„Die Rolle muss mich persönlich weiterbringen“
Die Thüringerin Sandra Hüller gehört zu den besten Schauspielern Deutschlands – auf der Bühne und vor der Kamera. Deutscher Filmpreis, Silberner Bär, Theaterschauspielerin des Jahres… Für die Hauptrolle im national wie internationalen gefeierten Meisterwerk „Toni Erdmann“ ist sie für den Europäischen Filmpreis nominiert. Für Deutschland geht der Film ins Oscar-Rennen 2017.
TOP THÜRINGEN traf die gebürtige Suhlerin, die in Oberhof und Friedrichroda aufgewachsen ist, in ihrer Wahlheimat Leipzig und sprach mit ihr über einen Zwerg, die Freiheit in der Begrenzung und natürlich über Ines.
Frau Hüller, an welchen Theater- oder Filmprojekten arbeiten Sie aktuell?
Ich muss ehrlich gesagt überlegen, ich bin nämlich derzeit hauptsächlich in der halben Welt mit der Promotion von „Toni Erdmann“ beschäftigt. Und ich habe auch das Gefühl, solange das nicht abgeschlossen ist, habe ich auch gar keinen Platz für etwas anderes. Im nächsten Frühjahr bin ich mit Thomas Stuber verabredet, wir drehen „In den Gängen“ von Clemens Meyer.
Also müssen wir uns auch noch ein bisschen über „Toni Erdmann“ unterhalten?
Ich nehme an, dass hatten Sie vor.
Das stimmt, daran kommt man nicht vorbei. Der Film wird weltweit mit Lob und Preisen geradezu überschüttet. Zudem sind er und Sie für den Europäischen Filmpreis nominiert, und er geht für Deutschland ins Oscar-Rennen um den besten nicht-englischsprachigen Film.
Das wissen wir noch nicht, im Januar bekommen wir Bescheid, ob wir beim Oscar unter die ersten fünf gekommen sind.
Wie sind die Reaktionen auf den Film im Ausland?
Es gibt immer die Frage nach dem deutschen Humor. Aber eigentlich sind die Deutschen genauso überrascht und sagen: Ein deutscher lustiger Film, ha, ha. Wie konnte das passieren?
So richtig lustig ist er aber gar nicht.
Das stimmt, aber Sie haben ja nach der Rezeption gefragt. Man muss glaube ich auch in Ihrem Beruf immer Kategorien finden, damit man Sachen beschreiben kann.
Wir Journalisten haben das ganze deshalb Tragik-Komödie genannt.
Genau.
Was ist es für Sie?
Ein Film. Keine Ahnung, weiß ich nicht. Das habe ich mich auch nie gefragt. Wir haben nie eine Komödie gedreht, wir hatten zwar sehr viel Spaß beim Drehen, aber es war oft auch traurig. Maren Ade (Regisseurin, Anm. d. Red.) hat dann plötzlich gesagt, Oh Gott, ich habe das als Komödie verkauft, jetzt wird das so traurig. Wir müssen das Konzept ändern. Dass alle den Film bei der Premiere in Cannes so lustig fanden, das wussten wir ja vorher nicht.
Wo würden Sie den Film in Ihrer Filmografie…
Das brauchen Sie gar nicht weiter fragen.
Ich wollte gar nicht nach der Wichtigkeit oder einem Ranking fragen, sondern in Bezug auf die Intensität Ihre Arbeit. Sie sollen, wenn Sie eine Rolle angenommen haben, sich 24 Stunden mit ihr auseinandersetzen.
Das stimmt nicht. Unbewusst vielleicht, sie ist anwesend, aber ich sitze nicht herum und denke, wie mache ich das nur. Die Rolle wird einfach in das System eingespeist, oder wie man das nennen will. Ich beschäftige mich damit, mir begegnen dann Sachen, die etwas mit der Rolle zu tun haben. Bei „Toni Erdmann“ war die zwölfmonatige Vorbereitung viel konkreter, weil technischer. Diesen Duktus zu lernen, oder wie man als Unternehmensberaterin mit Druck und Herausforderungen umgeht. Wir hatten so viele Castings, so viele Proben, Besprechungen, Kostümproben. Das habe ich so in der Form noch nicht erlebt.
Der Beruf des Schauspielers ist sicherlich auch herausfordernd und man muss mit Druck umgehen können. Wann haben Sie gespürt, dass es Sie auf die Bühne zieht?
Im Kindergarten haben wir viel Theater gespielt, das fand ich toll. Später im Schultheater und im Studium. Ab da ging es los, dann gab es kein Zurück mehr.
Können Sie sich an Ihre erste Aufführung im Kindergarten erinnern?
Schneewittchen und die sieben Zwerge. Ich war natürlich ein Zwerg.
Warum natürlich?
Mann muss schon noch Luft nach oben haben (lacht).
Sie haben die Rolle des Schneewittchens nicht bekommen?
