Sonnenkind

Ihr wichtigstes Werkzeug sind die Hände. Damit bringt Juliane Solvång auf der Theaterbühne Puppen und von ihr entworfene Kulissen zum Leben. Damit bringt sie Gedanken zu Papier. Und damit pflückt die Neu-Erfurterin seit acht Jahren jeden Tag von Mai bis Oktober in einem Vintage-Kleid einen Strauß Wildblumen. Anfangs sind es nur Instagram-Schnappschüsse für die Freunde. Schnell ist daraus ein 16.600-Follower-Projekt geworden, das dazu anregen soll, die Natur in unserer unmittelbaren Umgebung wieder bewusster wahrzunehmen und zu bewahren.

„ Ja. Das bin ich!“ Juliane Solvång … liest die gebürtige Ost-Berlinerin auf dem Bestätigungsschreiben der schwedischen Behörden für ihren neuen Nachnamen. Das ist jetzt drei Jahre her. Sie fühle sich seitdem näher bei sich, erklärt die 42-Jährige an einem milden Frühsommernachmittag in einem Möbisburger Garten. Und ein kleines bisschen stolz ist sie auch, denn niemand anderes auf der Welt heißt so.

Den Namen hat sie sich selbst ausgesucht, mit Hilfe eines Namensgenerators. In Schweden ist das möglich, einzige Voraussetzung: Es muss ein neugebildeter Name sein. Die Vorsilbe steht schnell fest – Sol. Sie steht für die Sonne. Dann bleibt der Generator bei vång stehen, gesprochen vong. Solvång. Das klingt nicht nur schön. Der Name ist Programm. Vång bedeutet in einem alten südschwedischen Dialekt Wiese. Also eine von der Sonne beschienene Wiese – mit vielen Wildblumen, auf der Tiere weiden. Der Name geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie erinnert sich an ihr erstes prägendes Kindheitserlebnis: Juliane ist gerade fünf Jahre alt und mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern in einem Dorf in der Uckermark im Sommerurlaub in einem heruntergekommen Gutshaus mit ranzigem FDGB-Charme. Es ist Mittag, die Geschwister schlafen. Juliane darf zum ersten Mal alleine zum See laufen. Die Mutter beobachtet von der Terrasse aus, ob sie auch bei der wartenden Bekannten am Ufer ankommt. „In meiner Erinnerung ist der Weg zum See ungefähr einen Kilometer lang, tatsächlich sind es laut Google Maps 50 Meter!“, muss sie schmunzeln. Für so ein kleines Kind sind 50 Meter aber sehr lang. Das versonnene Kind läuft also den Hang hinunter. Es ist August, blauer Himmel. Ein heißer Tag. Links und rechts vom Weg liegen die klassischen Trockenwiesen der Uckermark mit Immortellen, den kleinen gelben italienischen Strohblumen, und Schafgarben. Juliane pflückt gedankenversunken einen Strauß Wildblumen. Gefühlt kommt sie erst nach einer Stunde am See an. „Meine Mutter ist bestimmt ein bisschen nervös geworden, weil ich so lange brauchte.“ Aber das Gefühl, zum ersten Mal einen ganzen Kilometer alleine zu laufen: unbeschreiblich. Sie fühlt sich erwachsen, reif und unabhängig. Was diesen Moment für sie aber zu einem ganz besonderen gemacht hat, „ist die noch heute sehr sinnliche Erinnerung an den herben Curry-Geruch der Immortellen, die flirrende Hitze und das Zirpen der Grillen. Wann immer ich heute Immortellen rieche, katapultiert mich das direkt auf diese Trockenwiese zurück und ich bin wieder fünf Jahre alt. Dieses starke sinnliche Erleben war eines der ersten, an das ich mich erinnere“. Eine „positive Bruchstelle in meinem Leben“ nennt sie dieses Erlebnis. Noch heute denkt sie gern „an dieses noch ungezähmte Kind, das einfach nur Blumen pflückt und sich stark fühlt“.

Genauso gern erinnert sie sich an das kleine Mädchen, das bei flirrender Hitze selbstbewusst auf einer Wiese steht und an einem Grashalm knabbert. „Das Heideprinzesschen“ von Fritz von Uhde, das Originalgemälde hängt in der Nationalgalerie in Berlin, war das erste, was Juliane in ihrer Kindheit am Morgen von ihrem Bett aus sah, und das letzte, bevor sie einschlief. In der Landschaft, der selbstbewussten Pose und dem wachen Blick erkennt sie sich wieder. „Das kleine Mädchen“, dachte sie, „das bin ich!“

Zwei echte Solvång-Erlebnisse! Der Namensgenerator musste also 30 Jahre später genau an dieser Stelle stehenbleiben. „Nicht der Name hat mich geprägt, sondern ich habe ihn selber geprägt. Deshalb habe ich sofort auf ihn reagiert, weil er der inneren Landschaft entspricht, die ich in mir trage. Und die wiederum ist durch eben jene Kindheitserlebnisse geprägt.“ Erst als sie versteht, dass der Name wirklich etwas mit ihr und ihrer Geschichte zu tun hat und sie deshalb so stark auf ihn anspricht, beantragt sie ihn.

