„Die Wahrheit wird Euch freimachen.“

Sie trugen in den 70er und 80er Jahren lange Haare, Parka und Jeans – und wollten ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen.
Dabei traf die widerständige Jugend der DDR auf einen autoritären Machtapparat. Für den 23-jährigen Matthias Domaschk aus Jena endete dieser Konflikt am 12. April 1981 in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera tödlich. Der Journalist Peter Wensierski erzählt in seinem Buch „Jena-Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk “ vom viel zu kurzen Leben und den letzten Stunden dieses jungen Mannes.

Der Festsaal im ersten Stock des Kulturhauses Dacheröden am Erfurter Anger ist mit knapp 90 Gästen voll besetzt. Schnell werden noch ein paar Stühle hereingetragen. Das Thema ist auch nach vierzig Jahren noch aktuell, vielleicht aktueller denn je. Über die Leinwand flimmern Schwarz-Weiß-Fotos von Jugendlichen beim Wandern, Zusammensitzen, Lachen, Feiern … dazu singt Rio Reiser von Ton Steine Scherben: „Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen, welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen. Ich bin tausendmal verblutet und sie haben mich vergessen …“

Auf den Privataufnahmen aus den 1970er und Anfang der ’80er Jahre aus Jena sind Matthias Domaschk sowie Freunde und Bekannte zu sehen. Sie haben lange Haare, tragen Parka, Jeans, Armbänder. „Das hätten auch Bilder aus der BRD sein können“, sagt Peter Wensierski, der an diesem Maiabend sein Buch vorstellt und der damals nur vier Jahre älter war als Matthias Domaschk. „Im Westen gab es auch Jugendliche, die so aussahen und die nicht so leben wollten wie ihre Eltern und die braven Mitschüler. Aber sie hatten politische Freiheit.“

Eine solche gab es in der DDR nicht. Deshalb bildeten sich „Untergrundkreise“, wie sie vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) genannt wurden. Der westdeutsche Journalist und Dokumentarfilmer Peter Wensierski berichtete ab 1979 über die widerständigen, „feindlich-negativ, dekadenten Jugendlichen“ (O-Zitat MfS) im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat. Über den „Fall Domaschk“ konnte er 1981 unter den gegebenen Umständen in der DDR nicht frei berichten. Der Versuch von Familie und Freunden von Matthias Domaschk, zwischen 1990 und 1994 die Todesumstände juristisch zu ermitteln, scheiterte. Die damals zuständige Staatsanwaltschaft, deren Mitarbeiter teilweise nach der Wende nur die Roben tauschten, stellte fest: „Die umfangreichen Ermittlungen haben keinen Hinweis darauf erbracht, dass es sich im Fall des Matthias Domaschk nicht um eine Selbsttötung gehandelt hat.“ Der Freistaat Thüringen setzte 2015 auf Anregung von Renate Ellmenreich, Domaschks damaliger Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter Julia, eine unabhängige Arbeitsgruppe ein, die die Umstände des Todes von Matthias Domaschk in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera erneut untersuchen sollte. Peter Wensierski war ein Mitglied dieser Arbeitsgruppe. Nach vier Jahren konnte sie zweifelsfrei belegen, dass die Dokumente des MfS den Tathergang nicht richtig wiedergaben. Die genauen Todesumstände konnten jedoch nicht geklärt werden.

Matthias Domaschk: „Was ist das für ein Land, in dem ich lebe, das mir die Länge meiner Haare vorschreiben will, die Art meiner Kleidung?“

