Frau Medea muckt auf

Fünf engagierte Frauen initiieren am 4. Dezember 1989 die Besetzung der Erfurter Stasi-Zentrale in der Andreasstraße. Um die Vernichtung von „Volkseigentum“, den Akten, zu verhindern. In vielen Städten der DDR folgen Gleichgesinnte dem Vorbild von Gabriele Stötzer, Claudia Bogenhardt, Tely Büchner, Sabine Fabian und Kerstin Schön. TOP THÜRINGEN traf 30 Jahre später an gleicher Stelle, in der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte, die Künstlerin, Dichterin und Autorin Gabriele Stötzer.

Dieses Licht kennt sie. Als ob es sie ruft in diesen frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1989. Vor ihrer Wohnungstür stehen Sabine Fabian und Kerstin Schön: „Die Stasi verbrennt Akten! Das ist Volkseigentum, das gehört uns, wir müssen heute die Stasi besetzen!“ sagen die Frauen aufgeregt, aber bestimmt. Da sieht Gabriele Stötzer plötzlich ein Licht hinter den beiden Frauen. „Ich bin die Richtige“, weiß sie jetzt. Sie war schließlich 1977 schon drin im Erfurter Stasi-Knast in der Andreasstraße. „Ich werde sie reinführen“, denkt sie in diesem Moment. Die Staatssicherheit hat sie damals nicht brechen können. Und das werden sie auch jetzt nicht schaffen. Für Angst ist keine Zeit. Gabriele Stötzer „funktioniert“.

Gabriele Stötzer, geboren 1953, wächst in Emleben auf, einem Dorf bei Gotha. Die Mutter arbeitet als Hauptbuchhalterin der Gemeinde, der Vater ist Werkzeugmacher und Meister im VEB Stahlverformungswerk Ohrdruf. Nach dem Zehnklassenabschluss beginnt sie 1969 in Erfurt eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin. Parallel zur Arbeit am Institut für Arbeitshygiene holt sie auf der Abendschule das Abitur nach. Ab 1973 folgt ein Studium in den Fächern Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule. Sie begeistert sich für Trotzki und Bakunin, begleitet die Inszenierung der Studentenbühne von „Die Wanze“ von Majakowski, besucht Ausstellungen, Rockkonzerte und Theaterstücke von Brecht und Plenzdorf. Doch am 8. September 1976 wird Gabriele Stötzer vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen der DDR ausgeschlossen. Der Grund: Sie protestierte zuvor gegen die Exmatrikulation des Studenten und Chefs der Studentenbühne Wilfried Linke wegen „revisionistischer Thesen über die widersprüchliche Entwicklung im Sozialismus“. Gut sechs Wochen später, am Abend des 20. November, unterzeichnet die 23-Jährige in Erfurt die Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR. Sie weiß, dass ihre Unterschrift Folgen haben könnte. In Jena wurden bereits mehrere Unterzeichner verhaftet. Am nächsten Tag will sie die Erfurter Namensliste im SED-Hauptsitz in Berlin abgeben. Doch die Stasi ist schneller. Es folgen Verhöre. Ja für Biermann heißt nein für den Sozialismus. Doch Gabriele Stötzer widerruft nicht. „Staatsverleumdung“! Am 6. Januar 1977 folgt die Einlieferung in die Andreasstraße 37: Untersuchungsgefängnis und Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Grauer Trainingsanzug, Zelle 5, zweieinhalb mal dreieinhalb Meter. Nachts leuchtet das gleißende Licht, tagsüber ist das Liegen auf dem Bett verboten. Einschüchterung. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft die Überführung in das Frauengefängnis nach Burg Hoheneck: Verwahrraum Nummer zwei, zusammen mit 33 Frauen. Gabriele Stötzer beschließt zu schreiben. Im Januar 1978 wird sie mit 391,71 DDR-Mark Arbeitslohn nach sieben Monaten Haft entlassen. Eine Ausbürgerung in die BRD lehnt sie ab. Erfurt. Sie ist einsam. Sie schreibt und schreibt. Als Selbstaussage. Der Arbeiter- und Bauernstaat schickt sie in die Schuhfabrik „Talisman“, zur „Bewährung in der sozialistischen Produktion“. Sie kündigt und geht in den Untergrund. 1980 übernimmt sie in einer besetzten Wohnung am Angerbrunnen die private Kunstgalerie „Galerie im Flur“. In zwei anderen besetzten Häusern entstehen Werkstätten für Fotografie, Malerei, Siebdruck, Holzdrechseln, Töpfern, Weben. Hier beginnen die Lesungen, Ausstellungen, entstehen die eigenen Kunstbücher und Super-8-Filme.

