„Jetzt ist alles vorbei!“
Der eine, Dr. Aribert Rothe, war als Stadtjugendpfarrer und einer der Oppositionellen maßgeblich mitbeteiligt an der Friedlichen Revolution im Bezirk Erfurt im Herbst ’89. Der andere, Dr. Steffen Raßloff, erlebte den Fall der Mauer in einer Kaserne der Nationalen Volksarmee und publiziert seit vielen Jahren als Historiker und Mitglied der Historischen Kommission Thüringen zur Stadt- und Landesgeschichte.
TOP THÜRINGEN traf die beiden Zeitzeugen im Ratssitzungssaal des Erfurter Rathauses, wo am 24. Und 25. Oktober 1989 die ersten Dialogveranstaltungen zwischen führenden SED-Stadträten und Oppositionellen stattfanden.
Die Kirchenleute haben sich noch nie an Regeln gehalten“, knurrt Dr. Steffen Raßloff augenzwinkernd, als ich ihn, wie verabredet, an diesem heißen Sommertag um Punkt zehn Uhr vor dem Erfurter Rathaus abhole. Der andere geladene Gesprächspartner, Pfarrer Dr. Aribert Rothe, ist nämlich, nicht wartend, bereits einige Minuten zuvor vorgeprescht, an der Wache vorbei, die Treppen hinauf, schnurstracks in den Ratssitzungssaal. Dort begrüßen sich die beiden wenig später herzlich, man kennt sich. Sofort wird diskutiert, wer genau wo saß beim historischen Rathausdialog am 24. und 25. Oktober 1989 – „dort die Blockparteienfritzen, da der Demokratische Aufbruch (DA), das Neue Forum, hier die Offene Arbeit, Frauen für Veränderung. Nein, die saßen da drüben.“ „Und genau hier saß ich“, zeigt Aribert Rothe auf einen Holzstuhl. Der eine beschreibt die Sitzordnung frei nach seinem Gedächtnis, er war ja dabei, der andere aus schriftlichen Protokollen. „Da vorne saß die rote Rosi“, da sind sie sich einig. Gemeint ist Rosemarie Seibert, die damalige Oberbürgermeisterin und Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Rosi hat am 25. Oktober, dem zweiten Tag des Dialogs zwischen SED-Stadträten und Oppositionellen, Aribert Rothe, den Vertreter des DA, der zu spät kam und an der Eingangstür forsch abgewiesen wurde, heftig am Arm gepackt, reingezerrt und auf den Rathausbalkon geschleift. „Sagen Sie jetzt den Leuten da unten, dass sie nach Hause gehen sollen“, herrschte sie den Jugendpfarrer und Umweltaktivisten an. Auf dem Fischmarkt hatten sich nämlich einige Hundert Menschen versammelt, die vehement darauf drängten, reingelassen zu werden. Aribert Rothe hob die Hände und sagte „Das mache ich nicht, das mache ich nicht.“ Schließlich sollte nicht der Eindruck entstehen, „dass wir Kirchenvertreter etwa alleine mit der SED was ausklüngeln“, erklärt er.
Ich höre den beiden Zeitzeugen gebannt zu, ich war damals 19 Jahre alt. Es entwickelt sich eine rege Unterhaltung zu den Ereignissen des Wendejahres 1989 im Bezirk Erfurt, die ich auch ab und zu moderieren darf.
Begonnen hat die Friedliche Revolution in der DDR für beide, da sind sie sich schon wieder einig, am 7. Mai 1989. Am Tag der Kommunalwahlen.
Steffen Raßloff: Da ging es massiv los. Man ist erstmals mit seinen Forderungen nach draußen gegangen.
Weil die Menschen wussten, dass die Wahlen Betrug waren?
Aribert Rothe: Das wusste man so und so. Jetzt wollte man es endlich auch sagen. Der Kaiser ist nackt!
Warum hat man sich erst bei dieser Wahl getraut und nicht schon vorher?
