„Von der Genesis bis zur Offenbarung – die Bibel in 3.333 Bildern“

Vier Aluminiumkisten auf dem Dachboden der Galerie des 2013 verstorbenen Vaters veränderten das Leben von Martin Wiedmann. In den Kisten verstaute der Stuttgarter Maler, Bildhauer, Musiker und Galerist Willy Wiedmann sein größtes Werk: Die Wiedmann Bibel, die auf 3.333 Illustrationen das komplette Alte und Neue Testament wiedergibt. Seit dem Fund auf dem Dachboden macht es sich Martin Wiedmann zur Aufgabe, die Mission seines Vaters weiterzuführen: die Bibel durch Bilder allen Christen näherzubringen.
Noch bis Ende Oktober ist die Wiedmann Bibel in Form einer 1,7 Kilometer langen interaktiven Ausstellung unterhalb der Wartburg in Eisenach zu erleben.
Zur offiziellen Eröffnung der Pilger Bibel in Eisenach traf ich Martin Wiedmann.

„Nein!“, antwortet Martin Wiedmann seiner Schwester bei Beerdigung des Vaters im Juni 2013 in Stuttgart. Sie wollte wissen, ob er denn wisse, was ihr Vater in der Pauluskirche geschaffen habe. Der heute 65-Jährige erzählt das, während wir durch das Eingangsportal der Eisenacher Pilger Bibel am Beginn des Reuterwegs gehen. Bis zum Elisabethplan unterhalb der Wartburg zeigt eine interaktive Ausstellung alle 3.333 Bilder der Wiedmann Bibel. Diese hat Willy Wiedmann in seinem ureigenen Stil, er nannte ihn Polykon, erschaffen. Poly heißt viel, Kon heißt Fläche und viele Ecken. In den geometrischen Formen im 45, 60 oder 90 Gradwinkel konnte er mit leuchtenden kräftigen Farben alles ausdrücken – Menschen, Tiere, Landschaften, Gefühle. Jedes Bild hat keinen Anfang und kein Ende, wie bei einer Filmrolle geht das eine nahtlos ins nächste über. Alles ist miteinander verwoben.

Viele bekannte Maler wie Chagall und Dali haben einzelne Szenen aus der Bibel gemalt. Die Wiedmann-Bibel ist die einzig bekannte Bibel, die das komplette Alte und Neue Testament wiedergibt, von der Genesis bis zur Offenbarung. Willy Wiedmann schuf sie in 26 Jahren – von 1984 bis 2000. Über 40 Bibelversionen hatte er zur Auswahl, überwiegend Luther-Bibeln. Immer wieder schlug er nach, bis er die Szene verinnerlicht hatte und in ein Bild übersetzen konnte.

Zu jener Zeit war Sohn Martin längst ausgezogen in die weite Welt und als Banker erfolgreich. „Mein Vater war Maler und Musiker, tagsüber arbeitete er in der Galerie, abends hat er in der Stuttgarter Staatsoper im Orchester gespielt. Für Familie war da kein Platz mehr. Ich habe ihn teilweise monatelang nicht gesehen. Es gab praktisch keine Vater-Sohn-Beziehung.  Er hat so viel gemacht, man konnte seinen Ideen gar nicht folgen. Es hat mich auch nicht interessiert“, erinnert er sich.

Bis zur Beerdigung seines Vaters. Ein paar Tage später geht er in die Pauluskirche in Zuffenhausen und ist „total baff“. Sein Vater hatte 1984 den gesamten inneren Kirchenraum inklusive der Decken mit sakralen Motiven bemalt. Der Banker, der bis dahin weder Zugang zu Kunst noch zur Religion hatte, ist beeindruckt vom leuchtenden Werk seines Vaters. Einige Monate später will er in dessen Stuttgarter Wohnhaus, das auch als Galerie fungierte, aufräumen, sortieren und entrümpeln. Auf dem Dachboden entdeckt er vier große Aluminiumkisten, gefüllt mit Büchern und Bildern. Martin Wiedmann sieht sie zum ersten Mal. In einer der Kisten liegt die Auflösung. Handschriftlich hatte Willy Wiedmann seine Ideen, seine Mission und seine Gedanken beschrieben: „Ich wollte den Menschen eine große Freude malen. Es ist höchste Zeit, dass man die Bibel vereinfacht.“

Willy Wiedmann wollte seine Bibel mit allen Christen teilen, leider hat er keinen Verlag gefunden, der die 3.333 Bilder in einem Buch reproduziert. Das wäre unbezahlbar gewesen, es gab auch noch keine Digitaltechnik. Auf einer Seite schrieb der Künstler, er hoffe, dass eines Tages jemand sein Werk finden würde und etwas damit anfangen könne.

