Die große Lust

Am 31. August 2023 tritt Killian Farrell offiziell die Stelle des Generalmusikdirektors am Staatstheater Meiningen an. Der 29-Jährige, der bereits mit 17 Bachs Johannes-Passion dirigierte, setzte sich gegen 100 Mitbewerber durch. Er ist nicht nur der erste irische Generalmusikdirektor an einem deutschen Staatstheater, sondern auch einer der jüngsten. TOP THÜRINGEN besuchte den gebürtigen Dubliner an seiner neuen Wirkungsstätte.

Der Schlüssel rastet im Schloss ein, lässt sich aber nicht drehen. Die Tür bleibt verschlossen. Der Versuch mit dem Chip geht ebenfalls schief, die kleine Lampe springt zwar nach dem Kontakt auf grün, die Tür bleibt aber zu. An der nächsten Tür das gleiche Spiel. Erst am dritten Personaleingang gewährt das altehrwürdige Meininger Staatstheater den Zutritt. Killian Farrell lächelt: „Ich bin eben noch Gast im eigenen Haus.“ Und ganz genau genommen gehört er auch noch nicht zum Personal. Seinen ersten offiziellen Arbeitstag als neuer Generalmusikdirektor wird der 29-Jährige erst am 31. August dieses Jahres haben.

Im Februar 2022 war der Ire zum ersten Mal in Meiningen und am Theater zu Gast, um sich neben 100 weiteren Männern und Frauen für die ausgeschriebene Stelle des Generalmusikdirektors zu bewerben. Die Historie des Hauses kennt er, seit er 16 ist. Brahms, Wagner, Strauß, Liszt, Reger – Meiningen verfügt über eine große Musiktradition. „Ohne Frage: Meiningen gehörte zu den drei, vier führenden Klangkörpern in Deutschland. Und das nicht nur in der Zeit vor einhundert Jahren! 2001 dirigierte hier Kirill Petrenko Wagners Ring des Nibelungen an vier aufeinanderfolgenden Abenden. Ich wusste, auf was für eine Stelle ich mich bewerbe und was sie bedeutet.“

Aus Richtung Stuttgart kommend, mit dem Auto auf dem Weg nach Meiningen versteht er das erste Mal so richtig, warum die A71 auch Waldautobahn genannt wird. Das Thüringer Grün erinnert ihn sofort an seine irische Heimat. Dort wächst Killian Farrell im Dubliner Elternhaus mit der Musik von Mozart und Bach auf, weil für den Vater eine Verbindung zwischen klassischer Musik und Mathematik besteht. Er machte sich wohl Hoffnungen, dass der Sohnemann eines Tages ein berühmter Mathematiker werden könnte. Der aber interessiert sich mehr für das Singen. Mit fünf Jahren wird Killian Mitglied des Palestrina Choir der Dublin Cathedral, wo er zum Stimmführer und Solisten reift. Neben der Gesangsausbildung erhält er auch eine umfassende musikalische und kulturelle Ausbildung. Das Klavierspiel steht genauso auf dem Stundenplan wie Johann Sebastian Bach. Eine mögliche Sangeskarriere endet mit dreizehn, nach dem Stimmbruch. Killian Farrell hat jetzt mehr Zeit zum Klavierspielen und Lesen. Als er eine Opernaufnahme von Richard Strauss Oper „Salome“ hört, dirigiert von Georg Solti, ist er hin und weg: „Diese Farben, es war so reich, wie er alles zusammengemischt hat. Es war so faszinierend“, erinnert er sich. „Wie kann ich diese Musik gestalten?“, fragt er sich. Dirigieren ist das Ergebnis. In der Biografie von Solti erfährt er viel über den deutschen Weg zum Kapellmeister, die sogenannte Ochsentour. Also geht er zu seiner Mutter und sagt: „Ich muss nach Deutschland, nur dort gibt es diese Repertoirehäuser“. Da ist er 15 Jahre alt und leitet bereits einen Chor. Mit 17 debütiert er als Dirigent mit einer Aufführung von Bachs Johannes-Passion. In Dublin studiert er parallel Klavier, Orgel, Dirigieren und Musikwissenschaft. Von Bach ist er geradezu besessen, von dessen Musik und Leben. Aber die Oper wird zu seiner Konstante.

Apropos Oper: Wir müssen unser Interview auf der Meininger Bühne für eine halbe Strunde unterbrechen. Für ein Vorsingen für eine Rolle in Richard Wagners erster vollendeter Oper „Die Feen“. Sie wurde 1888 nach seinem Tod in München uraufgeführt. Der Meister selbst fand sie nicht gut genug. Mit ihr wird in Meiningen am 15. September die neue Spielzeit eröffnet. Gleichzeitig ist es das erste Werk, das Killian Farrell an seiner neuen Arbeitsstätte aufführen wird. Eine doppelte Premiere also, denn das selten gespielte Stück wurde noch nie in Meiningen aufgeführt. Das liege auch daran, so Killian Farrell, dass es „unglaublich schwierig zu besetzen ist“. Man benötige „einen Sopranisten mit Kraft und einen Tenor mit unglaublich viel Mut“. Man würde fast sagen Hochmut, weil die Partie so schwierig ist. „Aber wir haben das Glück, dass wir für beide Partien wirklich gute Besetzungen gefunden haben“, freut sich der neue Generalmusikdirektor.