Aribert Rothe: Nach meiner Theorie hat Gorbatschow dabei eine große Rolle gespielt, beziehungsweise das ZDF, weil die gezeigt haben, wie er mit seiner Nina in die Wahlkabine ging. Man muss sich vorstellen, dass die KPdSU erstmals im Land Wahlkabinen aufstellte. Das hat uns motiviert – nach dem Motto: Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Jetzt nehmen wir das mal ernst. Demokratisierung, das war der Punkt. Wir wollten eine richtige Wahl haben. Alle haben gewusst, dass es in der DDR nur ein Zettel-Zusammenfalten war. Aber jetzt wurde der Betrug nachgewiesen. Erfurt war die einzige Bezirksstadt, in der das numerisch bewiesen wurde. Wir hatten 638 Nein-Stimmen gesammelt und 413 stand im Neuen Deutschland.
Wie haben Sie die Wahlfälschung bewiesen?
Steffen Raßloff: Man durfte in den Wahllokalen zuschauen und mitzählen, das war öffentlich. Die SED hat sich darüber natürlich nicht gefreut. Es war in der DDR vieles nicht verboten, man hatte es nur bis dahin nicht gemacht, weil man wusste, dass es Konsequenzen hat.
Aribert Rothe: Die waren sogar sehr böse, die haben uns an der Tür festgehalten. Ich war mit meiner Tochter am Eingang der Pablo-Neruda-Schule in der Goethestraße, und die Frau, die uns am nächsten saß und Stimmen auszählte, konnte es sich nicht leisten zu bescheißen. Die anderen taten es natürlich. Uns ging es nicht darum, den Wahlbetrug als solchen aufzudecken, sondern zu zeigen, was aus den offiziellen Zahlen dann in Berlin gemacht wurde. Wir haben unser Ergebnis einer katholischen Gruppe aus Frankfurt am Main mitgegeben, die Frankfurter Rundschau hat dann am Montag gedruckt: „In Erfurt ist der Wahlbetrug bewiesen“. Das hatte eine ungeheure Wirkung. Jetzt konnte keiner mehr beschwichtigen und verharmlosen. Die Kirche hat öffentlich Anzeige gegen Unbekannt erstattet wegen Unregelmäßigkeiten bei der Kommunalwahl.
Wie hat die SED darauf reagiert?
Aribert Rothe: Das sei eine Unverschämtheit, Staatsverleumdung.
Steffen Raßloff: Helmut Beuthe, der Stellvertreter von Bürgermeisterin Seibert, verantwortlich für Inneres, ein ehemaliger Grenztruppen-Kommandeur und richtiger Stalinist, sagte: „Das ist eine Diskriminierung und Beleidigung der Wahlvorstände. Es beruht alles auf exakten Niederschriften.“ Intern ist man dagegen vorgegangen. Umso mutiger war es, dass am 18. Mai der Arbeitskreis Solidarische Kirche Thüringen öffentlich erklärte: „In vielen Wahlkreisen liegen konkrete Berichte von Bürgern über konkrete Auszählungsergebnisse vor. Weitreichende Manipulationen des Wahlvorgangs und der Wahlergebnisse sind sehr wahrscheinlich.“ Das hatte es in der Form noch nie gegeben. Damit hat sich die Partei endgültig die Hosen ausgezogen. Sie haben den Betrug bis zum Schluss nicht zugegeben. Damit waren alle Versuche, eine Wende hin zur Demokratisierung des Sozialismus, übrigens ein SED-Begriff, herbeizuführen, erledigt.
„Wende“ ist ein SED-Begriff?
Steffen Raßloff: Ja. Honecker-Nachfolger Egon Krenz hat das ins Spiel gebracht, in Erfurt wurde der Begriff auch von Rosemarie Seibert benutzt: Die Partei habe jetzt die Wende eingeleitet. Ich verwende ihn auch gelegentlich, weil er dann natürlich später positiv aufgegriffen wurde, auch wenn ich dafür von manchen kritisiert werde, Friedliche Revolution sei der richtige Begriff.