Peter Wensierski nahm den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zum Anlass, selbst zu recherchieren. Drei Jahre lang sprach der Westfale mit mehr als 200 Zeitzeugen in Jena, Erfurt, Chemnitz, Leipzig, Berlin – zumeist Verwandte und Freunde von „Matz“, wie sie ihn nannten, und auch mit 30 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. Darüber hinaus studierte er Briefe und Fotos von Matthias und etwa 125.000 Seiten teils erstmals aufgefundener Akten des MfS, der Volkspolizei, aus dem VEB Carl Zeiss Jena und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Auf dieser Grundlage beschreibt der Autor in seinem im März dieses Jahres erschienen Buch „Jena-Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk“ spannend und berührend die Gedankenwelt und die Träume einer zunehmend politisierten DDR-Jugend, die selbst denken und frei leben möchte, aber auf einen autoritären Machtapparat trifft. „Domaschks Tod und die Umstände, die dazu führten, standen für mich nicht im Vordergrund, ich wollte sein Leben beschreiben. Er hatte Träume, die allesamt zerbrachen: Abitur, Studium, Beruf, Wohngemeinschaft, ein selbstbestimmtes Leben …“

Notiz eines Mitarbeiters der K1 in Jena, einer Unterorganisation der Stasi: „Diese Jugendlichen haben eine eigene Idee von Freiheit und wollen diese auch verwirklichen. Sie möchten eine menschlichere Gesellschaft in der DDR ohne Ausbeutung. Deshalb müssen sie „bearbeitet“ werden.“

Die Lebensreise des Matthias Domaschk beginnt in Görlitz, wo er die ersten vierzehn Jahre (1957 bis 1971) verbringt und zum ersten Mal „auffällig“ wird, als er als POS-Schüler den Besuch einer Christenlehre-Gruppe einem Arbeitseinsatz anlässlich des Geburtstags des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht vorzieht. Im Dezember 1970 zieht die Familie nach Jena, nach Neulobeda, in den 9. Stock eines Neubaublocks. 1972 folgt die Konfirmation in der evangelischen Jungen Gemeinde in Lobeda, gegen den Willen seines Vaters, der bei Carl Zeiss Karriere macht und um seinen guten Ruf fürchtet. Matthias sucht sich einen Konfirmationsspruch aus: „Die Wahrheit wird Euch freimachen.“ Er fragt sich mehr und mehr: „Wer bin ich, wer will ich sein, was bedeutet Freiheit?“ In der Gemeinde lernt er seine Freundin und spätere Lebensgefährtin Renate Groß (heute Ellmenreich) kennen. Durch sie politisiert sich „Matz“, der 1974 eine Ausbildung zum Feinmechaniker mit Abitur bei Carl Zeiss beginnt, noch stärker. Am 18. Januar 1975 erlebt der 18-Jährige „ein Ereignis, das ihn und alle um ihn herum erschütterte. Damals entstand ein tiefer, unheilbarer Riss zwischen ihm und diesem Staat. Bis dahin hatten sie geglaubt, dass man vielleicht sein eigenes Leben gestalten kann …“, schreibt Wensierski im Buch. 20 Polizisten stürmen in der Jenaer Gartenstraße 7 eine Verlobungsfeier eines Freundes und nehmen einige der 30 Jugendlichen unter Gewaltanwendung mit auf das Polizeirevier. Vier Freunde werden zu Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verurteilt. Die Stasi nutzt die Gelegenheit, „die feindlich-negative Konzentration Jugendlicher in der Gartenstraße 7 genauer zu beobachten“. Also „überwachen, einschüchtern und zersetzen“, wie das im Stasi-Jargon hieß.

Viele Freunde halten den Druck nicht mehr aus und stellen Ausreiseanträge. Für Matthias Domaschk ist das keine Option: „Weg will und kann ich hier nicht. Wir müssen hier etwas verändern“, notiert er. Ab März ’76 ist er für die Stasi eine „operativ relevante Person“. Nach seiner Beteiligung an den Protesten gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann kommt es zu ersten Verhören durch das MfS. Im Dezember 1976 wird seine Tochter Julia geboren, drei Jahre später resigniert Renate vor den Zersetzungsmaßnahmen der Stasi und reist mit Julia in die BRD aus.

Wegen seines politischen Engagements wird „Matz“ vier Wochen vor den Abiturprüfungen aus der Abiturklasse ausgeschlossen und darf nur noch seine Facharbeiterausbildung abschließen. Seine Kontakte zur Charta 77 in Prag und zu Solidarność in Polen machen die Stasi-Mitarbeiter in Jena nervös. Einer ihrer Spitzel behauptet am 23. März 1981 gegenüber seinem Führungsoffizier Roland Mähler, Domaschk wolle nach dem Vorbild der italienischen Roten Brigaden eine Terrorgruppe aufbauen. Der Bericht ist falsch. Die Folgen sind fatal.

