„Prädikat besonders wertvoll“

„24 Wochen“ ist ein tief berührender und bereits mehrfach prämierter Film über die schwierige Entscheidung, ob man ein behindertes Kind zur Welt bringt oder nicht. Der zweite Spielfilm der 34-jährigen Erfurter Regisseurin Anne Zohra Berrached, die auch das Drehbuch mit verfasste, war der einzige deutsche Beitrag im internationalen Wettbewerb der diesjährigen Berlinale und rührte das Publikum zu Tränen. Am 22. September kommt der Film in die Kinos.

Vorab traf TOP THÜRINGEN die Wahlberlinerin in ihrer Heimatstadt an einem ganz besonderen Ort.

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Sie sitzt in Reihe sechs. Das Licht geht aus. Der Filmprojektor läuft. Gebannt schaut sie in Richtung Leinwand. Vielleicht erinnert sich Anne Zohra Berrached an diesem Julinachmittag daran, dass sie das letzte Mal vor zwölf Jahren hier war. Und dass der Film, den sich die Erfurterin 2004 im Kinoklub am Hirschlachufer ansah, nicht weniger als ihr Leben veränderte. Das wusste sie damals aber noch nicht. Sie war 21 und landete eher zufällig in der Abendvorstellung des Dokumentarfilms „Die Spielwütigen“, für den Regisseur Andreas Veiel vier Schüler der renommierten Berliner Schauspielschule Ernst Busch über sieben Jahre lang mit der Kamera begleitete.

Mit Kino hatte die Sozialpädagogik-Studentin bis dahin nicht viel am Hut. Sie mochte die dunklen Räume nicht. Aber dieses Mal störte sie das nicht. Im Gegenteil. „Das hat mich damals total beeindruckt“, erinnert sie sich heute. „Das war so stark, wie man so einen Dokumentarfilm machen kann.“ Der Film wurde mehrfach prämiert und Andreas Veiel gehört seitdem zu den besten Regisseuren im Lande.

 

Zwölf Jahre später steht Anne Zohra Berrached vielleicht auch am Anfang einer großen Karriere. Ihr zweiter Spielfilm „24 Wochen“ wird seit seiner Premiere auf der diesjährigen Berlinale im Februar von den Kritikern gefeiert und auf nationalen und internationalen Filmfestivals mit Preisen überhäuft.

Am 22. September kommt das von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ versehene Familiendrama endlich in die deutschen Kinos. Aber wie wurde aus der jungen Frau, die Anfang der 2000er keinerlei Bezug zum Film, geschweige denn zum Filmemachen hatte, eine der aktuell gefragtesten Regisseure Deutschlands, die im November, mit 34 Jahren, ihren ersten Tatort drehen wird? Dass das für eine Frau wahrlich keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt nicht zuletzt die Quote weiblicher Tatortregisseure der letzten zehn Jahre: 4 Prozent! „Sehr cool“ findet sie, dass sie für den Tatort Hannover mit Maria Furtwängler alias Kommissarin Lindholm Regie führen wird. Übrigens mit durchschnittlich 10,4 Millionen Zuschauern der dritterfolgreichste Tatort im Lande. Was ist also in den zwölf Jahren passiert, möchte ich von der Erfurterin wissen, während wir den Kinoklub verlassen und durch die Altstadt bummeln.

 

Eine ganze Menge. Mit 16 verlässt die Tochter einer Erfurterin und eines Algeriers ihre Heimatstadt und macht in Arnstadt Abitur. Es folgt ein Sozialpädagogikstudium in Frankfurt am Main. Mit 23 verschlägt es sie nach London, wo sie als Theaterpädagogin arbeitet. Sie bricht den Job ab, lebt eine Weile in Kamerun und Madrid, reist herum. Sie weiß nicht, was sie wirklich will. Ziemlich abgebrannt zieht sie 2009 schließlich zu ihrer besten Freundin nach Berlin. Die rät ihr, es doch mal am Theater zu versuchen. Prompt bekommt sie einen Job als Assistentin des Regisseurs und beobachtet diesen auch gleich bei der Arbeit. Und denkt sich: „Mensch, das könnte ich doch besser.“ Wenig später betreut sie bei Dreharbeiten in Babelsberg eine 15-jährige Kinderschauspielerin. „Total spannend“ findet sie die Filmwelt. Nur wie der Regisseur das mit den Schauspielern so macht, das könne sie doch besser, denkt sie wieder. „Obwohl ich eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte.“ Egal! Das will sie jetzt selber ausprobieren und leiht sich von einem Freund eine Kamera. Und los geht es.