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Der Pfarrer Aribert Rothe, Jahrgang ’52, kommt 1984 aus Leipzig, wo er seit 1980 Friedens- und Umweltgruppen unterstützte, nach Erfurt und wird Jugendpfarrer. Er ist schockiert vom Smog in der Stadt, den die Partei übrigens Industrienebel nennt. Zusammen mit seiner Frau gründet er im Jugendzentrum die „Umweltgruppe in der OASE“. Umsetzen konnten sie quasi nichts, aber aufklären, die Wahrheit sagen. Die Szene entwickelt sich ab Mitte der 1980er Jahre durch den Kontakt zu Friedensgruppen immer mehr zur politischen Opposition. Umgestaltung, Perestroika, Glasnost. Sie wollen Transparenz herstellen. Das will die Staatssicherheit (Stasi) auch. Nur meint sie damit etwas anderes als die Oppositionellen. Flächendeckend werden die führenden Köpfe („die Feinde der Republik“) von Inoffiziellen Mitarbeitern überwacht. Auch Aribert Rothe. Er ist im Stasi-Fachjargon ein „klerikal-reaktionärer PUT“. PUT steht für politische Untergrundtätigkeit. Drei dicke Ordner umfasst seine Akte.
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Steffen Raßloff: Politisch-ideologische Diversion war der offizielle Begriff.
Aribert Rothe: Das waren wir alle.
Steffen Raßloff: Wer den Sozialismus untergraben hat, … (lacht)
Aribert Rothe: Das wollten wir überhaupt nicht. Wirklich nicht. Wir wollten ihn verbessern und reformieren. Wir wollten dann eine Parlamentarische Demokratie. Und die deutsche Einheit. Aber nicht sofort. Ich fand auch den 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989 zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas von Helmut Kohl, den ich damals noch nicht mochte, richtig gut. Darin schlug Kohl eine Konföderation über fünf Jahre vor.
Steffen Raßloff: Das war mutig von Helmut Kohl, viele seiner CDU-Granden waren entsetzt. Aber Kohl wollte den Rückenwind des Mauerfalls nutzen, Frankreich und Großbritannien machten dicht, aber Bush war dafür, was im Zweifel wichtiger war. Dann überzeugte er Gorbatschow mit Milliarden.
Aribert Rothe: Alle haben hinterher gesagt, die schnelle Einheit wäre genau der richtige Schritt gewesen. Realpolitisch war es auch richtig, sozialpsychologisch aber war es ein Problem und ist es auch heute noch. Weil der ganze Prozess des Mündigwerdens – Stichwort: aufrechter Gang, wir wachen auf aus dieser feigen Anpassungshaltung in der Diktatur – das war dann alles weg. Erst brüllten alle „Gorbi, hilf!“, dann „Helmut, hilf!“.
Die D-Mark lockte.
Aribert Rothe: Ja, das haben wir sehr bedauert, dass dieser Prozess der Willensbildung und Emanzipation so nicht stattfand. Ich hätte mir einen längeren Prozess gewünscht, mit einer Konföderation, wie wir das im DA auch geplant hatten. Das wäre es gewesen. Aber es wollten alle die D-Mark.
Steffen Raßloff: Ihnen glaube ich das alles, aber die vielen Tausenden, die heute jammern, wollten es doch damals so, sie haben fast alle die CDU gewählt.
Aribert Rothe: Der Demokratische Aufbruch war der Lendenschurz, damit hatte das auch einen revolutionären Touch. Das erste Mal, dass ein Transparent mit der Aufschrift „Deutschland einig Vaterland“ hochgehalten wurde, war erst Ende November bei einer Demonstration in Leipzig.
Steffen Raßloff: Skandiert wurde es nach dem 9. November schon das eine oder andere Mal.
Wo hatte die Revolution, die später ihre Kinder fraß, ihren Ursprung?
Steffen Raßloff: Das ist unter Historikern und in der Öffentlichkeit umstritten. Die einen sagen, im Grunde war es eine evangelische Revolution.
Aribert Rothe: Eine protestantische Revolution.
Steffen Raßloff: Gut. Andere sagen, das wird überschätzt. Aber gerade, wenn wir von Erfurt reden: das Neue Forum, Demokratischer Aufbruch, Offene Arbeit … Aus diesen Kreisen sind die Bürgerbewegungen entstanden, dazu kamen dann natürlich auch viele nichtkirchliche Leute. Bis Ende Oktober ’89, bis zu den Rathausdialogen am 24. und 25. Oktober, hat sich das alles in den Kirchen abgespielt. Das vergisst man manchmal im Rückblick. Die Kirche war der einzige autonome Bereich in der DDR, wo man solche Konzepte erarbeiten konnte. Also konnte die Revolution nur aus diesem Bereich kommen. Und Demokratie lernen, Diskussionskultur, auch wenn sie nicht immer ganz demokratisch war, eine Struktur erarbeiten. Leute wie Rothe leiteten diese Runden, weil es niemand anders konnte. In den FDJ-Sitzungen wurde doch nur das beschlossen, was vorher aufgeschrieben worden war.
