„Mir fehlen die kleinen Gesten“

Am 15. April kommt einer der bekanntesten und streitbarsten gesamtdeutschen Politiker nach Erfurt. Gregor Gysi wird im Kaisersaal im Rahmen der Frühjahrslese zusammen mit dem Pfarrer und DDR-Oppositionellen Friedrich Schorlemmer aus dem gemeinsamen Buch „Was bleiben wird. Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft“ erzählen.

TOP THÜRINGEN besuchte den 67-jährigen Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag. In seinem Berliner Büro sprach Gysi über Realitäten, Gerechtigkeit und Popmusik.

Herr Gysi, Sie besuchen Thüringen, das seit dem 5. Dezember von einem gewissen Herrn Ramelow regiert wird, dem ersten linken Ministerpräsidenten in Deutschland. Viele Kritiker prophezeien Thüringen nichts weniger als den Untergang. Woher kommt diese Angst vor den Linken?

Ich glaube nicht, dass die Menschen Angst vor den Linken haben. Die Zeiten des Kalten Krieges sind vorbei. Das ändert natürlich nichts daran, dass Bodo Ramelow vor folgender schwieriger Aufgabe steht: Er muss es schaffen, dass ihn zumindest viele, die ihn nicht gewählt haben, auch als ihren Ministerpräsidenten empfinden. Das muss er aber so schaffen, dass die, die ihn gewählt haben, nicht aufhören, ihn zu wählen. Das ist nicht so leicht, wie es klingt.

 

Was haben Sie gedacht, als im vergangenen November auf dem Erfurter Domplatz Menschen mit Fackeln standen und riefen „Wir sind das Volk“, um damit gegen einen linken Ministerpräsidenten zu demonstrieren?

Wissen Sie, man darf nie Dinge aus ihrem historischen Zusammenhang reißen. Im Herbst `89 machte es Sinn, das zu rufen. Immerhin meinte die Staatsführung der DDR den vielen Ausreisenden keine Träne nachweinen zu müssen. Dagegen protestierten die Menschen in Leipzig und vielen anderen Städten und haben gesagt: Nein, wir sind das Volk, so lassen wir nicht mit uns umgehen. Das kann man jetzt nicht künstlich übertragen. Und außerdem hieße das ja auch, dass die, die anders gewählt haben, nicht das Volk seien. Und das war nur im Herbst `89 berechtigt, weil ich glaube, dass die Demonstranten damals den Willen von 90 Prozent der Bevölkerung zum Ausdruck brachten.

 

Bleiben wir im Herbst `89. Die Bürgerrechtsbewegung strebte eine Zweistaatenlösung mit einer reformierten DDR an, die Mehrheit der Menschen war für die Wiedervereinigung. Wofür standen Sie als SED-Mitglied?

Viel früher schon – etwa als Gorbatschow mit seinen Reformen anfing – hätte ich mir den Versuch eines demokratischen Sozialismus vorstellen können. Ich hatte mir gewünscht, dass die SED-Führung das mitgemacht hätte. Als es für den Versuch zu spät war, weil man ihn wahrscheinlich bereits sogar schon in den 50er Jahren hätte starten müssen, gab es natürlich für zwei kapitalistische Deutschlands keine Begründung. Punkt. Sicherlich haben sich einige gewünscht, eine reformierte DDR zu bekommen, das entsprach aber letztendlich nicht mehr den Realitäten.

 

Die Realität ist, dass wir dieses Jahr 25 Jahre Wiedervereinigung feiern. Sind Sie mit dem letzten Vierteljahrhundert deutscher Geschichte zufrieden?

Man muss erst einmal die ganze Entwicklung der Infrastruktur begrüßen, auch die Möglichkeiten, die die Bürger der ehemaligen DDR jetzt haben, wenn sie denn das Geld dafür besitzen. Ich glaube schon, dass das ein großer Akt der Befreiung war. Auf der anderen Seite finde ich es indiskutabel, dass es nach wie vor zum Teil geringere Löhne und noch nicht den gleichen Rentenwert für die gleiche Lebensleistung im Osten gibt. Und was mich wirklich ärgert, was aber nicht mehr reparabel ist: dass man nicht am 3. Oktober 1990 in ganz Deutschland bestimmte Dinge aus dem Osten eingeführt hat.

 

Zum Beispiel?

Polikliniken, Berufsausbildung mit Abitur, ein flächendeckendes Kita-Netz und anderes.

Wenn man das getan hätte, wäre erstens das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestiegen. Sie hätten sich sagen können, vieles war zwar Mist und musste weg, aber ein paar Dinge funktionierten bei uns besser. Zum Zweiten hätten die Westdeutschen ein Vereinigungserlebnis gehabt. Sie würden mit dem 3. Oktober 1990 verbinden, dass sich auf einigen Gebieten ihre Lebensqualität durch das Hinzukommen des Ostens erhöht hat. Dieses Erlebnis wurde ihnen nicht gegönnt.

Damit sind wir mitten in Ihrem aktuellen Buch „Was bleiben wird“. Was wird aus Ihrer ganz privaten und aus historischer Sicht bleiben von der DDR?

