Der (spielende) Libero

Eigentlich wollte Simon Gaudenz Fußballprofi werden. Geworden ist er ein international renommierter Dirigent und Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie. Die Experten sind sich einig: „Seine frische, unverbrauchte Herangehensweise vor dem Hintergrund der historischen Aufführungspraxis machen seine Einspielungen und Konzerte zu Entdeckungsreisen. Zugleich schaffen sie einen neuen Zugang zur klassischen Musik.“ TOP THÜRINGEN besuchte den 45-jährigen Schweizer im Jenaer Volkshaus.

„FC Basel!“, antwortet Simon Gaudenz nach kurzer, aber reiflicher Überlegung auf die Frage nach seinem Lieblingsfußballverein, schließlich trägt der Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie „seine“ Heimspiele derzeit im Volkshaus der Saalestadt aus. Und das soll auch noch länger so bleiben, aber dazu später. Zum FC Carl Zeiss hat es der einstige FC-Basel-Dauerkartenbesitzer bisher noch nicht geschafft. Aber von seinem Balkon aus sieht er zumindest das Ernst-Abbe-Sportfeld, und wenn ein Tor fällt, hört er das „sogar bei geschlossenem Fenster“. „Ich gehe jetzt aber einfach mal davon aus, dass in Basel der schönere Fußball gespielt wird, die spielen regelmäßig Champions League“, versucht er sich milde lächelnd zu rechtfertigen.

Wir sitzen im Großen Saal der 1903 mit Mitteln der Carl-Zeiss-Stiftung eröffneten Spielstätte der Jenaer Philharmonie und wollen über Musik, das Orchester, den Chor und die bevorstehende Spielzeit sprechen. Zunächst regiert aber weiter der Ball. Wie im wahren Leben des Simon Gaudenz. Die Liebe zum runden Leder war nämlich zuerst da. Mit seinen Kumpels spielt er in Basel auf Straßen und in Parks. Während der Schulzeit bringt er sogar eine Fußballzeitschrift heraus: „Fußball unter der Lupe“. Berufswunsch mit 16, 17? Na klar, wie wahrscheinlich der von Millionen Anderen auch: „Fußballprofi.“ Er mag Laurent Blanc, der die Equipe Tricolore 1998 als Libero zum WM-Titel führte. Denn Libero spielte Simon Gaudenz auch, und parallel Klavier und Klarinette.

„Der Libero hatte das Spiel vor sich, er hatte die Übersicht und dirigierte seine Mitspieler. Er besaß Führungsqualität. Man kann den Libero durchaus mit dem Dirigenten vergleichen, sein Einfluss auf das Spiel war deutlich größer als der des Trainers.“

In einer Führungsposition hat sich Simon Gaudenz schon immer wohlgefühlt. Da war die bereits erwähnte Fußballzeitschrift, später gründete er eine Rockband und ein Orchester, um eigene Songs beziehungsweise Kompositionen zu spielen. Schnell wurde ihm klar, dass die Rockmusik immer Spaß und Hobby bleiben würde. Die Klassik ist seine Berufung. Als er das erste Mal in einem richtig guten Jugendorchester mitspielt, war sie sofort da:

„Die Liebe zu diesem Orchesterklang ist das, was mich von Anfang an und bis heute so fasziniert und einnimmt. Es rührt mich zu Tränen, wenn ich sehe, wie ein Musiker bei der Sache ist, wie er seine Seele da reingibt. Das Schönste ist für mich als Dirigent die Emotion des Nachhörens nach dem letzten Ton, bevor der Applaus beginnt. Der Moment der Stille ist etwas unglaublich Sinnliches, weil man merkt, alle lauschen noch diesem letzten Klang. Die Stille ist aber auch Teil der Musik, es beginnt und hört mit ihr auf. Sie ist nicht leer, sondern konzentriert und aufgebaut mit Emotionen. Dieses geballte ‚Jetzt kommt der Applaus!‘ Im Zentrum ist aber immer die Musik: Dafür lebe und brenne ich! Die Wirkung ist sekundär, macht das Ganze aber rund.“

