Warum Zweiter werden?

Es ist wahrscheinlich eines der letzten Fotos von „Kenny“ in Deutschland. Der 17-Jährige steht am Abend des 14. Oktobers noch einmal auf seiner Hausstrecke oberhalb von Mattstedt, wo vor 15 Jahren seine Karriere begann. Bevor Ken Roczen am 18. Oktober sein USA-Abenteuer startete, traf TOP den aktuellen Motocross-Weltmeister der MX2-Klasse in seinem Heimatort.

Es ist kurz vor 17 Uhr an diesem 14. Oktober. Das ganze Dorf Mattstedt, unweit von Apolda gelegen, scheint auf den Beinen zu sein. Alle strömen zum Feuerwehrgerätehaus, um ihren „Kenny“ zu empfangen. Der Fanfarenzug spielt, der Bürgermeister, der Landrat, viele Wegbegleiter sind gekommen und warten auf den berühmtesten Sohn der 500-Einwohner-Gemeinde. Um 17.12 Uhr rollt er mit seiner Weltmeister-KTM 250 SX-F vor. Aus den Händen von Bürgermeister Andreas Schuchert erhält Ken Roczen die Ehrenbürgerwürde, als Erster in der 792-jährigen Dorfgeschichte. „Geil, das wird nicht jeder. Ich bin sehr stolz auf mein schönes kleines Dorf.“

Noch mehr hat sich der Mattstedter aber wahrscheinlich über das Geschenk seines Vorgängers gefreut. Der Erfurter Paul Friedrich war es nämlich, der vor 43 Jahren als Letzter Deutscher Motocross-Weltmeister wurde. Zu Ehren seines „würdigen Nachfolgers“ schenkte der 71-Jährige „Kenny“ die DDR-Fahne, mit der er bei seinem letzten Titelrennen durch das Ziel fuhr.

 

„Die Zielflagge als Erster zu durchfahren, das war schon immer Kens großer Traum“, erinnert sich Vater Heiko Klepka, der seinen Sohn in die USA begleiten wird. Er war es auch, der ihn mit gerade einmal zwei Jahren und drei Monaten auf eine Mini-Motocross-Maschine setzte – vorher war er schon ab und zu beim Vater auf der Straße mitgefahren und hat sich am Lenkrad festgehalten. Anfangs lief Heiko Klepka noch neben dem Sohnemann her, um ihn wieder aufzustellen, wenn er einmal umkippte. Ken kann sich daran nicht mehr erinnern, der Vater dafür umso mehr. „Er ist gleich kontrolliert gefahren, hat das Gas nicht hochgejagt. Wenn ich mir heute die Videos ansehe, ist das für mich selbst unvorstellbar.“ Ein paar Wochen später besuchen sie in Rottleben ein Rennen in der Halle. Ken sollte eigentlich mit den anderen Kindern spielen. Aus Spaß sagt Heiko Klepka zu seinem Sohn: „Jetzt ist deine Klasse dran.“ Im selben Augenblick fängt der kleine Ken an zu weinen „wie ein Verrückter.“ Also stellt der Vater zu Hause hinter dem Haus Hütchen auf, die Ken täglich umfährt. Zu Weihnachten 1996 schenken ihn seine Eltern das erste eigene Motorrad, eine 50er LEM. Ein Jahr später, mit drei Jahren, fährt er sein erstes Rennen.

