„Polepole“

Tansania – Löwen, Land und Leute

 

Der Himmel glüht über den Wolken und kündigt das Ende des 26. März an. Die letzten Sonnenstrahlen machen sie ein letztes Mal sichtbar. Die schneebedeckte Spitze des heiligen und höchsten Berges Afrikas, des 5895 Meter hohen Kilimanjaros.

Es ist ein atemberaubendes Bild, das mich in meinen Sitz zurücksinken lässt. Ich schlafe ein und lasse die letzten zwei Wochen erlebtes Afrika, erlebtes Tansania Revue passieren.

Kilimanjaro Airport, 14. März, gegen 15 Uhr. Ich betrete nach knapp 20 Stunden Reisezeit, aus der Alten Welt kommend, den schwarzen Kontinent. Die Wiege der Menschheit. Afrika. Tansania. Ich bin müde, die Aufregung hält mich wach. „Polepole“ ruft jemand. Es ist Andrew, ein Mitarbeiter der Meru View Lodge, auf der ich zusammen mit den sieben anderen Mitreisenden die meisten Nächte meiner 14-tägigen Nord-Tansania-Reise verbringen werde.

Auf der 45 Minuten dauernden Fahrt bis zur Lodge bekomme ich einen ersten Eindruck von diesem ostafrikanischen Land. Und von Andrew James Manase. Der 38-jährige zweifache Familienvater gehört dem Stamm der Luo (es gibt ca. 120 Stämme in Tansania) an. Seine Ausbildung machte Andrew in Arusha, der größten Stadt in Nordtansania und Ausgangspunkt der meisten Safaris und Expeditionen zu den Nationalparks und auf den Kilimanjaro. Auf der Lodge ist er mitverantwortlich für Housekeeping, Küche, den Service. Und er begleitet uns Wazungu (Weiße) die ersten Tage durch die benachbarten Wälder und Dörfer. Dabei erklärt uns Andrew auf Englisch Flora und Fauna, dass das Nationalgericht Ugali (Maisbrei) heißt, dass es 20 Sorten Bananen gibt, von denen übrigens einige auch zum Bierbrauen verwendet werden. Wir trinken frischen Kaffee bei einer Bäuerin und erfahren, dass die Menschen hauptsächlich von der Landwirtschaft leben. Fast jeder hat ein kleines Feld, auf dem Kaffee (Die Tansanier trinken aber lieber Tee!), Bananen, Mais und vieles mehr angebaut wird.

Auffallend ist die Freundlichkeit, mit der sich die Menschen begegnen. Immer wenn wir einen Tansanier treffen, bleibt Andrew stehen und unterhält sich mit ihm. Fünf Minuten, zehn Minuten. Für uns Mitteleuropäer ist das ungewöhnlich und grenzt wohl für manchen gar an Zeitverschwendung. „Bevor man bei uns zur Sache kommt“, erklärt Andrew, „wird sich erst einmal über Gott und die Welt unterhalten. Ihr Weißen seid immer so im Stress. Polepole.“ Da war es wieder. Melanie, unsere deutsche Reiseleiterin spricht die Landessprache Kiswahili und klärt uns auf. „Langsam, langsam, immer mit der Ruhe heißt das.“

Selbst zur Ruhe kommt Andrew auf der Lodge aber kaum. Am Abend bewirtet er uns und erklärt dabei die einheimischen, sehr leckeren Speisen. Von seiner Arbeit verspricht er sich viel für Tansania: „Ist ein Gast zufrieden, erzählt er in seiner Heimat davon und dann kommen neue Gäste. Das bringt Arbeitsplätze und Geld in unser Land.“ In seiner Freizeit besucht Andrew, der mit seiner Familie in einem gemieteten Haus lebt, seine Geschwister, arbeitet auf seinem eigenen Grundstück und spielt mit seinen Kindern Jaqueline (8) und James (5). Da ich bei unseren Erkundungsausflügen viele Tansanier in englischen Fußballtrikots gesehen habe, frage ich Andrew nach seinem Lieblingsteam. Er habe keins. Fußball ist ihm schlicht weg „zu aufregend“.

 

Aufregend findet Samuel Millia Molle das Völker verbindende Spiel mit dem runden Leder auch. Und er ist Bayern-Fan, was mich stutzen lässt. Nicht nur, weil wir uns in Longido, im tiefsten Maasai-Land befinden und die Maasai streng nach ihren jahrhundertalten Ritualen leben, sondern weil der FC Bayern einfach nicht zu meinen Lieblingsvereinen zählt. Also „streite“ ich mich mit einem 48-jährigen Maasai, der in der vierstufigen Hierarchie auf der zweithöchsten Ebene angelangt ist, auf dem Weg zu einer heiligen Opferstätte bei 35 Grad im Schatten über die Qualitäten von Klose, Toni & Co. Als dann auch noch Samuels Handy unter seiner Shouka (Umhang) klingelt, wird es mir bewusst: Die Globalisierung ist unaufhaltsam. Mit all ihren Vor- und Nachteilen.

