Still Alive
Zwei lange (Corona-)Jahre musste ich warten. Warten auf Pearl Jam – die einzig verbliebenen Grunge-Legenden aus Seattle, die mit ihrer ersten Platte „Ten“ 1991 gleich den Rock-Olymp bestiegen. Und mich seitdem musikalisch durch alle Lebenslagen begleiten. Am 21. Juni kurz vor 20 Uhr war es in der Berliner Waldbühne endlich so weit. 22.000 zum Teil ergraute Pearl-Jam-Jünger machten die Welle. Es begann eine zweistündige ekstatische Reise durch 30 Jahre Band- und Lebensgeschichte.
Gleich zu Beginn schmetterten Eddie Vedder & Co. uns den Klassiker „Why go“ um die Ohren. Sofort begann die stehende Menge im Front of Stage-Bereich zu vibrieren. Die zwanzig Meter vor mir aufsteigende Staubwolke signalisierte mir: „Komm doch, hier vorne geht es richtig ab“. Ich blieb stehen, intonierte leicht im Takt wippend lauthals den Chorus „Why go home“. Und erinnerte mich zurück.
An mein erstes Pearl Jam Konzert. Das war, ich musste nachschauen, am 4. November 1996 in der Sporthalle Hamburg. Die Mehrzweckhalle im Stadtteil Winterhude war mit 7.000 Fans restlos ausverkauft. Pearl Jam hatten in dem Jahr ihr viertes Album „No Code“ veröffentlicht. Sie kämpften gegen den Mainstream, gaben keine Interviews, veröffentlichten zu ihren Songs keine Videos, klagten vor Gericht gegen den Konzertkarten-Monopolisten Ticketmaster wegen zu hoher Gebühren beim Konzertkartenvertrieb. Und verkauften gleichzeitig Millionen Platten.
Mein Freund Mark und ich warteten nichts ahnend und aufgeregt zehn Meter vor der Bühne auf die wilden Grunge-Jungs. Mit dem ersten Ton von „Wash“ gerieten wir in einen auf und ab wiegenden, nicht enden wollenden Strudel aus menschlichen Körpern. Mark verlor ich sofort aus den Augen. Diese Energie, die von der Bühne kam und sich in Frontman Eddie Vedder kanalisierte, war elektrisierend. Ich weiß nicht, wie lange ich wie im Trance hin und her wogte. Es war jedenfalls berauschend. Irgendwann traf ich Mark wieder. Völlig erschöpft und durchgeschwitzt entflohen wir dem pulsierenden Rudel. Den Rest der Show verbrachten wir auf der Tribüne.
Jetzt, knapp 26 Jahre später bin ich 52 Jahre alt und zweifacher Familienvater. Kurt Cobain (Nirvana), Chris Cornell (Soundgarden) und Layne Staley (Alice in Chains) haben Selbstmord begangen. Pearl Jam, die Könige des Grunge, gegründet 1990, sind noch immer da. Sie sind so etwas wie die Letzten ihrer Art. Es ist mein siebtes oder achtes Konzert, so genau weiß ich das nicht. Über der 1936 errichteten Freilichtbühne in Charlottenburg erstrahlt an diesem längsten Tag des Jahres ein blauer Sommerhimmel. Und wieder vibriert die Menge vor mir. Soll ich mich nicht doch ins Getümmel stürzen? „Ach, komm, lass es“, denke ich. Eddie klettert mit seinen 57 Lenzen ja auch nicht mehr halsbrecherisch die Lautsprechertürme hoch und springt von dort in die Menge. Eine Flasche Rotwein hat er aber immer noch dabei. Und charismatisch ist er noch allemal. Die Fans lieben ihn und lachen lauthals, wenn er, wie bei jedem Konzert auf dieser Bühne, einen Zettel mit deutschen Begrüßungssätzen vorliest und beim Wort „Waldbühne“ beinahe kapituliert. Der Rockstar gibt sich längst nicht mehr nur als Melancholiker, auch wenn der Weltzustand aktuell viel dunkler erscheint als in jenen Jahren nach 1989, als Grunge für ein paar Jahre die weiße Popkultur dominierte und den Gitarren-Rock im Zeichen des Weltverdrusses wiederbelebte. An diesem Abend spricht Vedder nicht vom Krieg, auch wenn Leadgitarrist Mike McCready ein T-Shirt mit Ukraine-Schriftzug trägt. Aber ein „fuck politicians“ kann sich er sich doch nicht verkneifen. Er ist einfach gut gelaunt, preist die Schönheit des Amphitheaters, lobt das Wetter und freut sich vor allem darüber, dass solche Konzerte nun endlich wieder möglich sind.
Das Publikum ist, wie ich, größtenteils mit der Band gealtert, besteht aus Dreißig- bis Sechzigjährigen, ein paar Kinder sitzen mit Ohrenstöpseln auf den Schultern ihrer Eltern. Die meisten Zuschauer sind erfahrene Pearl-Jam-Konzertgänger und wissen genau, wann man bei „MFC“ mit doppelter Geschwindigkeit klatschen oder bei der immer wieder wunderbaren Ballade „Elderly Woman Behind the Counter in a Small Town“ lauthals „Hello!“ schreien muss. Dank dieser Band-Publikum-Dynamik funktionieren alte Songs wie der Riff-Rocker „Even Flow“ und das punkige, an diesem Abend auf doppelte Länge ausgeweitete „Corduroy“ live immer noch bestens.
Drei Songs aus dem aktuellen 2020 erschienenen Album „Gigaton“, ihrem elften, bereichern das Live-Portfolio der Band ungemein: das ekstatische „Quick Escape“, „Superblood Wolfmoon“ und vor allem „Dance Of The Clairvoyants“ mit dem mächtig schiebenden Bass von Jeff Ament und dem Gitarrenspiel von Mike McCready. Und weil Vedder das Berliner Ramones-Museum so sehr liebt und auch dieses Mal wieder einen Besuch des selbigen unbedingt empfiehlt, wurde mit „I Believe In Miracles“ auch ein Klassiker der New Yorker Punk-Legenden zum Besten gegeben.
Dann der Schock. Nach gerade einmal zwei Stunden, um exakt 22 Uhr, endet das Konzert etwas abrupt mitten in Mike McCreadys Gitarrensolo zu Pearl Jams erster Single „Alive“ – ihrer berühmtesten Hymne, die das Leben und Überleben trotz aller Widrigkeiten feiert. Nur 23 Songs. Kein „Mankind“, „Black“, „Jeremy“, „Daughter“, „Indifference“… Und vor allem kein „Rearviewmirror“. Die Lärmschutzvorschriften gehen eben vor und beendeten das Spektakel. Vielleicht sind die Jungs mit den Jahren aber auch einfach nur etwas müde geworden.
Aber sie kommen ja auf jeden Fall wieder, wie Eddie Vedder versprach. Ich auch.
Text: Jens Hirsch
Foto: pic one / Ben Kriemann, Jens Hirsch