Der Rest ist bekannt: Ken Roczen wird mit zehn Jahren jüngster Deutscher Meister in der 85er-Klasse, mit Zwölf jüngster Vize-Junioren-Europameister und mit Dreizehn jüngster Junioren-Weltmeister aller Zeiten. Bei seinem Debüt bei einem WM-Rennen bei den Männern 2009 wird er als fünfzehnjähriger Vierter und Neunter. Nur fünf Wochen später gewinnt er in Teutschenthal seinen ersten Grand Prix. Seine erste WM-Saison beendet er zudem als Gesamtfünfter. 2010 wird er Vize-Weltmeister und in diesem Jahr folgte die bisherige Krönung. Der 17-jährige Thüringer mit der Startnummer 94, die für sein Geburtsjahr steht, krönt sich am 4. September im Baden-Württembergischen Gaildorf vorzeitig zum Moto-Cross-Weltmeister. Die bisherigen Erfolge sind um so höher einzustufen, wenn man bedenkt, dass beim Motocross die fahrerische Leistung viel wichtiger als das Material ist. Die Maschinen sind technisch weitestgehend auf einem Niveau, übrigens ganz im Gegensatz zur Formel 1. Ken Roczen gilt als offensivster und riskantester Fahrer in der Szene, der sich vor allem bei den bis zu 40 Meter langen Sprüngen Vorteile verschafft. Aber kopflos fährt er deshalb nicht, „Ich denke während der Rennen an nichts, bin immer voll konzentriert.“

Das Erfolgsgeheimnis ist für ihn ganz simpel: „Ich habe es im Blut und kann es halt.“ Die „Schuldigen“ seien seine Eltern Steffi Roczen und Heiko Klepka, „die haben mich einfach nicht mehr vom Motorrad herunterbekommen. Sie sind mein und alles, ihnen habe ich alles zu verdanken.“

Zumindest auf die Mutter muss Ken in Zukunft verzichten, mal abgesehen von Telefonaten. Mit dem WM-Titel endete für ihn ein Lebensabschnitt. Der Neue begann am 18. Oktober mit dem Umzug nach Süd-Kalifornien, wo er zusammen mit dem Vater in der Nähe von San Diego ein Haus bezogen hat. Beim letzten Frühstück zu Hause einen Tag zuvor wurde dem Vater etwas mulmig in der Magengegend: „Das ist schon ein komisches Gefühl, obwohl wir 2010 schon einmal drüben waren. Jetzt wissen wir, dass wir so schnell nicht wieder kommen. Das ist alles Neuland für uns.“ Vor allem die Gefährlichkeit der Super Cross AMA-Serie, die der Sohn ab Januar fahren wird, bereitet dem Vater einige Sorgen. Er wird seinen Sprössling trainieren, für ihn da sein und ihm vor allem den Kopf freihalten. Denn „Super Cross in den USA ist Männersport, Motor Cross in Europa dagegen etwas für Kinder.“ Die Strecken, die vorwiegend auf dem Innenfeld von Footballstadien aufgebaut werden, sind viel enger, haben mehr Kurven und vor allem viel mehr spektakuläre Sprungkombinationen als in Europa. Heiko Klepka wäre froh, „wenn Kenny das nicht machen würde. Aber er will es unbedingt.“

Getreu seinem Lebensmotto „warum Zweiter werden?“ Er weiß, dass seine Sportart in den USA noch gefährlicher ist. Aber er will sich durchsetzen und der beste Fahrer der Welt werden. Und das geht nur in Amerika, wo er seit seinen ersten Auftritten 2010 bereits eine riesige Fangemeinde hat. Dazu reizt es den Thüringer natürlich auch vor 70.000 begeisterten Zuschauern zu fahren. Moto Cross ist in den USA nämlich so beliebt wie Fußball in Deutschland. Und nicht ganz so unerheblich sind auch die besseren Verdienstmöglichkeiten. Die großen Stars verdienen mit lukrativen Werbeverträgen mehrere Millionen Dollar im Jahr. Allein mit dem Sieg in einem einzigen Rennen ist mehr Geld zu verdienen als in einem ganzen Jahr als Profi in Deutschland. So streicht zum Beispiel der Gesamtsieger von drei Supercross-Rennen in Las Vegas eine Million Dollar ein.

 

Die Saison beginnt für Ken Roczen am ersten Januarwochenende im kalifornischen Anaheim. Sein Vertrag läuft zunächst ein Jahr. „Was danach kommt, wird man sehen.“ Und auch, wenn Ken Roczen für immer in den USA bleiben sollte, er wird seine Wurzeln nie vergessen. „Ich weiß, wo ich herkomme und wem ich alles zu verdanken habe.“

 

Foto: Marcel Krummrich