Wie ich dann aus dem ernsteren Teil unseres Gesprächs erfahre, sind es für die Maasai wohl eher Nachteile. Denn in der kargen Gegend hat es seit zweieinhalb Jahren kaum geregnet. Stichwort Klimawandel. Die Wege zu den Wasserlöchern werden immer weiter, das Weideland für die Rinder trocknet aus. Aber die Maasai sind Entbehrungen gewohnt. Die meisten leben nach wie vor in Bomas (Hütten, bestehend aus Kuhdung, Lehm und Holzpfosten). In der Boma (Siedlung) leben alle Frauen und Kinder eines Maasai-Kriegers. Samuels Vater hatte mit acht Frauen 95 Kinder. Dementsprechend hoch war sein Ansehen. Er selber hat nur eine Frau und drei Kinder. Und auch sonst zählt der ausgebildete Tourismus-Guide zu den modernen Maasai. Er wäscht Wäsche und hilft ab und zu seiner Frau im Haushalt. Viel mehr macht der Durchschnittsmann in Deutschland auch nicht, denke ich mir so …

Die Maasai waren früher als ein kriegerischer Stamm gefürchtet, beraubten sie doch andere Stämme ihres Viehs. Weil sie bis heute denken, dass ihr Gott, der auf einem nahe gelegenen Berg leben soll, sie als Herrscher über alle Rinder auf der Welt auserkoren hat. Heute sind die ca. 140.000 in Tansania lebenden Maasai ein friedliches Volk, gelten als Nationalstolz und schmücken zahlreiche Reiseprospekte und Souvenirs. Dazu tragen alle großen Nationalparks im Norden Maasai-Namen: Arusha, Lake Manyara und der von Bernhard Grzimek als achtes Weltwunder titulierte Ngorongoro Krater.

Die Nationalparks sind die großen Schätze Tansanias und locken jedes Jahr Hunderttausende Touristen ins Land. So auch uns, dank des Reiseveranstalters Diamir Erlebnisreisen.

Wir beginnen unsere mehrtägige Safari – im Fachjargon übrigens Game drive genannt – im fast immer grünen und landschaftlich besonders reizvollen Arusha Nationalpark, der nur wenige hundert Meter von der Lodge entfernt beginnt, mit einer Fußpirsch. Nach dem wir uns nicht einmal fünfzig Meter vom Parkplatz entfernt haben, entdecken wir bereits das erste Tier. Eine Giraffe knabbert genüsslich am Geäst. „Bis auf zehn Meter könnt ihr rangehen“, macht uns der Ranger Mut. Ich versuche, um eine bessere Kameraposition zu erhaschen, mich seitlich anzuschleichen. Die Giraffe hat uns längst bemerkt. Noch ist der Hunger aber größer als ihr Unbehagen. Das ändert sich, als sie mich auf ihrer linken Flanke entdeckt. Mit Kameras bewaffnete Touristen von zwei Seiten. Das ist ihr zu viel und sie trottet widerwillig von dannen. Schade um die leckeren Blätter.

Bei den nächsten Tieren halte ich die bestehende Distanz von ca. 200 Metern von ganz alleine ein, auch wenn der Ranger meint, dass die Büffel sehr schlecht sehen. Das ist auch der Grund, dass sie die kleinen Schweine in ihrer Nähe dulden. Die lösen nämlich bei drohender Gefahr lauthals Alarm aus und warnen so die Büffel. Unsere Pirsch führt uns weiter über Steppe, Savanne und durch einen Wald. Am Nachmittag geht es im sicheren Jeep mit Ausguck weiter. Vorbei an wunderschönen Landschaften, die wie Filmkulissen wirken, nur natürlicher. Als hätten die Hollywood-Spezialisten eine Leinwand direkt vom Himmel herabgelassen. Wir sehen grasende Giraffen, Zebras, Büffel, Schweine, Hunderte Flamingos und umherschweifende Pavianfamilien. Es ist kein Film, es ist real und einzigartig.