Die Kirche der DDR hatte also auch einen maßgeblichen Anteil daran, dass die Friedliche Revolution friedlich blieb?
Steffen Raßloff: Sie spielte eine ganz zentrale Rolle in dem friedlichen Wendeprozess. Bis zur Verselbstständigung des Prozesses, der sicher auch bei dem einen oder anderen zu großer Enttäuschung führte. Aber die Kirche hat, das ist für mich im Rückblick ihr ganz großer Verdienst, die revolutionären Kräfte erstmal in ihre Obhut genommen und sie hat den Input für demokratische Prozesse gegeben. Die Herren von der Stasi in ihren Popelinehosen und Bundjäckchen standen drumherum, die waren immer erkennbar in ihrer zivilen Uniform, das war absurd. Rein haben sie sich aber nicht getraut.
Aribert Rothe: Das ist heute ganz schwierig zu vermitteln, was das Tabu der Öffentlichkeit in der Diktatur bedeutet. Alles was draußen war, gehörte quasi dem Staat, der Partei. In der Kirche hat man sich dann immer mehr erlaubt und die Bürgerbewegungen haben sich dort getroffen. Katholische und evangelische Kirche hatten das beschlossen: für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Darauf aufbauend wurden Konzepte entwickelt.
Diese Konzepte wurden dann in den Erfurter Rathausdialogen am 24. und 25. Oktober 1989 diskutiert?
Steffen Raßloff: Die SED-Stadträte kannten das nicht, die waren völlig überfordert, als ihnen ganz normale Menschen gegenübersaßen.
Aribert Rothe: Es gab vorher schon Bürgergespräche mit den Delegierten im Rathaus. Das war alles Firnis. Das Wort „Dialog“ galt schon als revisionistisch. Es gibt keinen ideologischen Dialog! Koexistenz in anderer Hinsicht, aber nicht ideologisch. Das war die SED-Ideologie. Auf einmal hat man in Berlin gesagt, wir müssen Dialog führen.
Aufgrund der massenhaften Ausreisen von DDR-Bürgern?
Aribert Rothe: Auch. Das sollte man nie vergessen, dass die Ausreisebewegung, diejenigen, die uns hier sitzenlassen wollten, dass die daran eine große Aktie hatten. Das muss man zugeben. Bei Rosi Seibert in Erfurt war ein Dialog aber noch lange nicht denkbar. Am 7. Oktober, am 40. Jahrestag der DDR, haben wir aufgrund des großen Andrangs in der Kaufmannskirche am Anger zwei Klagegottesdienste durchgeführt. Die Wasserwerfer standen an der Hauptpost und es wurden drinnen 40 Kerzen ausgepustet. Am 19. Oktober besaßen Studenten die Frechheit, nach dem Friedensgebet mit 200 Leuten mit Kerzen in der Hand einen „Gang der Betroffenheit“ zur Andreaskirche zu machen, eigentlich zur Bezirksverwaltung der Stasi, die gegenüber saß. Das war die erste Donnerstags-Demonstration in Erfurt. Danach kamen immer mehr, Tausende. Um das zu verhindern, hat Rosi dann gesagt, wir machen einen Dialog im Rathaus. Sie wollten ihre Macht retten, dafür war es aber längst zu spät. Wir als Kirchenvertreter hatten eine Verantwortung und haben immer versucht, den Protest in der Kirche zu halten. Aus Angst. Wir dachten, sobald jemand rausgeht, haben die einen Vorwand zu schießen. Deshalb skandierten wir auch immer: Keine Gewalt.
Die Stasi hat Sie großflächig überwacht. Hatten Sie persönlich Angst?
Aribert Rothe: Natürlich, immer. Wir hatten zwar eine freche Zunge, aber trotzdem Angst. In meiner Stasi-Akte stehen viele intime Sachen drin, zum Beispiel fehlte mir eine Tochter. Die waren so dumm, dass die immer wieder abgeschrieben haben vom Vorgängerprotokoll. Es wurde dann sogar gemutmaßt, dass meine dritte gar nicht meine richtige Tochter sei. Ich war OV, „Operativer Vorgang Abt“, Probst Heino Falcke war ZOV, Zentraler Operativer Vorgang, das war das Allerschlimmste, der hatte 70 IMs. Ich hatte auch einen IM im Freundeskreis.