Sie filmt ihren Berliner Nachbarn, einen Libanesen, der von seinem Leben als Bodyguard erzählt, aber unbedingt ein Clown sein will. Am Ende des Kurz-Dokumentarfilms hat er einen Auftritt und ist einfach nur schlecht. Der Film ist es nicht. Der WDR kauft „Der Pausenclown“!

 

Jetzt weiß Anne Zohra Berrached endlich, was sie machen will. Regie führen! Sie bewirbt sich mit ihrem Erstlingswerk an der altehrwürdigen HFF in Babelsberg für den Studiengang Dokumentarfilm. Und kommt bis in die Endrunde. Dort teilt ihr allerdings der Grimme-Preis-prämierte Autor, Regisseur und Hochschulprofessor Andreas Kleinert mit, dass sie alles Mögliche, wahrscheinlich Schauspielerin, werden könne, aber eben nicht Regisseurin, das sei klar. An der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg sieht man das anders.

Leicht hat sie es trotzdem nicht. Mit 27 ist sie die Älteste und Unerfahrenste. Ihre Kommilitonen sind ausnahmslos wahre Cineasten, der Vater Fotograf, Kameramann, Schauspieler. Anne Zohra Berrached hat keine Ahnung und einen Erfurtsch-Dialekt (den hat sie übrigens heute auch noch). Sie will das jetzt alles aufholen. Beim Unterricht sieht man sie selten, weil sie filmen will. Im ersten Jahr sechs Filme! „So habe ich das gelernt, durch machen. Zudem bin ich ehrlich zu mir selbst und dadurch gut im Reflektieren.

Fehler versuche ich nur einmal zu machen.“ Ihr Dokumentarfilm „Heilige und Hure“ (2012) über eine kaputte Ehe erhält gute Kritiken und wird weltweit auf Festivals gezeigt. Ihr erster Spielfilm „Zwei Mütter“ (2013) über ein lesbisches Paar, das ein Kind bekommen will, erhält den First Steps „No fear“ Award und den Regiepreis der Sektion Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale. Eine Hauptrolle besetzte sie mit Karina Plachetka, eine der vier Schauspielstudenten aus „Die Spielwütigen“! „So ist das eben“, erklärt Anne Zohra Berrached lachend, „manchmal fügt sich irgendwann alles zusammen.“

Wie bei „24 Wochen“, ihrem zweiten Langfilm, wie das in der Fachsprache heißt. Wieder geht es um ein Tabuthema in unserer Gesellschaft: Schwangerschaftsabbruch eines behinderten Kindes. Wieder arbeitet sie teilweise dokumentarisch, Kritiker loben sie für diese „Authentizität“. Die Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern sind echt. Sie bekommen auch wie die Schauspieler kein Script vor den Szenen, weil Berrached oft „der erste, unverbrauchte Moment“ interessiert. Das von ihr mitverfasste Drehbuch sieht sie als „Skizze, als Anfang von allem, als leere Hülle“, die sie in der Inszenierung zusammen mit den Darstellern gefüllt habe. Sie interessieren die „wahren, realen Momente, da wo etwas im Spiel der Laien und Darsteller entsteht, da wo sie elektrisiert, instinktiv, ja primitiv sind.“ Der Film ergreift auf ungewöhnlich starke Weise, die Kamera erzeugt eine entblößende Nähe und stellt Fragen, die man nur schwer beantworten kann und will.

Die Erfurterin möchte mit ihren Filmen aber keineswegs den Moralapostel spielen, sie will „einfach Themen finden, die mich drei Jahre beschäftigen“. So lange dauert es nämlich in der Regel, einen Spielfilm zu realisieren. Und dabei darf ihr nicht langweilig werden. Schließlich erzählt man nach dem Drehbuchschreiben erst einmal zwei Jahre lang nur von dem Film, um ihn überhaupt finanziert zu bekommen.

Im April 2015 begannen die Dreharbeiten zu „24 Wochen“, der vornehmlich in Halle und Leipzig gedreht wurde. Für die Hauptrollen konnte Berracheds Team trotz eines Mini-Etats die etablierten Schauspieler Julia Jentsch („Sophie Scholl“, „Die fetten Jahre sind vorbei“) und Bjarne Mädel („Stromberg“, „Der Tatortreiniger“) gewinnen. Für die Jung-Regisseurin kein Problem: „Wenn wir arbeiten, ist es mir völlig egal, wer da vor mir sitzt, dann sind das für mich keine Stars, sondern nur noch Schauspieler und ich bin die Regisseurin.“

Bei Dreharbeiten lernt sich Anne Zohra Berrached auch immer wieder ein Stück weit selber neu kennen. Unter Stress neigt sie zum Beispiel dazu, hektisch zu werden. „Am Set bist du in einer Drucksituation, du musst gleichzeitig mehrere Entscheidungen treffen. Du findest aber besser eine Lösung, wenn du ruhig bleibst. Da musst du ganz streng zu dir selber sein, weil das sonst nicht hilfreich für den Job ist.“ Hilfreich ist für sie dagegen, sich vor Drehbeginn Filme von geschätzten Kollegen wie Jaques Audiard („Der Geschmack von Rost und Knochen“), Maren Ade („Toni Erdmann“) und Andreas Dresen („Halt auf halber Strecke“) anzusehen. Sie will keineswegs kopieren, lediglich verstehen, wie der Regisseur bestimmte Bilder in Szene gesetzt hat.