Stimmt, ich war damals richtig sauer, dass ich die Rolle nicht bekommen habe. Das ist mir danach, glaube ich, nie wieder passiert.
Was fasziniert Sie am Schauspiel?
Im besten Fall gibt es mir sehr viel Energie. Man lernt andere Denkweisen, andere Gefühle, größere Zusammenhänge kennen, mit denen man ansonsten nicht den ganzen Tag zu tun hat. Das gefällt mir. Die Verdichtung, die Intensität des Spielens.
Spüren Sie das auf der Theaterbühne noch intensiver?
Das kommt darauf an. So einen Abend zu spielen ist schon intensiv. Beim Film hat man das jeden Tag, man muss immer auf Punkt sein und auf so viele technische Sachen achten. Beim Theater haben wir sechs Wochen Zeit, uns die Sachen auszudenken und auch zu scheitern. Das finde ich das tolle am Theater, dass der Druck nicht so hoch ist wie beim Film. Obwohl, es gibt auch schon so einen bestimmten Perfektionswillen, der mir zu wider ist, aber da muss man sich eben die richtigen Leute suchen, die davon frei sind.
Ist das Theater die große Liebe, der Film ein Flirt?
Ich bin dem Theater länger verbunden, kenne mich da besser aus. Ich fühle mich wohler in dieser Begrenzung von Zeit und Raum. Es fällt mir leichter, mich im Theater frei zu bewegen. Beim Film wechselt ständig alles: Leute, Orte, Wetterlagen, Zeiten. Da werde ich innerlich fester. Wenn es abgegrenzt ist, werde ich innerlich freier.
Also werden Sie mit dem Theaterspielen niemals aufhören?
Niemals.
Auch wenn immer größere Filmangebote kommen würden, mit guten Drehbüchern, die Sie auch über Seite zehn hinaus lesen?
Jetzt gerade habe ich ein Drehbuch bis zum Ende gelesen. Ich bin mir aber noch gar nicht sicher, ob ich das machen möchte. Der Raum ist einfach noch komplett mit der Promotion von „Toni Erdmann“ besetzt.
Obwohl Sie ja eigentlich mit Öffentlichkeitsarbeit, rotem Teppich und Boulevard so rein gar nichts am Hut haben.
Ja, ich bin da gerade in so eine Zwangslage geraten. Ich kann jetzt nicht sagen, ich mache das nicht, da würde ich viele Leute enttäuschen. Wenn es nur nach mir ginge, würde ich sagen, viel Spaß in Amerika, schickt mir eine Postkarte. Es ist toll, dort mal zu sein, ich habe das jetzt auch ziemlich genossen. Aber der Organisationsaufwand, gerade wenn man Familie hat, ist enorm hoch. Dazu sind die Standards in Amerika nochmal viel höher, das hat mit dem enormen Druck zu tun. Das brauche ich eigentlich nicht.
Das ist ein Widerspruch in sich, dass Sie die Öffentlichkeit meiden aber gleichzeitig für sie spielen.
Ja, das ist ein Paradox. Das Schöne an der Arbeit ist die Auseinandersetzung mit dem Stoff. Aber ich gebe ja nicht alles von mir Preis auf der Bühne oder vor der Kamera. Und wenn, dann verschlüsselt. Bei der Öffentlichkeitsarbeit präsentiere ich mich und mein Äußeres, was das Anstrengendste ist. Ich gebe zu, ich bin naiv, weil ich denke, es müsste auch ohne gehen. Ich könnte auch trainieren, eine Nichtprivate Person zu werden, aber wenn ich Leuten begegne, dann will ich denen auch begegnen. Die Leute würden merken, wenn ich eine Rolle spielen würde. Das wäre langweilig.
Suchen Sie Bestätigung auf der Bühne und vor der Kamera?
Wenn, dann nur vor meiner Familie. Wenn es denen gefällt, dann muss es gut sein. Aber ich weiß auch, wenn etwas hingehauen hat, ich den Kern getroffen habe. Ich merke, wenn ich an der richtigen Stelle gesucht habe. Dann ist es mir auch egal, ob das in der Öffentlichkeit ankommt oder nicht. Es gibt immer ein paar Leute, die verstehen was man macht, und andere eben nicht.
Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Rollen aus, Sie spielen ja keine leichte Kost?
Es muss in der Rolle für mich etwas drin sein, das ich noch nicht kenne. Was ich gerne bearbeiten möchte, und was ich mich auch traue. Im Grunde muss es mich persönlich weiterbringen, das ist eigentlich das einzige Kriterium.
Was hat Sie an der Ines in „Toni Erdmann“ gereizt?
An Ines erst einmal gar nichts, mich hat die Zusammenarbeit mit Maren Ade gereizt. Weil ich ihre Filme liebe und weil ich sie als Person bewundere. Ich wollte sie gern kennenlernen, da hätte sie auch etwas anderes verfilmen können. Nun war es eben „Toni Erdmann“. Ich wusste, dass es ein Brocken wird. Bis ich dann mit Ines warm geworden bin, das hat eine Weile gedauert. Das war auch gut so, weil das ist niemand, mit der man einen Kaffee trinken geht.