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Steffen Raßloff, Jahrgang ’68, versucht sich als Jugendlicher einzureden, dass der Sozialismus eine tolle Sache ist. Schnell merkt er aber, „so wie die das hier machen, ist das nicht optimal“. Die Eltern sind in der Jungen Gemeinde Erfurts aktiv, die Mutter durfte nicht studieren, der Vater ist über Umwege Ingenieur geworden. „Meine Eltern hätten mich enterbt, wenn ich in die Partei eingetreten wäre.“ Kirchlich ist Steffen Raßloff nicht gebunden. „Ich war ein klassischer 0815-DDR-Bürger.“ Die Friedliche Revolution erlebt er in Brandenburg in einer Kaserne der Nationalen Volksarmee. In Ost-Berlin ist am 7. Oktober der Teufel los, Armeekräfte werden eingesetzt, in Leipzig Truppen zusammengezogen. Keiner wusste, was passieren würde. Steffen Raßloff darf nicht zuhause anrufen und in Briefen nur davon schreiben, wie das Essen schmeckt. An den Reaktionen der Offiziere merkt er, was draußen abgeht. Mit dem 9. November war die Sache durch, das war der Kipppunkt. Die Autorität der Vorgesetzten war dahin. „Diktatur ist zu 80 Prozent Kopfsache, wenn die Masse nicht mehr mitspielt, ist es vorbei. Das hat man spätestens am 9. November gemerkt.“
Der 9. November 1989. Der Tag, an dem die Mauer aufgeht. Um 18.53 Uhr liest ZK-Mitglied Günther Schabowski während einer internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin fälschlicherweise von einem Zettel, den ihm der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz vorher zusteckte, die entscheidenden Worte einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger vor. Auf Nachfrage eines italienischen
Journalisten antwortet Schabowski: „Ich glaube, das gilt unverzüglich, ab sofort.“ Was nicht auf dem Zettel stand.
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Wie haben Sie diese historischen Minuten erlebt?
Steffen Raßloff: Wir saßen in der Kaserne im Fernsehraum und haben es in der Aktuellen Kamera gesehen.
Was haben Sie gefühlt?
Steffen Raßloff: Als Historiker ist man recht sensibel bei solchen Fragen.
Damals waren Sie ja noch keiner.
Steffen Raßloff: Deswegen misstraue ich mir an der Stelle selber. Ich weiß nicht, ob ich die Tragweite in diesem Moment schon begriffen hatte. Dass jetzt sofort alles aufgeht, daran haben wir nicht gedacht.
Aribert Rothe: Wir haben gedacht: Aderlass. Ich moderierte an diesem Abend die Donnerstags-Demonstration auf dem Domplatz.
Mit über 50.000 Menschen.
Aribert Rothe: Meinen Sie wirklich?
Steht im Stasi-Archiv.
Aribert Rothe: Die müssen es ja gewusst haben. Es war ein fürchterlich grauer Tag, es regnete. Ich hatte auf DT64 Gregor Gysis neuen Vorschlag für eine liberale Reiseregelung gehört. Anschließend bin ich nicht zum Friedensgebet, sondern gleich auf den Domplatz gegangen, weil ich viel zu aufgeregt war. Oben auf den Kavaten stand das Mikrofon. Ich moderierte die Redner an. Kurz nach halb acht kam eine junge Frau zu mir und sagte: „Die Mauer geht auf!“. Sie setzte sich in ihrer Stonewashed-Jeans auf den durchnässten Boden, blickte mich an und rief mit zitternder Stimme: „Jetzt ist alles vorbei, jetzt ist alles vorbei!“ Ich war völlig verwirrt, die Mauer geht auf, das kann nicht wahr sein, wer weiß, was sie gehört hat, und warum weint sie, wieso ist alles vorbei?
Was meint sie damit? Wenn das stimmen würde, wäre es doch großartig. Ich habe dann entschieden, dass wir es den Menschen auf dem Domplatz nicht sagen, weil ich es nicht geglaubt habe. Wenn die Frau nicht geweint hätte, hätte ich es vielleicht gesagt. Aber wer weiß, was dann passiert wäre.