Nach dem Vorsingen führen wir unser Interview fort. Wir waren bei Bach und Solti. Zeit für einen kurzen Blick zurück: Killian Farrell ist zwanzig Lenze alt und hat gerade eine paar Tage vorlesungsfrei. Spontan beschließt er, nach Frankfurt zu fliegen, von dort weiter mit dem Zug nach Thüringen. Er möchte auf seinem ersten Deutschlandbesuch auf den Spuren seines Idols Bach wandeln. Eine Visite mit Erinnerungswert: Er werde nie vergessen, wie berührt er war, als er in Weimar vor den Klassikern stand, und in Eisenach das Bachhaus besuchte. Knapp neun Jahre später möchte Killian Farrell selbst als Generalmusikdirektor seine ersten Spuren in Meiningen hinterlassen. Er habe „einen Riesenrespekt vor diesem Haus, in dem Musik- und Theatergeschichte geschrieben wurde“. Das sei eine „große Verantwortung“, die nehme er „sehr ernst und mit großer Freude“ an. Killian Farrell kann es nach viel Verwaltungsarbeit kaum erwarten: „Ich habe einfach große Lust, hier Musik zu machen!“

Erste Spuren in Deutschland hat er indes schon hinterlassen. Aktuell tut er das noch als 1. Kapellmeister und Assistent des Generalmusikdirektors an der Staatsoper Stuttgart. Zuvor war er als Kapellmeister am Theater Bremen tätig. Dort lernte er nicht nur Deutsch, für seine musikalische Leitung der Produktion „Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm und sein Engagement für zeitgenössische und moderne Oper wurde ihm der „Kurt-Hübner-Preis“ der Bremer Theaterfreunde verliehen. Außerdem führte er dort einen Lehrauftrag als kommissarischer Leiter der Universitätsmusik aus. Gastdirigate führten ihn darüber hinaus an die Oper Amsterdam, die Komische Oper Berlin, die Mendelssohn-Orchesterakademie des Gewandhausorchesters Leipzig und die Semperoper in Dresden, wo er im September 2022 sein Dirigenten-Debüt mit Mozarts „Die Zauberflöte“ gab.

Jetzt also Meiningen. Hier fühlte er sich nicht nur wegen des Waldes sofort wohl. Beim 45-minütigen Vordirigat, als er erstmals den Musikerinnen und Musikern der Hofkapelle begegnete, spürte er gleich: „Irgendetwas stimmt hier, es gibt eine Chemie!“ Nach dem Casting schaute er sich noch das Brahms-Denkmal im Englischen Garten an, umrundete drei Mal das Theater und mischte sich unter die Leute in der Innenstadt. Natürlich möchte er die Stelle! Aber selbst in dem Fall, dass er diese nicht bekommen würde, denkt er, „war es doch wunderbar, an so einem Ort gewesen zu sein, wo Musik und Natur so eng zusammen zu finden sind.“

An diesem 12. Mai ist er wieder in Thüringen zu Gast, zwischen zwei Dirigaten an der Semperoper. Es gibt noch viel zu tun bis zur Spielzeiteröffnung. In die Zusammenstellung des Programms und die Auswahl der Sänger und Gastdirigenten war und ist Killian Farrell voll integriert. Zusammen mit Intendant Jens Neundorff von Enzberg, der Farrell selbst als „Wunschlösung“ bezeichnete, und der künstlerischen Leitung des Hauses wurde der Spielplan erarbeitet. Zum ersten Mal in seiner noch jungen Karriere hat Killian Farrell die Gesamtverantwortung für die Hofkapelle. Sein erstes Fazit: Das sei schon etwas anderes. Alles auf den Kopf stellen und als junger Generalmusikdirektor nun alles neu machen, das kommt ihm aber nicht in den Sinn. Vielmehr möchte er den Mut seines Vorgängers Philippe Bach, neben den „alten Schinken“ auch neue Musik zu spielen, fortsetzen. Und auch wenn heute ein Mozart anders gespielt wird als beispielsweise noch vor 60 Jahren, die Tradition gilt es zu bewahren: „Wenn ich mir die alten Aufnahmen großer Dirigenten wie Böhm, Solti oder Karajan anhöre, erinnere ich mich an den Grund, warum ich das mache. Ich fühle, dass ich eine Tradition geerbt habe. Und ich fühle mich so glücklich, dass ich solche Vorgänger hatte – und dass ich in ihren Fußstapfen arbeiten darf.“

Natürlich gehe es auch darum, das Musiktheater immer wieder neu zu erfinden. Natürlich werde es deshalb auch neue Formate geben, um das erfolgreiche Programm noch zu erweitern, um noch mehr Leute zu erreichen (aktuell liegt die Auslastung bei 80 Prozent). Vor allem auch mehr Kinder und Jugendliche will Killian Farrell erreichen. „Wie begeistere ich die YouTube- und Spotify-Generation für die Oper?“, heißt die große Frage, vor der die gesamte Branche steht. Die Jugend hat heute einen anderen Zugang zur Musik. Deshalb sei es so wichtig, sie ins Theater zu holen, um dieses einzigartige Konzerterlebnis – wenn sechzig, siebzig Leute auf der Bühne zusammen musizieren – hautnah zu erleben, meint Farrell. Das entfache vielleicht bei dem einen oder anderen das Feuer für die klassische Musik.

Bei Killian Farrell hat es jedenfalls gewirkt. Und ab 31. August will er den Funken überspringen lassen auf das treue Meininger Publikum. Wenn er denn einen Schlüssel für den Personaleingang bekommt, der auch passt.

 

Fotos: Mario Hochhaus, Andrew Bogard

Text: Jens Hirsch