Einzigartig ist auch der größte sichtbare Grabenbruch der Welt, der sich von Syrien bis nach Mosambik auf einer Länge von 6000, einer Breite von 30 bis 100 Kilometern und einer Tiefe von wenigen hundert bis mehreren tausend Metern erstreckt. Und dafür sorgt, dass die afrikanische und arabische Kontinentalplatte pro Jahr bis zu zwei Zentimeter auseinanderdriften. Wir sind im Lake Manyara Nationalpark, der seinen landschaftlichen Reiz durch die gewaltige, nahezu 1000 Meter hohe Flanke der Bruchstufe im Westen und durch das über den See hinaus unermesslich erscheinende weite Land im Osten erhält. Die verschiedenen Landschaften (feuchtes Waldland, Akaziensavanne, Grasland, Galeriewälder) beheimaten eine Vielzahl von Tieren. Paviane, Meerkatzen, Zebras, Impalas, Büffel, Warzenschweine. In den Tümpeln sielen sich Flusspferde. Und der König der Tiere lebt ebenfalls hier. Leibhaftig gesehen haben wir ihn nicht, nur eine cirka zwei Stunden alte Spur. Aber diese Tatzenabdrücke in der roten Savanne wirken auf mich lebhafter als so manch apathischer Löwe bei uns im Zoo. Nicht umsonst haben Tiere im zoologischen Garten eine um ein Drittel geringere Lebenserwartung als ihre Artgenossen in freier Wildbahn. Durchschnittlich, denn so manches Tier unterliegt in Freiheit dem Gesetz des Stärkeren. Nicht so der Löwe, er hat keinen natürlichen Feind, außer dem Menschen.

 

Und nicht einmal den muss er im Ngorongoro Krater, den wir am letzten Tag unserer Game drives erkunden, fürchten. Denn das „Achte Weltwunder“ ist die größte Attraktion Tansanias und wird demzufolge gehütet, gehegt und gepflegt. 250.000 Touristen besuchen jedes Jahr dieses 260 Quadratkilometer große, schüsselförmige Zentrum eines vor cirka 20 Millionen Jahren erloschenen Vulkans. Der soll einmal höher als der Kilimanjaro gewesen sein. Sein nahrhafter Boden schuf einen Garten Eden für Tiere. Gegen sechs Uhr, die aufgehende Sonne lugt über den bis zu 2400 Meter hohen Kraterrand, fahren wir hinein. So stellt man sich das Paradies vor. Der Mensch ist hier nur Gast und stört eigentlich die heile Natur- und Tierwelt des seit 1978 zum Welt-Naturerbe der UNESCO gehörenden Kraters. Die hier zeitweise bis zu 25.000 lebenden Großtieren finden auf dieser vergleichsweise kleinen Fläche alles, was sie zum Leben brauchen: Gras, Bäume, Büsche, Pflanzen, Wasser und Fleisch.

Wir fahren auf der Seneto Descent Road und erblicken, gerade unten angekommen, gleich eine Herde Büffel, die sich anschickt, den Weg zu überqueren. Der Chefbüffel ist aber unsicher und stoppt seine Landsleute. „Es geht schon wieder los“, mag er denken, „die Touris kommen.“ Er mahnt zur Eile und alle folgen ihm. Wir haben es auch eilig, wollen wir doch Löwen sehen. Und die sind meist früh unterwegs und halten dann in der Mittags-, Nachmittags- und Abendsonne Siesta. Keine zwei Minuten später, ich schaue gerade angespannt nach rechts, sehe ich ihn: Den König. Sein Kopf, inklusive prächtiger Mähne, lugt aus dem Gras hervor. Wir bleiben stehen und gehen auf Kameraposition. Er liegt keine drei Meter neben dem Jeep. Auch wenn uns unser Fahrer erzählt, dass bei einem ebenerdigen Zusammentreffen von Löwe und Mensch zu 90 Prozent nichts passiert, denke ich gar nicht erst darüber nach … auszusteigen. Er lässt sich überhaupt nicht von uns stören. Der Jeep ist kein Feind, er riecht nicht nach Verwertbarem und schneller ist er wohl auch. Ein wirklich majestätischer Anblick. Ich habe Tränen in den Augen, ein Moment Glückseligkeit. Ich könnte ihn einfach knuddeln, so lieb sieht er aus. Ja, ja, ich weiß, das ist naiv! Nach fünfminütigem Dauerklicken der Digitalkameras erhebt er sich, ohne sich umzudrehen und geht ganz gemächlich von dannen.