Wie haben Erfurts SED-Oberbürgermeisterin Rosemarie Seibert und der Bezirks-Parteisekretär Gerhard Müller auf die Ereignisse des 9. Novembers reagiert?
Steffen Raßloff: Die wurden reagiert. Am 10. November ist Frau Seibert zurückgetreten, einen Tag später Herr Müller. Sehr spät übrigens im Vergleich zu anderen Bezirken. Müller hat bis zum Schluss Durchhalteparolen rausgegeben, der war ein Betonkopf, der von seinen eigenen Leuten zum Rücktritt gedrängt wurde. Beide haben sich in den Bürgerdialogen und parteiintern selbst demontiert. Der Jagdfreund Müller war der klassische Bezirksfürst, der sagte bis zum Schluss: „Wir weichen vor dem Feind nicht zurück“. Da werden einige in der Partei Angst bekommen und darauf gedrängt haben, den schnellstens aus dem Verkehr zu ziehen.
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Das Ende der Friedlichen Revolution ist bekannt: Die Deutsche Einheit wurde am 3. Oktober 1990 vollzogen.
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Wie ordnet der Historiker diese Revolution geschichtlich ein?
Aribert Rothe: Ob es eine war?
Steffen Raßloff: Das ist ja die große Diskussion. Wenn man Revolution, nicht wie bei Lenin, definiert mit einem kompletten
Umsturz einer Staats- und Gesellschaftsverfassung, dann war es natürlich eine. Sie wurde auch aus eigener Kraft gestartet, sie brauchte aber historische Rahmenbedingungen. Das Gegenbeispiel ist der 17. Juni 1953, das war nicht gewaltfrei, da haben die Russen eingegriffen, ’89 nicht. Das war ein ganz entscheidender Umstand. Die DDR war auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, als Satellitenstaat für die Sowjetunion wichtig zu sein. Es waren 380.000 Sowjetsoldaten im Land, in Thüringen zwischen 30.000 und 40.000, die jederzeit hätten eingreifen können. Insofern ist Gorbatschow ab ’85 eine zentrale Figur. Es war auch nicht Egon Krenz, der am 9. Oktober in Leipzig ein Eingreifen verhinderte, sondern die Russen machten ihm das klar: Seht zu, wie ihr klarkommt, mit unseren Panzern könnt ihr nicht rechnen! Es war aber auch eine Revolution, die ihre Ziele am Ende doch nicht ganz erreicht hat.
Eine reformierte DDR?
Steffen Raßloff: Ja, das war der Aufbruch, gelandet sind wir bei der Deutschen Einheit. Was ich völlig in Ordnung finde. Natürlich gab es, wie bei jedem gesellschaftlichen Umbruch, auch eine Menge Verlierer. Trotzdem war es eine gelungene Revolution. Ich kann auch mit dieser Jammermentalität nichts anfangen. Keiner hat es so gut wie wir in Europa, schauen Sie doch nach Ungarn, Polen, nach Tschechien. Und wir arbeiten ja auch noch am Ergebnis. Es ist doch auch nicht alles schiefgelaufen. Wir haben den grünen Pfeil und mittlerweile gibt es auch im Westen Kindergärten (lacht).
Aribert Rothe: Das BRD-System war relativ perfekt, das zu übernehmen, war das Einfachste. Insgesamt gesehen war es auf jeden Fall eine spannende Zeit. Natürlich gefällt es mir überhaupt nicht, wie wir heute „missbraucht“ werden. Wer hätte damals gedacht, dass einmal Rechtspopulisten auftreten würden, die die Leute mit unseren Schlagworten aufwiegeln und mit ihrer „Wende 2.0“ die offene freie Gesellschaft abschaffen wollen?
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Spannend war auch der Dialog zwischen dem Historiker (u.a. Autor der Bücher „Geschichte Thüringens“ und „Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90“) und dem einstigen Oppositionellen, langjährigen Pfarrer und Erziehungswissenschaftler. Beide verließen übrigens gemeinsam das Rathaus ihrer Stadt, die nicht nur wegen ihrer Altstadt zu den schönsten Deutschlands zählt. Das ist auch ein Verdienst der Friedlichen Revolution.
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Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus, Sascha Fromm