„Ich wollte an die Kunst glauben als außerstaatliche Lebensqualität“, erinnert sie sich. Regelmäßig fährt sie in die alternativen Kunstszenen nach Leipzig, Dresden, Ostberlin. 1979 besucht die Nachwuchsautorin die große Christa Wolf in Berlin und zeigt ihr Geschriebenes. Die liest und notiert: „Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen.“

Längst hat die Stasi Gabriele Stötzer wieder im Visier – 20 Spitzel sind auf sie angesetzt! Plötzlich werden Galerien geschlossen, es gibt Auftrittsverbote, Lesungen und Ausstellungen werden verhindert. Die Künstlerin, die gegen die verlogene Geschlechterpolitik des Staates, die männlichen Entwertungs- und Abwehrstrategien in der Kunstszene rebelliert, soll „zersetzt“ und „liquidiert“ werden.

„Die konnten mich aber gar nicht fassen“, sagt sie lachend. Denn da waren ja nicht nur ihre Texte, sondern auch ihre öffentliche Präsenz mit Performances und Objektshows. Da waren ihre politischen Manifeste und Pamphlete, die Auftritte in Punkkellern oder als Gruppe EOG – „Erweiterter Orgasmus“, die provokativ auf den Begriff EOS (Erweiterte Oberschule der DDR) anspielte – in Berlin. Da waren ihre Super-8-Filme und Fotoarbeiten, die ähnlich wie ihre Texte mit Weiblichkeitsklischees spielten und diese attackierten. Und da war 1984 die Mitgründung der Künstlerinnengruppe „Exterra XX“, der einzigem im Land.

„Das System, gegen das wir waren, hat uns zusammengeschweißt, wie die Männer, die gegen uns waren. Wir waren die Anderen.“ Es geht um ästhetische Selbstfindung, um Lust, Trieb und Spiel, um das Aufbrechen von Isolation, um Inszenierung autonomer Weiblichkeit unter der Diktatur. Eine strategische Unterwanderung von gesellschaftlichen und künstlerischen Normen. Kunst gegen die  Uninformiertheit.

Doch damit war im Herbst 1989 Schluss. Die Revolution stand vor der Tür. Aus vier verschiedenen Frauengruppen entstand in Erfurt die politische Bürgerinneninitiative „Frauen für Veränderung“. Und Gabriele Stötzer war dabei eine prägende Figur.

Und jetzt soll sie an diesem 4. Dezember 1989 wieder in die Stasi gehen, um sie zu besetzen, um das Vernichten der Akten zu verhindern? „Klar, dass sie zu mir gekommen sind“, schmunzelt die 66-Jährige, „so verrückt, wie ich denen schien.“ Der Plan von Kerstin Schön und Sabine Fabian überzeugt sie sofort. Die Frauen informieren Tely Büchner und Claudia Bogenhardt sowie viele andere Oppositionelle und Kirchenvertreter. Sie fahren zum Bürgermeister, zum Staatsanwalt, zur SED-Parteileitung, zur Stadtleitung der Stasi, die den Frauen mit sofortiger Verhaftung bei Betreten der Stasi-Zentrale droht. Sie informieren die Medien. Oberstes Gebot: Alles soll friedlich laufen. Beim verdutzten Bürgermeister sagt Gabriele Stötzer: „Die ganze Stadt steht hinter uns.“ Das war gepokert. Dass es stimmte, konnten die Frauen nicht wissen. Längst waren Hunderte Bürger unterwegs zur Andreasstraße, wo bereits ein Müllwagen die Zufahrt versperrte.