 

Wir fahren weiter, die Sonne steht jetzt komplett über dem Kraterrand und taucht die Ebene in gleißendes Licht. In der Ferne steht ein Nashorn, Knus, Zebras ziehen an uns vorbei. Wo sind die Elefanten? „Die sehen wir im Black Forrest”, tröstet uns der Fahrer. Und tatsächlich, plötzlich steht ein riesiger ausgewachsener Dickhäuter am Waldesrand. Auch ihn stört unsere Anwesenheit nicht. Dennoch haben wir gehörigen Respekt, der sich noch erhöht als unser Reiseleiter Jens zuflüstert: „Kein Blitzlicht und ganz leise sein.“ Er kommt in unsere Richtung und überquert keine fünf Meter hinter unserem Jeep den Weg. Während er dann genüsslich frisst, Elefanten brauchen 250 Kilogramm Pflanzen pro Tag, lässt er uns nie aus seinem rechten Auge entweichen. „Bevor ein Elefant angreift“, versucht uns Jens zu beruhigen, „macht er erst mal richtig Alarm und wackelt mit den Ohren“. Sie bleiben angelegt.

 

Nach sechs Stunden und zahllosen unvergesslichen Eindrücken verlassen wir den Ngorongoro Krater wieder. 13 Uhr schließt der Park. Jetzt haben die Tiere wieder ihre Ruhe. Bis zum nächsten Morgen, sechs Uhr.

Da sind wir schon auf dem Weg zu einer sagenumwobenen Insel. Nicht nur ihrer Piratengeschichten wegen. Auf ihr ist auch einer der berühmtesten Rockstars der Welt geboren: Farrokh (Frederick) Bulsara erblickte 1946 hier das Licht der Welt und erlangte später unter dem Künstlernamen Freddie Mercury als Sänger der Rockgruppe „Queen“ Weltruhm. Na, wissen Sie es? Sansibar: Die schwarze Küste. Oder auf persisch: Wie schön ist die Küste. Hier, 40 Kilometer vor dem tansanischen Festland, leben auf Ostafrikas größtem Inselland (zu dem zwei größere und mehrere kleine Inseln gehören) eine Millionen Menschen verschiedener Herkunft (Afrikaner, Araber, Inder, Chinesen, Europäer) und Religion (90 Prozent Moslems, 6 Prozent Christen, der Rest sind Hindus) friedlich zusammen. Getreu dem Inselmotto: Hakuma Matata – kein Problem. Die Hauptstadt der autonomen aber politisch zu Tansania gehörenden Inselgruppe heißt Stone Town und ist seit 2001 UNESCO Weltkulturerbe. Stone Town hatte Mitte des 19. Jahrhunderts als erste Stadt in Ostafrika – Noch zwei Wochen vor London! – elektrische Straßenlampen, dazu geteerte Straßen, Elektrizität, Telefon. „Das alles“, erklärt uns Reiseleiter Said Ameira Issa, „haben wir dem 3. Sultan zu verdanken“. Viel sieht man heute nicht mehr von dem einstigen Glanz. Nur die reichverzierten Holztüren berichten über ihre einstigen edlen Eigentümer und bessere Zeiten. „Die UNO hat noch kein Geld investiert, weil die politische Lage instabil ist“, erklärt uns Said in nahezu perfektem Deutsch. Der 33-jährige Sansibari lebte von 1986–89 in Leipzig. Sein Vater hat dort studiert. Nach seiner Rückkehr lernte Said am Tourismusinstitut von Stone Town und begann 1992 mit Stadtführungen. Seit 2001 arbeitet er für Diamir. Heute verfolgt der dreifache Vater via Deutscher Welle, was sich in Deutschland tut. Sorgen macht er sich aber um seine Heimat. Er habe Angst, dass Stone Town mit seinen quirligen Gassen, Restaurants und Geschäften irgendwann zerfällt. Die Sansibaris seien zwar sehr stolz auf ihre Autonomie. „Aber“ so Said, „Sansibar schafft es nicht alleine“. Dabei hat die Hauptinsel, die eigentlich Unguja heißt, noch viel mehr zu bieten als Stone Town. Nämlich zahllose Gewürz-Plantagen, in denen man jeden Geruch aus dem heimischen Spezialitätenladen wieder findet – nicht umsonst heißt Sansibar auch die Gewürzinsel. Und einsame Sandstrände, an denen ich die letzten zwei Tage meines ersten und bestimmt nicht letzten Afrika-Aufenthaltes damit verbringe, das türkisfarbene Meer und die Gezeiten zu beobachten.

Ein immer lauter werdendes Stimmenwirrwarr lässt mich langsam aus meinem Traum erwachen: „Ich verpasse meinen Anschlussflug.“ „Den Zug kann ich vergessen“, höre ich aufgeregte Menschen sagen. Was ist passiert? Der Pilot hat soeben bekannt gegeben, dass wir mit zwanzigminütiger Verspätung in Frankfurt landen werden. Ich lehne mich wieder zurück und höre Andrew sagen: „Polepole.“

 

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Fotos: Jens Hirsch