Simon Gaudenz studierte Klarinette, Klavier und Komposition in Luzern und Graz. Er gründete als Student ein Kammerensemble, welches heute, also 26 Jahre später, immer noch existiert. Es folgte ein Dirigierstudium in Freiburg und Salzburg. Bereits während seiner Ausbildung wurde er 2004 zum Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter des Collegium Musicum Basel ernannt. Seit dem Gewinn zweier bedeutender Wettbewerbe, darunter 2009 den europaweit höchstdotierten Deutschen Dirigentenpreis, dirigiert er als international gefragter Gastdirigent zahlreiche renommierte Orchester in ganz Europa. 2011 verschlug es ihn zum ersten Mal an die Kernberge, als Gastdirigent der Jenaer Philharmonie.

„Ich wusste, dass es eine Stadt mit einem Orchester ist. Der Name war mir allein schon wegen der optischen Industrie bekannt. Aber wie gut das Orchester war und was für einen Stellenwert es in der Musiklandschaft hat, davon hatte ich keine Ahnung.

Das sollte sich schnell ändern. Nachdem Simon Gaudenz im Frühjahr 2017 noch einmal in Jena als Gast dirigierte, wurde er im Herbst desselben Jahres designierter und ab der Spielzeit 2018 hauptamtlicher Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie mit ihren 80 Musikern und drei Chören.

„Ich habe mich für Jena wegen dem Orchester und den Möglichkeiten, die mir aufgezeigt wurden, entschieden. Das Orchester wollte von mir einen Aufbruch: Mehr Ideen, mehr Internationalität, neue Formate, andere Programme, andere Gastkünstler. Das haben die Verantwortlichen der Stadt und von JenaKultur verstanden und sind den Weg konsequent mitgegangen.“

Der Aufbruch ist gelungen. Simon Gaudenz umschreibt das so: „Wir haben die Relevanz erhöht!“ Der Dirigent geht mit seinen Musikern raus aus dem Konzertsaal. Hin zu den Menschen in der Stadt, mit neuen Formaten. Denn Jahrhunderte lang war ein Orchester selbstverständlich in seinem Konzertsaal und die Leute kamen dorthin. Davon kann man heute aber nicht mehr automatisch ausgehen. Es kamen nur noch die Leute, die immer kommen. Der Schweizer möchte aber auch „die Anderen“ mit der klassischen Musik in Kontakt bringen. So spielen sie im Trafo, im Kassa, bei der Kulturarena. Dort müssen sie nicht unbedingt Mozart und Beethoven spielen, sondern Jazz und neuere, modernere Musik. Und beim Projekt „Klang von Jena“ treffen junge Musiker auf Profis, Politik auf Musik, Sportler auf Musikinstrumente – ein Tag, an dem Schwingungen zu Musik und Geräusche zu Rhythmus werden. Den Takt gibt dabei vor allem die Freude am gemeinsamen Klangerlebnis vor.

„Meine Überzeugung ist, dass Menschen, die gar nichts mit Klassik am Hut haben, für neue und elektronische Musik viel offener und neugieriger sind. Für die besteht nicht diese Voreingenommenheit, dass nur Mozart und Brahms harmonisch und schön und alles andere hässlich ist. Wenn man Menschen begeistern möchte von etwas, was sie zum Teil noch nicht kennen, muss man auf sie zugehen, verführend sein, und nicht nur auf das Vertraute bauen. Deshalb gehen wir auch manchmal direkt in den Saal, ich in die Mitte des Raums, Orchester und Publikum sind gemischt. Die Leute können die Musiker sehen und auch ansprechen. Eine Interaktion. Das Publikum soll zu den Musikern eine Beziehung aufbauen, nicht nur das große Ensemble sehen.“

Und seinen Musikern lässt er dafür den nötigen kreativen Freiraum. Getreu des Gustav-Mahler-Zitates: „Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.“ Simon Gaudenz hat selbst erlebt, „wie motivationshemmend es ist, wenn man überhaupt keinen Spielraum bekommt, sich zu entfalten“. Im Orchester gibt die Komposition bereits sehr viel vor, es steht alles in den Noten, laut und leise. Die größte Herausforderung ist es aber, dass alle Musiker ihre Kreativität bewahren und trotzdem zusammenspielen. „Platz zum Atmen schaffen“, nennt das Simon Gaudenz. Wenn die Musiker nur noch Ausführende sind, höre man das.