„Wir hatten für Angst keine Zeit, wir hatten eine Vision, eine Aufgabe, einen Plan.“ Einfach so reingehen und sagen: „Wir setzen euch heute ab!“, das hätte nicht funktioniert. Als sie aber den verdutzten Stasi-Leuten sagen: „Das ist Volkseigentum, das gehört uns. Ihr habt die Akten über uns angelegt, die wollen wir retten“, hatten diese keine Argumente mehr. Zehn Leute werden zunächst reingelassen – darunter waren einige Stasi-Spitzel, wie sie später erfahren! Etliche Akten waren bereits vernichtet, vieles konnte aber versiegelt und gesichert werden.

Gabriele Stötzer öffnet eine Mappe, darin liegen zerrissene Karteikarten. Sie setzt zwei zerrissene Teile zusammen, in einer Zeile steht: „Inhalt der Plakate: Täter vor Gericht, Tatenlose auch.“ Aus einem Briefumschlag holt sie zahllose Schnipsel: „Das ist mein Schatz“. Ein einzigartiges Zeugnis eines Unrechtsstaates. 13 Jahre lang, von 1976 bis zum Fall der Mauer im November 1989, hat die Staatssicherheit Gabriele Stötzer überwacht, denunziert, eingesperrt. Wie Tausende andere auch.

An diesem 4. Dezember 1989 ging von Erfurt ein Signal aus, in die ganze Republik, in die ganze Welt. Fünf Frauen initiierten die erste friedliche Besetzung einer Stasi-Zentrale. „Wir waren eine Hand, eine Faust – fünf Frauen, eine Kraft“, wie es Kerstin Schön formulierte.

 

EPILOG

Nach dem Mauerfall arbeitet Gabriele Stötzer viele Monate im Erfurter Bürgerrat u.a. an der Stasi-Auflösung mit. Und setzt ihre Arbeit mit Frauen fort. An der Universität Erfurt leitet sie ein Performance-Seminar. 20 Jahre lang schwieg dagegen ihre eigene Kunst – zumindest in der Öffentlichkeit, DDR-Kunst war nicht gefragt. Erst seit 2009 werden ihre Arbeiten national und international gezeigt, u.a. in den Ausstellungsreihen „Re.act Feminismus – Osteuropäische und West-Performance-Künstlerinnen“ und „Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“, in der über 30 osteuropäische Künstlerinnen erstmalig zusammengeführt wurden, um zu zeigen, dass der künstlerische Widerstand immer auch weiblich war.

„The Wende Museum“ in Los Angeles zeigt die Ausstellung noch bis April 2020. Zur Vernissage am 9. November sprach Gabriele Stötzer neben amerikanischen und deutschen Vertretern aus Kultur und Politik.

„Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer“ ist dagegen ein Ausstellungs-, Forschungs- und Vermittlungsprojekt in drei Teilen. Das begehbare Archiv stellt die künstlerische Praxis Stötzers im Kontext der DDR in den 1980er Jahren vor und lädt zu einer aktiven Auseinandersetzung ein. Dazu berichtet sie als Zeitzeugin regelmäßig über den „Fall Gabriele Stötzer“. 2013 erhält sie das Bundesverdienstkreuz aus den Händen von Joachim Gauck, der zu ihr sagt: „Wir waren in Rostock nicht so mutig wie Sie in Erfurt. Wir haben abgewartet, was die Amerikaner und die Russen machen. Ihr seid da reingegangen und habt die Stasi entwaffnet.“

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, Sascha Fromm