Das Model und die Leinwand

Für Designerlegende Dries van Noten ist er schlicht „eine Ikone“. Seit zwölf Jahren gehört der Eisenacher Paul Boche mit seinem androgynen, kühlen Look zu den gefragtesten Männermodels der Welt. Er war unter anderem das Kampagnen-Gesicht für Kenzo und Hugo Boss. Seit 2012 konzentriert sich Paul Boche mehr und mehr auf die Schauspielerei. Filmkenner erkennen in ihm den jungen Klaus Kinski.

TOP besuchte den 28-Jährigen in seiner Heimatstadt Eisenach an einem ganz besonderen Ort.

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„In Eisenach am Frauenplan liegt, Letzteren schräg querend, dem Bachhaus ein Ladengeschäft gegenüber, das alte Bücher feilhält. Und obgleich es sich im Rücken der düsteren Bach-Statue befindet, muss es sich mit seinen Schätzen doch nicht dahinter verstecken.“ So bewirbt André Reinsch im Internet sein Antiquariat am Bachhaus, das er seit 25 Jahren betreibt. Als er eröffnete, war Paul Boche gerade zwei Jahre alt, als er vier war, begann er dem blonden Jungen das Lesen beizubringen. Später auch das Schachspiel. Immer wenn Paul auf Heimatbesuch weilt, schaut er vorbei.

 

„Wenn ich modele, lese ich auf Reisen“, erzählt Paul sitzend auf einem kleinen Hocker, umgeben von Hunderten Büchern. „Seitdem ich mich mit der Schauspielerei beschäftige, komme ich leider weniger dazu, einfach nur mal ein Buch zu lesen. Jetzt lese ich Theaterstücke, Filmskripts für Castings und eins, zwei Drehbücher pro Woche.“

Wenn der 28-Jährige anfängt, von der Schauspielerei zu reden, will er gar nicht mehr aufhören. Sie sei ein natürlicher Drang, erzählt er gestikulierend. Sie komme von innen heraus, er muss das einfach machen. Wenn man ihn so sieht, kommt man gar nicht umhin, in ihm den jungen Kinski wiederzuerkennen. Ausprobiert hat er schon viele Medien. Aber dieser Spielfluss beim Schauspiel, das hat ihn gepackt. 2012 beginnt er eine Ausbildung am berühmten Lee Strasberg Theater & Filminstitut in New York. Gleich zu Beginn soll er eine improvisierte Szene vorspielen. Er ist aufgeregt, aber er spielt sich in einen Rausch. „Ich hatte danach keine Ahnung mehr, was gerade passiert ist“, erinnert er sich. Von diesem Moment an weiß er: „Das will ich machen.“

 

Im Herbst 2014 spielt Paul Boche den Assistenten eines Ministerpräsidenten in den RBB-Kurzfilm „Mission“, im Spielfilm “Uns geht es gut” von Henri Steinmetz gibt der Jung-Schauspieler außerdem einen Spielsüchtigen und in der Bestseller-Verfilmung „Fucking Berlin“ einen Transvestiten. In diesem Sommer kommt ein Spielfilm von Matthias X. Oberg in die Kinos, in dem Paul, neben Ruby O’Fee, seine erste Hauptrolle spielt. Letztes Jahr hat er in Seattle mit Evan Prosofsky gearbeitet, der bereits Musik-Videos für Paul McCartney, Arcade Fire und Lana Del Rey gedreht hat. Vielleicht geht er auch bald für ein halbes Jahr nach LA, um sich den amerikanischen Akzent „reinzuprügeln“. Den muss man nämlich drauf haben, wenn man dort Erfolg haben will.

 

Erfolg als internationales Top-Model hat Paul Boche seit zwölf Jahren. Designer-Legende Dries van Noten sagt über den Eisenacher: „Paul ist eine Ikone.“ Seit vielen Jahren arbeiten sie zusammen. „Wir haben ein sehr interessantes Verhältnis. Ich höre immer von seinen Mitarbeitern im Atelier, das, wenn er eine Kollektion entwirft, er sich immer die Frage stellt, wie würde das an Paul aussehen? Wenn wir uns sehen, sind wir sehr freundlich zueinander, mit Respekt, distanziert. Das ist ehrlich. Ich bin ein großer Fan von ihm, er ist einer der wenigen Künstler unter den Designern.“

Im Januar 2004 hatte Paul Boche den Namen Dries van Noten noch nie gehört. Er geht in Eisenach in die 10. Klasse und macht gerade in Berlin ein Schülerpraktikum im Umweltschutzverband, tippt Pressetexte ab und kocht Kaffee. Von Mode hat er keinen blassen Schimmer. Er trägt Skaterchic. In einer Mittagspause wird er trotzdem von einer Modeagentin angesprochen. „Sie fragte mich“, erinnert sich Paul scheinbar immer noch verwundert, „ob ich nicht nächste Woche bei der Fashion Week in Paris laufen möchte.“ Verdutzt ruft er seine Eltern an und sieht sich am Nachmittag die Agentur an. An den Wänden sieht er Porträts von Leuten, die er von Werbeplakaten kennt. Am nächsten Tag macht er sein erstes Shooting und zwei Wochen später läuft er in Paris für Prada und Dior. Er verdient sehr schnell sehr viel Geld. „Natürlich ist das Ganze hochinteressant, ich war in der Pubertät und habe meine Grenzen ausgetestet. Es gibt aber keine, wenn du gut im Geschäft bist. Es ist alles ok, was du machst. Das war wie bezahlte Klassenfahrt. Mailand, Seoul für einen Tag, London und wieder zurück nach Mailand innerhalb einer Woche. Party, Frauen. Verrückt.“ Geerdet haben ihn immer wieder die Heimat, seine Familie und Freunde in Thüringen. Die lassen ihn nicht abheben, wie so viele in der Branche, die schnell nach oben kommen.