Sie hatte wahrscheinlich eine nicht so lustige Kindheit, die Eltern haben sich getrennt, vielleicht hat Ines das nicht gut verkraftet? Vielleicht will der Vater seine Tochter nur aus dem verlogenen Businessleben retten?
Das darf man nicht psychologisieren. Ihr Vater nervt einfach nur, weil er einsam ist und Anschluss haben möchte. Seine Tochter soll seine Probleme lösen, dafür ist sie aber nicht in der Lage und auch nicht zuständig. Es gibt auch nichts zu retten, es läuft gut für sie. Als ihr Vater auftaucht, hat sie gerade Stress. Aber ich glaube, ansonsten hat sie das gut im Griff.
Was hat Sandra Hüller nicht gut im Griff?
Ich? Vieles. Ich habe fast nichts im Griff. Ich zweifele ständig, ich muss richtig trainieren, dass ich das nicht ständig mache.
Sie haben aber schon zwei, drei ganz erfolgreichen Sachen gemacht. Theaterschauspielerin des Jahres, Deutscher Filmpreis, Silberner Bär…
Ach so, Sie meinten beruflich. Ich denke zwischendurch immer mal, es wäre gut, noch etwas anderes zu können. Dann kommt aber wieder etwas Interessantes und dann vergesse ich das wieder. Ich habe immer das Gefühl, ich müsste auch morgen aufhören können, dann fühle ich mich in diesem ganzen Gefüge ein bisschen freier. Wenn man so spielt und sich mit Charakteren und mit Weltsichten beschäftigt, merkt man, es ist eigentlich jede Sicht und Reaktion möglich. Warum wähle ich persönlich jetzt genau die eine aus? Gibt es da nicht noch einen anderen Weg? Wen frage ich? Ich lerne täglich Möglichkeiten kennen, wie man sein Leben leben kann. Das ist toll und gleichzeitig verunsichert es auch.
Sie haben Ihre Heimat 1996 mit 18 Jahren verlassen, gen Berlin zum Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Jetzt leben Sie in Leipzig. Welche Verbindungen haben Sie noch nach Thüringen?
Ich fühle mich Thüringen und den Menschen dort nach wie vor extrem verbunden. Auch wenn ich nicht da bin, das wird für immer meine Heimat sein. Und wenn ich da bin, werde ich mich wohl und zuhause fühlen. Das ist nicht anwesenheitsgebunden.
Wie oft sind Sie zuhause?
Im Moment leider gar nicht. Und wenn, dann besuche ich meinen Vater in Gotha. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht, das muss ich mal wieder tun.
Keine voreiligen Versprechungen. Das liest Ihr Vater!
Er liest alles von mir: hallo Papa!
35 Minuten fährt der ICE von Leipzig nach Erfurt…
Ich wusste gar nicht, dass die Strecke schon fertig ist. Hält der auch in Gotha?
Nein, aber dann sind es nur noch 20 Minuten bis nach Gotha.
Stimmt.
Was machen Sie am liebsten, wenn Sie nicht arbeiten?
Ich kümmere mich um meine Familie, meine Freunde, mache gerne Sport, Handarbeiten. Ich versuche meinen Alltag auf die Reihe zu kriegen, das ist wie bei jedem anderen auch.
Mehr Freizeit werden Sie in Zukunft nicht haben. Seit „Toni Erdmann“ werden die Angebote nicht weniger geworden sein?
Weniger nicht, aber auch nicht mehr. Ich lebe mit der Vorstellung von außen, dass sich mein Leben bald auf krasse Weise verändern wird. Jeden Morgen denke ich, vielleicht ändert sich heute was. Es wird immer an mich herangetragen, dass es jetzt bestimmt so richtig losgehen wird.
Jetzt muss Hollywood anrufen?
Genau.
Sie haben ja noch nicht einmal einen Presseagenten.
Ich brauche das auch nicht, der Rummel legt sich nach dem ganzen Wahnsinn auch wieder. Der hört wieder auf, wie alles andere auch.
Würden Sie denn bei einem entsprechenden Angebot rüber machen in die Traumfabrik?
Nein! Meine Tochter wird nächstes Jahr eingeschult. Ich kann ja dann mal in den Schulferien für eine Woche rüber fahren. Jetzt mal ehrlich. Das Ganze ist absurd, man kann darüber reden, wenn es soweit ist. Natürlich hätte ich Lust, mal einen Film auf Englisch zu drehen. Aber ich kann doch nicht mein Leben von einem auf den anderen Tag auf den Kopf stellen, nur um dort reinzupassen. Schau mer mal. Und eigentlich gibt es hier auch genug zu tun.
Frau Hüller, vielen Dank für das wirklich sehr interessante Gespräch.
Fotos: Marco Fischer