 

Nach 31 Drehtagen und anschließenden sechs Monaten Schnitt und Sounddesign reicht sie im Oktober 2015 etwas unsicher „24 Wochen“ bei der Berlinale-Jury für die wichtigste Sektion ein, den Wettbewerb. Natürlich wollte sie einmal mit einem Film im großen Wettbewerb laufen, aber vielleicht in 20 Jahren. Dachte sie. Als dann im Januar inmitten einer Yogastunde ihr Handy vibriert, war es ihr erst peinlich, weil sie das Ding eigentlich nie mitnimmt. Es ist Dieter Kosslick: „Du weißt, warum ich anrufe?“, fragt der Berlinale-Chef. „Nein“. „Du läufst im Wettbewerb!“ Und zwar als einziger deutscher Beitrag! Sie ist sprachlos und ruft Freunde und Mitarbeiter an. Der Kameramann weint vor Freude.

 

Berlinale im Februar 2016. Roter Teppich, Pressetermine, Pressevorführung, Premiere. Alles Neuland. Wie kommt der Film an? Was soll sie nach der Premiere sagen? Viele haben Anne Zohra Berrached geraten, diesen Film nicht zu machen, in dem die Hauptfigur ihr Kind im siebten Monat umbringt. „Der Zuschauer wird die Hauptfigur nicht mögen, und dann mag er auch den Film nicht. Was, wenn das stimmt?“ Fragen und Zweifel. Sie ist gestresst. 30 Stunden am Stück hat sie noch vor drei Tagen an Schnitt und Ton gearbeitet. Als die Premiere bereits läuft, denkt sie, der Ton sei schlecht. Dann flüstert ihr Cutter Denys Darahan ins Ohr, „beruhige dich, es funktioniert, dreh dich doch mal um.“ Anne Zohra Berrached schaut sich im stillen Kinosaal um und sieht, dass die Zuschauer ganz ergriffen sind, viele weinen. „Oh Gott, es funktioniert wirklich“. Eine zentnerschwere Last fällt von ihr ab. Sie wusste ja nicht, wie sich der Film beim Publikum anfühlen wird, wie es reagieren wird.

Zwei Stunden später steht sie genau vor diesem alleine auf der Bühne. 1600 Menschen. Die Rede hat sie beim Bügeln ihres Outfits geübt. Sie bedankt sich bei ihrem Team dafür, dass es bei diesem Low-Budget-Film mitgemacht und auf Honorar verzichtet hat. Sie appelliert an alle Geldgeber und Förderer, mutig zu sein und interessante Filme zu fördern. „Bei meinem nächsten Film brauche ich mehr Geld, um mein großartiges Team bezahlen zu können. Wir müssen mehr Arthouse-Filme machen“, sagt der Arthouse-Fan. Applaus.

Nach der Premiere ist nichts mehr wie davor. Sie gewinnt den Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater, sie wird von wichtigen Filmleuten zum Essen eingeladen. Produzenten wollen sie treffen, sie bekommt viele Fernsehangebote. Seit Februar ist sie unterwegs auf Festivals. Deutschland, Mexiko, Slowakei, Malta, Polen, Südkorea, Irland …Neun Preise in vier Monaten. Im November beginnen die Dreharbeiten für den Tatort, Ende 2017 und 2018 für die nächsten beiden Langfilme.

 

Wir sind jetzt am Café „Speicher“ in der Waagegasse angekommen, unweit des Domplatzes, wo ihr Vater ein Café und einen Bratwurststand betreibt. Vier, fünf Mal im Jahr ist sie in ihrer Heimatstadt, besucht Familie und Freunde. Clueso zum Beispiel, in dessen Studio die Filmmusik produziert wurde.

Am 17. September wird sie wieder in Erfurt sein, zur Thüringer Vorpremiere von „24 Wochen“. Fünf Tage später kann sie sich dann ihren Film zum bundesweiten Start im Kinoklub am Hirschlachufer ansehen. An dem Ort, wo vor zwölf Jahren alles begann.

„Ich bin jetzt Regisseurin!“, ruft sie mir noch lächelnd beim Abschied hinterher. Stolz sieht sie dabei aus.

 

Fotos: Marcel Krummrich