Paul kommt ganz nach oben. Er ist das Kampagnengesicht von Kenzo und Hugo Boss. Erst mit der Zeit setzt er sich kritisch mit dem Business auseinander. Er hat gemerkt, „das Model ist ersetzbar, der Schauspieler nicht. Das Model ist die Leinwand für jeden anderen, außer für das Model selbst. Man bietet eine Projektionsfläche für Designer, Fotografen, Fans, Zuschauer. Alle glauben zu wissen, wer du bist, deine Seele zu erkennen. Das muss man schützen. Man hat aber keinen Einfluss auf die Projektionen, man ist den Betrachtern ausgeliefert. Bei der Schauspielerei bist du auch die Leinwand, nur bekommst du die Materialien und Farben zum Ausfüllen dieser. Durch Text, Buch und die Arbeit mit dem Regisseur. Aber das endgültige Auftragen machst du mit deinem Spiel selber.“

Die Materialien und Farben für sein eigenes Spiel, das ist eine ständige Suche. Ihn imponieren die Jim-Jarmusch-Filme, er ist ein großer Refn-Fan. Realismus im Film ist ihm wichtig. Independent-, Arthouse- und Autorenfilme. Dort sieht er sich. Er schreibt auch an eigenen Stoffen, Regiearbeit reizt ihn. Er weiß selber noch nicht genau, wo das einmal hinführt. In diesem Jahr möchte er noch einen Kurzfilm umsetzen, den er gerne in und um Eisenach drehen möchte. Und seit anderthalb Jahren arbeitet er an einem Filmprojekt über die High-Fashion-Szene.

Paul Boche wohnt jetzt in Berlin, dem richtigen Ort für die Schauspielerei in Deutschland. Die Wohnung in New York hat er aufgelöst. Weihnachten und Silvester war er zu Hause in Eisenach, das schafft er alle zwei, drei Monate. Aber hier wieder für immer wohnen? „Die Frage sollte eher lauten, kannst du dir vorstellen, dass du jemals wieder irgendwo dauerhaft wohnst? Wenn man einmal anfängt zu reisen, ist das Interesse geweckt, wenn ich derzeit zu lange an einem Ort bin, habe ich das Gefühl, dass es mich erschlägt und ich dann weg muss. Wenn ich irgendwo hinkomme, stelle ich mir immer vor, wie wäre das, hier zu leben? Berlin ist es nicht, das weiß ich, die Stadt ist anstrengend. Eisenach ist immer Heimat, alles andere ist so etwas wie Zweckwohnen.“

 

Durch das viele unterwegs sein, bekommt er aber auch eine andere Sicht auf die Heimat. Die gerade wieder als brauner Sumpf verschrien wird. „Natürlich gibt es in Eisenach eine organisierte Rechte, die es leider bis in den Stadtrat schaffte. In meinem Freundes-, Bekannten- und Familienkreis engagieren sich aber viele Menschen für Flüchtlinge. Trotzdem wird nur von dem braunen Sumpf gesprochen, das regt mich auf.“ Seine Frau Shirin hat gerade als Assistentin der Casting-Direktorin Lisa Stutzke geholfen, ein Projekt zu besetzen, das vom Kleinen Fernsehspiel gefördert wurde. „Ein deutscher Winter“. Es geht um einen Farbigen, dessen Asylantrag in Deutschland abgelehnt wird. Er versteckt sich in einer Studenten-WG. Wie gehen die Studenten mit der Situation um? „Das Buch wurde vor vier Jahren geschrieben. Jetzt bekommt das Thema die Aufmerksamkeit, die es verdient“.

 

Es ist Mittag geworden im Antiquariat, Shirin hat Kuchen vorbeigebracht. Im Hinterhof machen wir noch ein paar Fotos mit Paul. Wir reden über seine Zukunft. Allzu viele Jahre wird man ihn auf den Laufstegen dieser Welt wohl nicht mehr zu sehen bekommen. „Vielleicht wird das dieses Jahr meine letzte Fashion-Week-Saison“. Wehmut schwingt weniger mit in dieser Aussage. Ein Zitat aus „Zoolander“, dem sarkastischen Kultfilm über die Modelbranche mit Ben Stiller in der Hauptrolle, trifft die Gefühlswelt des Paul Boche wohl eher: „Auf dem Laufsteg ist es mein Ziel, wieder backstage zu kommen.“

 

Auf der Leinwand werden wir Paul Boche in den nächsten Jahren jedenfalls öfters sehen. Und natürlich ab und zu bei André Reinsch im Antiquariat am Bachhaus.

 

Der Kuchen war köstlich, liebe Grüße an Shirin.

 

Fotos: Marco Fischer