Martin Wiedmann wurde dieser „Jemand“. Er war 56 Jahre alt und hatte seinen Job gerade an den Nagel gehangen. Vorruhestand. Zeit also, um die Mission des Vaters mit Leben zu füllen. Zunächst lässt er alle Bibel-Bilder mit einem Museumsscanner digitalisieren. Das dauert drei Monate! Mit den hochauflösenden Daten entwickelt er dann zusammen mit IT-Experten eine App, DVD, VR-Brille und einen hochwertig gedruckten Art-Edition-Kunstband. Er spricht viel mit Theologen über die Bibel und Religion. Das bleibt nicht folgenlos: Martin Wiedmann geht zwar nicht jeden Sonntag in die Kirche, aber an Gott glauben, das tut er. Jetzt.

Zum evangelischen Kirchentag 2014 in Stuttgart präsentiert Martin Wiedmann auf dem Markt der Möglichkeiten zum ersten Mal die Originale der Wiedmann-Bibel. Die Resonanz ist überwältigend. Also macht er weiter. Und weiter. 2017, 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg, entfalten entlang der Elbe in Magdeburg 500 Helfer einen 1517 Meter langen Nachdruck der Wiedmann Bibel. Der Weltrekord wird ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen. Und

mit der deutschen Bibelgesellschaft findet Martin Wiedmann einen Partner, der eine hochwertige, gedruckte limitierte Art Edition mit über 2.000 Seiten produziert. Jeweils eine Ausgabe, bestehend aus zwei Bänden, überreichte Martin Wiedmann bereits der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, dem Gutenberg-Museum in Mainz, dem Friedensnobelpreisträger Tesmont Tutu in Südafrika und im Februar 2020 in Rom dem Papst Franziskus. Das Lutherhaus in Eisenach bekam sein Exemplar Anfang Mai 2022 anlässlich der Eröffnung der Pilgerbibel im Rahmen des Themenjahres „Welt übersetzen“.

Vor zwei Jahren kontaktierte Ralf‐Peter Fuchs, Superintendent des Ev.-Luth. Kirchenkreises Eisenach-Gerstungen, Martin Wiedmann. Ob man etwas im Jubiläumsjahr zusammen machen könne, wollte er wissen. Schnell entstand bei einem Treffen mit Eisenachs Oberbürgermeisterin Katja Wolf die Idee, die 3.333 Bilder der Wiedmann Bibel großflächig auf Tafeln auszustellen. Ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum. Unter Federführung des Eisenacher Marketingprofis Arne Setzepfand entstand eine 1,7 Kilometer lange eindrucksvolle interaktive Ausstellung vom Beginn des Reuterwegs bis zum Elisabethplan unterhalb der Wartburg. Mittels 48 QR-Codes werden die einzelnen biblischen Szenen visuell und akustisch erklärt. „Mehrmals waren wir kurz davor, das Projekt abzubrechen. Immer wieder mussten wir kreative Lösungen finden“, erinnert sich Martin Wiedmann. Kurz vor dem Aufbau meldete sich zum Beispiel das Bauamt und bemängelte das fehlende Standfestigkeitszertifikat für die Tafeln. Diese könnten bei starkem Wind umfallen und jemanden verletzen. Also wurden die Querstreben hinter den Planen verstärkt. Der Zaunbauer wollte aber verständlicher Weise erst mit den Bohrungen für die Verankerungen beginnen, wenn er die Pläne erhalte, auf denen die Strom- und Gasleitungen, die unterirdisch zur Wartburg führen, eingezeichnet sind. Es gibt aber drei solcher Pläne! Am Ende wurden keine Leitungen beschädigt und alle Auflagen erfüllt. Deshalb kann die längste Bibel der Welt noch bis Ende Oktober erwandert und erlebt werden.

Für Nachnutzungsideen ist Martin Wiedmann, der das Projekt fast vollständig privat finanziert hat, offen. Einzelne Tafeln können zum Beispiel gegen eine Spende erworben werden. Mit dem Erlös soll in Eisenach ein Wald gepflanzt werden. Das Wiedmannwäldchen.

Die Mission des Vaters führt Martin Wiedmann also weiter fort. Für ihn selber hat sie sich bereits mehr als gelohnt. Denn er habe während der Arbeit seinen Vater erst richtig kennengelernt: „In der Tat verstehe ich jetzt meinen Vater, wie er getickt hat, wie er war. Nach vielen Gesprächen mit Zeitzeugen, die ihn wahrscheinlich besser kannten, als ich, hat sich das Puzzle zusammengefügt.“ Und aus der Wiedmann Bibel ist eine Drei-Generationen-Bibel geworden. „Mein Vater hat sie gemalt, ich habe sie entdeckt und meine Frau und unsere Kinder unterstützen mich.“

 

Zitat:

„Diese weltweit einmalige Ausstellung am Fuße der Wartburg im Jubiläumsjahr der Bibelübersetzung ist eine herausragende Auszeichnung für das Lebenswerk Willy Wiedmanns.“ Martin Wiedmann

 

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Tobias Kromke, Martin Wiedmann