Erst einmal bleiben natürlich Erinnerungen, zweitens eine neue Linke und drittens bleiben Punkte wie ein anderes Solidargefühl, das man miteinander hatte. Das scheint zwar wiederum dem Wirken der Staatssicherheit zu widersprechen, aber es war trotzdem so. Wichtig fand ich auch, dass es richtig preiswerte Sachen gab, die soziale Gesten ermöglichten. Wenn eine Straßenbahnfahrt in Ostberlin 20 Pfennige kostete, warum sollte ich das nicht für denjenigen mit bezahlen, mit dem ich fuhr? Wenn eine Tasse Kaffee 35 Pfennige kostete, warum sollte ich nicht vier Tassen für die Kollegen mitbringen? Aber wenn das zwischen zwei und drei Euro kostet, dann müsste man sich schon etwas besser kennen. Mir fehlen diese kleinen Gesten, die mir nicht unwichtig sind. Letztlich gab es ein anderes Verständnis dafür, was dringend notwendig ist. Die Eintrittskarten für Museen, Theater, Sport und Kinos, die Preise für Bücher waren sehr viel günstiger, weil man der Meinung war, den Zugang zu Bildung, Kultur und Sport allen zu ermöglichen. Zudem waren Lebensmittel, Miete und Stromkosten subventioniert.

 

Also war in der DDR doch alles besser?

Nein, aber sie war in gewisser Hinsicht sozial gerechter als die BRD. Allerdings nutzt diese Art von sozialer Gerechtigkeit relativ wenig, wenn Freiheit und Demokratie nicht gewährleistet werden. Wenn ich sie aber gewährleiste, und das ist wichtig, müssen wir trotzdem für soziale Gerechtigkeit streiten, damit auch jeder in den Genuss von Freiheit und Gerechtigkeit kommt.

 

Das unterschreibt Ihnen sicher auch Ihr aktueller Buchpartner Friedrich Schorlemmer. Wie kam es eigentlich zu dem Projekt mit dem Pfarrer und DDR-Bürgerrechtler, der den Staat bekämpfte, für den Sie arbeiteten?

Ich habe als Anwalt nicht für den Staat gearbeitet, sondern in einer Nische. Friedrich Schorlemmer hat mit mir und dem Verlag gesprochen. Und ich konnte mir vorstellen, dass eine solche Konstellation spannend wäre. Allerdings sollte das Gespräch zwei Tage dauern, und das ist bei mir außerordentlich kompliziert. Aber ich konnte es ihm gar nicht ausschlagen, das liegt schon daran, dass ich ihn mag.

 

Sie dürften mit Ihren Meinungen nicht immer übereingestimmt haben?

Das ist richtig, das wird im Buch auch deutlich.

 

Sehen Sie heute deutlicher vor Augen, dass in der DDR doch so einiges falsch lief, als Sie das vielleicht damals selbst empfunden haben?

Man hat immer einen Erkenntniszugewinn, weil man ja heute auch Informationen hat, die man damals nicht hatte. Die ganzen Strukturschwächen habe ich schon mitbekommen. Als ich als Anwalt anfing, wichen die Gerichte so gut wie nie von den Anträgen der Staatsanwälte ab. Dann kam eine neue Generation von Richtern, die selbstständiger sein wollten. Dann begann auch eine andere Form der Rechtsprechung und man bekam auch mal einen Freispruch. Außer es ging, und das habe ich sehr wohl gemerkt, um politische Machtfragen. Da war das Ende erreicht, da konnte man im juristischen Sinne nichts erreichen.

 

Sie haben auch Regime-Kritiker, Bürgerrechtler und Ausreisewillige vertreten. Das stelle ich mir sehr schwer vor, denn Sie haben ja eigentlich den Staatsapparat vertreten.

Ich war nicht für den Staat tätig, ich habe die Interessen meiner Mandanten vertreten. Der überwiegende Teil meiner Arbeit waren Ehescheidungen, Zivilrecht und Straftaten der allgemeinen Kriminalität. Bei den wenigen politischen Fällen bestand die Kunst darin, die Angeklagten aufzuklären und sie aufzubauen. Gleichzeitig – zumindest wenn sie einen bestimmten Grad an Berühmtheit hatten – habe ich immer mit Leuten von der Abteilung Staat und Recht des Zentralkomitees der SED gesprochen, um für sie etwas politisch zu erreichen, weil es auf juristischem Weg keinen Sinn hatte.

Was konnten Sie erreichen?