Dementsprechend geht der Aufbruch der Jenaer Philharmonie in der bevorstehenden Spielzeit 2019/2020 weiter. Das fängt schon mit dem neuen Programmheft an, welches nicht mehr nur als einfache Infobroschüre daherkommt, die man lediglich einmal aufschlägt, sondern wie ein modernes Magazin, in dem man gern und immer wieder blättert. In Gold und Weiß übrigens – den Farben der „Galaktischen“ von Real Madrid. Und der Spielführer konnte auch eine „Galaktische“ verpflichten. Die französische Weltklassepianistin Lise de la Salle wird Artist in Residence und für fünf Konzerte nach Jena kommen.

„Wir hatten bisher einen Mangel an großen Namen. Ich kenne Lise persönlich, da hilft mir mein Netzwerk natürlich. Wenn der persönliche Kontakt da ist, ist es einfacher, diese Stars zu Konditionen zu verpflichten, die realisierbar sind. Diese Solisten sind für uns natürlich auch wieder ein Türöffner.“

Und die Tür geht weit auf, auch, weil Simon Gaudenz als Gastdirigent sehr gefragt ist und dabei den Namen Jena in die Welt hinausträgt. Mit Lise de la Salle gehen die Philharmoniker zum Beispiel auf Tour in die Schweiz und nach Liechtenstein. Und dank der positiven nationalen Resonanz auf den Mahler-Scartazzini-Zyklus, der in dieser Spielzeit fortgesetzt wird, erhielt das Orchester eine Einladung zu den renommierten Gustav-Mahler-Festwochen 2020 nach Toblach. Ein Ritterschlag!

Das sind für Simon Gaudenz auch die drei Chöre der Jenaer Philharmonie, einzigartig für ein Orchester. Nicht umsonst heißt die neue Spielzeit „! vokal !“ Der Philharmonische Chor feiert sein 50-jähriges Bestehen. Bereits in der vergangenen Spielzeit wurden die Chöre dramaturgisch mehr in die Programme eingebaut. Diese Zusammenarbeit soll ausgebaut werden.

Die mit dem Generalmusikdirektor natürlich auch. Die Transferperiode im Fußball endete am 2. September. Der „Jenaer Libero“ hat seinen Vertrag bis 2024 verlängert. Gut für die Jenaer Philharmonie, gut für Jena, gut für Thüringen. Gut für den Umworbenen? Möchte er nicht einmal Champions League spielen? Der 44-Jährige überlegt.

„Für mich ist das nicht an Häuser oder Orchester gekoppelt. Eine künstlerische Entwicklung ist mir fast wichtiger, als auf einem hohen Niveau zu spielen, das stagniert. Mit dem Jenaer Orchester kann man viele Dinge erreichen, die ich auch mit ganz hochdotierten Orchestern zum Teil nicht erreiche. Das hat mit der Intensität der Zusammenarbeit zu tun, des gegenseitigen Vertrauens. Ich hoffe, wir können einen Klang schaffen, von dem Außenstehende sagen: ‚Das ist der Klang der Jenaer Philharmonie!‘ Zudem verspüre ich in Jena ein wirkliches Interesse an der Stadt, ich habe mich von Anfang offen und willkommen gefühlt. Ich freue mich, Teil dieser Stadt zu sein.“

Und vielleicht schafft es ja Simon Gaudenz auch bis 2024 einmal zu einem Heimspiel des FC Carl Zeiss. Auch wenn eigentlich bereits feststeht, dass der FC Basel auch dann noch den schöneren Fußball spielen wird. Sie, liebe Leser, sollten es sich aber auf keinen Fall in dieser Spielzeit nehmen lassen, zumindest ein Heimspiel der Jenaer Philharmonie zu besuchen. Das ist nämlich fast wie Champions League.

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus