abitur und Studium. Bei der Musterung für die Nationale Volksarmee wird er für verrückt erklärt. Den Dienstausweis mit dem Eintrag „dauernd dienstuntauglich“ besitzt er noch. Nach diesem Glücksfall ergreift der 17-Jährige einen bürgerlichen Beruf: Restaurationssteinmetz. Nach der Lehre hört er auf und verdingt sich als Nachtpförtner im Erfurter Theater und als Kirchensteuereintreiber in Sondershausen. „Gehen Sie mal im Kommunismus durch die Gegend und fragen die Leute, ob sie nicht Kirchensteuer zahlen wollen“, erinnert er sich an die groteske Situation, die ihm zehn Prozent Provision einbringt. Manche Monate hat er nicht mehr als 150 DDR-Mark eingenommen. 1982 zieht es den jungen Künstler für ein halbes Jahr nach Leipzig. Auf die Straße. Denn auch im Sozialismus gilt: Keine Wohnung, keine Arbeit und umgekehrt.

Er kehrt zurück nach Erfurt, wird Grafiker im Pionierhaus auf dem Petersberg. „Die waren ideologisch nicht verseucht.“ Acht Jahre lang entwirft er Bühnenbilder fürs Kindertheater, malt Teddys, Urkunden … Acht Jahre braucht er auch, um in den Verband der Bildenden Künstler aufgenommen zu werden. Wegen Personalmangels. „Ich habe mich toll gefühlt, konnte in Berlin, Dresden und Leipzig westdeutsche Farben und Pinsel kaufen. Die Stadt war verpflichtet, zwei Bilder pro Jahr zu kaufen. Das war Spielwiese pur.“ Diese existiert aber nur drei Monate. Dann fällt am 9. November 1989 die Mauer. Bereits ein Jahr zuvor war Carsten Weitzmann dabei, als in Erfurt das Neue Forum gegründet wurde. Er wird verhaftet, tagelang verhört. „Das hat aber nichts mit meiner Arbeit zu tun. Er sei zwar ein politisch denkender Mensch, aber kein politischer Künstler.

„Ich habe 28 Jahre in einem totalitären Staat gelebt. Heute ist es zwar besser, aber ich komme mehr und mehr ins Grübeln bei dem, was heute so abläuft.“

Nach der Wende lernt er die soziale Marktwirtschaft kennen, und holt sich die eine oder andere blutige Nase. Bis 1993 arbeitet er freiberuflich als Maler und Grafiker. Dann zieht es ihn in das sich im Aufbruch befindende Berlin. Erfurt wurde ihm zu klein. Zehn Jahre und ein Stipendium des Kulturfonds Berlins später muss er wieder raus, egal wohin. Das laute Berlin ist zu laut geworden. Er landet schließlich, der Mutter und einem Freund, der ihm sein heutiges Atelier vermittelte, sei dank, wieder in seiner Heimatstadt. Die Ruhe tut ihm gut. Heute weiß er, dass er in Erfurt erst so richtig zu sich gekommen ist. Er konzentriert sich auf sich, malt erfolgreich Rasterbilder mit Medienkontext und erhält 2007 trotz nicht vorhandenem akademischen Abschlusses einen Lehrauftrag für Zeichnen an der Universität Erfurt. Später kommt noch ein Zweiter für den Animationsfilm dazu.

 

Im gleichen Jahr kommt auch wieder der Geschichtenerzähler in ihm zum Vorschein. Zu lange hatte er ihn unterdrückt, denn es gehörte sich lange nicht in der bildenden Kunst, narrativ, also erzählend, zu malen. Zu lange hat er sich mit kunstimmanenten Dingen auseinandergesetzt, mit einer Art Überbau beschäftigt. Das wirft er jetzt alles über Bord. Willingshausen sei Dank. In dem Dorf in Mittelhessen verbringt Carsten Weitzmann drei schöpferisch wertvolle Monate, gefördert durch ein Stipendium der Sparkassenstiftung Hessen/Thüringen. Während der Stipendienarbeit „Die Bananenlose Republik oder am Anfang war das Kindsein“, in der er seine Kindheit in der DDR verarbeitet, entsteht die erste Figur seines Personals. Rotkäppchens Tochter. Nach und nach folgen die anderen. Von den Rasterbildern hat er die Nase voll. „Ich bin Geschichtenerzähler, das mache ich jetzt bis an mein Lebensende.“

Dann ist er jetzt mit 50 circa bei der Hälfte angelangt. Ausstellungsmacher würdigen das bisherige Schaffen von Carsten Weitzmann mit Ausstellungen und sogar mit einem Buch. Die Münsteraner Galerie Steinrötter verlegt es in Zusammenarbeit mit drei namhaften Kunstwissenschaftlern.

Wem so viel Ehre zu teil wird, der muss jetzt auch zum Schluss unseres Atelierbesuches bereit sein, bei einer letzten Zigarette, ein kurzes Résumé zu ziehen. „Die 50 hat nichts mit meinem mentalen Alter zu tun, auch wenn der Körper schneller altert. Ich lebe das Leben, was ich immer wollte, auch wenn es keine finanziellen und sozialen Sicherheiten gibt. Auf der anderen Seite lebe ich im totalen Luxus, was Zeit betrifft. Und Gedanken darüber, was Kunst ist und wie sie aussehen muss, mache ich mir schon lange nicht mehr. Ich male für mich, auch wenn es mich natürlich freut, wenn meine Bilder verkauft werden. Am dankbarsten bin ich jedoch für die Unterstützung meiner Familie, ohne die ginge das alles nicht.“

 

Und ohne die seines Personals schon gar nicht.

 

Fotos: Marcel Krummrich