Nachdem ich Robert Havemann in seinem Berufungsverfahren vertreten habe, habe ich durchgesetzt, dass der Hausarrest aufgehoben wurde, dass es nie wieder eine Durchsuchung und Beschlagnahme bei ihm gab und nie wieder ein Strafverfahren. Meine Aufgabe bestand darin, die Leute im Zentralkomitee dahin gehend zu überzeugen, dass es ihnen nutzt, wenn sie die Repressalien einstellen. Das war das eigentliche Kunststück. Wie bei Rudolf Bahro, der eigentlich erst vier Jahre nach Haftantritt entlassen werden durfte, weil es eben eine entsprechende Regelung gab. Die einzige Lösung ihn vorher rauszubekommen war eine Amnestie. Das war meine Idee. Ich habe auch einmal einen Trick angewendet: Ich habe Honecker geschrieben, dass er bei seinem Frankreich-Besuch zu bestimmten politischen Häftlingen gefragt wird, das hätte mir ein westdeutscher Journalist bei einem Empfang der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin erzählt. Dies war nicht nachprüfbar, denn im Saal waren bei dem Empfang mehr als 300 Leute, man konnte also nicht überprüfen, wer was dort gesagt hatte. Fast alle angesprochenen Häftlinge, außer zwei, sind dann vorzeitig entlassen worden. So konnte man solche Dinge regeln, aber das war die Ausnahme, das muss ich auch dazu sagen.

Nach der Wende haben viele Leute zu mir gesagt: „Mit Ihnen an der Spitze wären wir gar nicht weggegangen.“ Aber solche Leute wie ich passten doch gar nicht in die DDR-Führung. Da sprach alles dagegen.

 

Und heute? Wären Sie nicht gerne mal Bundeskanzler?

Ach Gott, das ist ein höchst anstrengender Job. Mein Bedarf an Öffentlichkeit ist gedeckt, ich stehe schon im Lexikon, mehr brauche ich nicht.

 

Würden Sie im nächsten Leben wieder den Beruf eines Politikers anstreben wollen?

Das weiß ich nicht. Da muss ich gar nicht noch mal auf die Welt kommen, da reicht schon die Wiederholung des Jahres 1989 mit dem Wissen, wie es mir hinterher ergeht. Ich glaube nicht, dass ich das wiederholte. Inzwischen habe ich mir doch einen gewissen Respekt erarbeitet und kann damit ganz gut umgehen, aber es gab auch ganz andere Zeiten. Für mich war diese Zeit aber auch eine Bereicherung: mit allem, was ich dazu gelernt habe, mit den Reisen, die ich erleben durfte, mit den Persönlichkeiten, die ich getroffen habe. Deshalb sehe ich das alles gelassen. Ich kann über die DDR gelassen sprechen, über die Einheit, über die Bundesrepublik. Ich weiß schon, wo die großen Mängel und Ungerechtigkeiten der BRD liegen, aber ich weiß auch, welche anderen Chancen es gibt. Kapitalismus muss nicht demokratisch strukturiert sein, aber er kann.

 

Sie haben drei Herzinfarkte erlitten. War es das wert?

Wer weiß, ob ich die nicht sonst auch bekommen hätte. Natürlich habe ich mir auch gesagt, mit einem anderen Leben würde ich vielleicht älter werden. Vielleicht auch nicht. Das entscheidet letztendlich die Natur. Als ich meinen ersten Herzinfarkt bekam, sagte mein Arzt zu mir, entweder ich würde beim nächsten Infarkt sterben oder 20 Jahre beschwerdefrei weiterleben. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden. Jetzt muss ich aber aufpassen, weil die 20 Jahre in ein paar Jahren um sind.

 

Was treibt Sie jeden Tag in das Haifischbecken namens Politik?

Das fragt sich doch jeder Mensch, wenn er morgens aufsteht und zur Arbeit geht.

 

Aber die wenigsten Jobs haben so ein hohes Konfliktpotenzial.

Das stimmt, aber auf der anderen Seite bin ich doch auch privilegiert, weil ich einer schöpferischen Arbeit nachgehe.

Natürlich wiederholen sich in der Politik auch immer wieder gewisse Dinge, aber es ist trotzdem abwechslungsreicher als viele andere Jobs. Auch Sie als Journalist sollten sich dessen immer bewusst sein, dass Sie einem schöpferischen Beruf nachgehen können. Ich lebe auch von einem Urlaub zum nächsten. Es ist mir wichtig zu wissen, dass immer wieder etwas Angenehmes kommt.

 

Was machen Sie denn so Angenehmes in Ihrer Freizeit?

Das frage ich mich auch. Wenn ich Freizeit habe, lese ich gern, höre Musik und gehe auch gern Essen.

 

Musik. Ich schätze Klassik?

Das ist unterschiedlich. Wie nennt man denn so etwas wie Lana Del Rey?

 

Popmusik.

In aller Regel höre ich gern Klassik, aber manchmal auch Popmusik.

 

Welches Buch lesen Sie gerade?

„Das hohe Haus“ von Roger Willemsen, ein paar Seiten habe ich noch vor mir.

 

Hat Herr Willemsen denn das Innenleben des Bundestags gut beschrieben?

Natürlich, es ist aber für mich vielleicht nicht ganz so spannend, weil ich den Bundestag kenne. Aber Roger Willemsen ist natürlich ein kluger und genauer Beobachter.

 

Herr Gysi, vielen Dank für das Gespräch und viel Spaß am 15. April in Erfurt.

 

Fotos: Mario Hochhaus