Am 10. April 1981 beginnt die letzte Reise: Zusammen mit seinem Freund Peter „Blase“ Rösch ist „Matz“ unterwegs zu einer Geburtstagsfeier in Ost-Berlin. Am gleichen Wochenende findet dort der X. Parteitag der SED statt. Auf Befehl des MfS werden die beiden im Zug verhaftet und nach ersten Verhören in Jüterbog am nächsten Tag in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Gera gebracht. Der Vorwurf lautet: Sie hätten Störaktionen während des Parteitages geplant – was sich nicht belegen ließ.

Am 12. April, nach vierzehnstündigen Verhören und Drohungen („Junge, Du bist hier ganz schnell wieder drin!“) gibt Matthias Domaschk eine handschriftliche Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS ab. Kurz danach, vor seiner offiziellen Entlassung gegen 14 Uhr, kommt er im Besucherraum 121 unter ungeklärten Umständen ums Leben. Laut offizieller Version des MfS beging Domaschk Suizid, indem er sich mit seinem eigenen Hemd an einem Heizungsrohr erhängte. Was Familie und Freunde bis heute bezweifeln.

Matthias Domaschk, 1. Mai 1977: „ich will endlich wieder machen können, was ich will, hingehen, wohin ich will, und reden, mit wem ich will. ich will nicht mehr meine gefühle vor mir selbst verstecken müssen.“

Für Peter Wensierski gibt es nach seinen Recherchen kaum Zweifel an der Version des MfS. Das ändere aber nichts an dessen Verantwortung: „Matthias beging keinen Selbstmord. Er wurde in den Tod getrieben, und viele waren beteiligt. Was bleibt, ist ein politisches Zeichen von Matthias: Ihr kriegt mich nicht. Ich mache mich nicht gemein mit euch, nicht mit eurer Art zu leben, nicht mit eurer Diktatur!“

Die Geschichte von Matthias, sagt Peter Wensierski am Ende der Lesung, sei wichtige Zeitgeschichte und aktuell, weil sie zeige, wohin die Spaltung einer Gesellschaft in Freunde und Feinde letztlich führen könne. Sein Schicksal beweise zugleich, dass „die DDR eine Diktatur und kein Paradies mit Halloren-Kugeln und emanzipierten Frauen war. Es gab 200.000 politische Gefangene. Klar, man konnte relativ friedlich leben, wenn man die Augen verschlossen hat vor dem, was parallel passiert ist.“

Nach dem Tod von Matthias Domaschk gab es Proteste in Jena, die schließlich zur Vorgeschichte des Endes der DDR 1989 gehören. Erst im Jahr 2000 wurden sieben beteiligte MfS-Mitarbeiter in einem Prozess zu geringen Geldstrafen wegen „Beihilfe zur Freiheitsberaubung“ verurteilt. Keiner von ihnen hatte im Gerichtssaal ein Wort des Bedauerns für Matthias Domaschks Tochter Julia übrig.

 

Märkische Oderzeitung: „Wer sich jemals auch nur für Momente die DDR zurückwünscht, der soll Peter Wensierski lesen. Dass er in seiner fiktionalisierten Rekonstruktion nicht die Moralkeule auspackt, sondern die Ereignisse für sich sprechen lässt, ist eine der Qualitäten dieses empfehlenswerten Buches.“

www.peterwensierski.info, www.thueraz.de/matthias-domaschk

 

Buch „Jena-Paradies“ versandkostenfrei vom Verlag: www.aufbau-verlage.de/ch-links-verlag/jena-paradies/978-3-96289-186-2

Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk” (ThürAZ) im Verein Künstler für Andere e.V. ist das Spezialarchiv zu Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur für den Freistaat Thüringen.

 

Fotos: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte

„Matthias Domaschk” (ThürAZ), BStU Gera KD

 

Text: Jens Hirsch