Ihre Jugendjahre verbringt die Berlinerin auf dem Land in Mecklenburg. Oft stromert sie stundenlang durch die Felder und Wiesen. „Es gibt Kinderfotos, auf denen ich Blumen pflücke oder Muscheln sammle. Das hat mich fasziniert.“ Fasziniert ist sie bald auch vom Theater. Eigentlich möchte sie klassischen Gesang studieren, ihr sitzt das Gold aber nicht in der Kehle. Vielmehr in den Händen. Etwas mit ihnen erschaffen und auf der Bühne stehen. Beim Puppenspiel geht das. Also studiert sie in Berlin an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Puppenspielkunst. Anschließend arbeitet sie an verschiedenen Theatern als Puppenspielerin und Ausstatterin. In Deutschland, in der Schweiz. Und in Norwegen in einem kleinen Theater weit über dem Polarkreis. 2008 zieht sie nach Schweden, der Liebe wegen. Am Anfang spielt sie dort noch Theater, es gibt aber nur wenige Spielstätten. Aber es gibt ihre Hände, ihr bestes Werkzeug. Sie fängt an, Spielpuppen zu entwerfen und zu bauen, die schnell Interesse finden, vor allem bei Sammlern. Und sie beginnt 2013 zu fotografieren, weil Freunde teilhaben möchten an ihrem Leben auf einem Bauernhof in Südschweden. Juliane im Bad, Juliane beim Frühstück, Juliane beim Sport, Juliane beim Dinner …? Auf diese Instagram-Challenges hat sie aber so gar keine Lust. Also geht sie raus in die Natur, wie sie es als kleines Mädchen immer getan hat. Geht spazieren, erkundet die Gegend und pflückt einen Strauß Wildblumen. Sie fotografiert ihn mit ihrem Handy, schreibt die Blumennamen sowie den Fundort dazu. Es ist wie eine Art Tagebuch, das sie auf Instagram postet. Vielleicht macht sie das vier Wochen lang, denkt sie. Doch schnell wird aus einer kreativen Herausforderung eine kreative Routine. Mit Stativ und Selbstauslöser. In klassischer Pose im klassischen Vintage-Kleid, klassisch fotografiert. Wie ein Stillleben. Im Fokus die Hände. Und die Blumen.

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Am 1. Mai dieses Jahres begann die achte Saison ihres mittlerweile auf 16.600 Follower gewachsenen Projektes @onebouquetperday – Ein Strauß pro Tag. Sogar die britische „Sunday Times“ hat Ende Mai, neben anderen europäischen Zeitungen und Magazinen, in einem Artikel über neue Trends in der Floristik darüber berichtet. Es ist ihre erste Saison in Erfurt! Der neuen Heimat von Juliane Solvång. In Südschweden, in der Abgeschiedenheit der Wälder war sie schon einige Zeit nicht mehr glücklich. „Ich saß auf dem Land, habe die Kraniche beobachtet, weit und breit war nichts. Nach zwölf Jahren habe ich überlegt, die Beziehung ging zu Ende, will ich jetzt den Rest meines Lebens in dieser Einsamkeit verwalten oder will ich meinem Leben nochmal eine andere Wendung geben?“ Wieder nach Berlin? Nein. Zu grau, zu groß, zu laut. Sie macht eine Liste mit fünf Städten, in denen sie sich vorstellen könnte zu leben: Erfurt, Halle, Leipzig, Potsdam und Rostock. Nach dem Abwägen aller Fürs und Widers – Wo kenne ich Leute? Arbeitsmöglichkeiten? Mietkosten? Natur? Wie weit ist es zum Badesee? Wie weit ist es nach Berlin? – gewinnt Erfurt haushoch. Auch Dank des imaginären Heimvorteils, schließlich ist die Preußin eine halbe Puffbohne. Die Großeltern stammten nämlich aus Erfurt und Mühlhausen. Thüringer Klöße, die großen Blechkuchen …da war doch immer so eine Art Heimatgefühl tief in ihr drin. Im November 2019 kommt sie an in der Landeshauptstadt. In der Blumenstadt!

Ihr Blumenprojekt möchte sie weiter ausbauen. Es geht ihr nicht nur um schöne Fotos in schönen Kleidern mit schönen Blumen in der Hand. In den Bildern spiegelt sich viel mehr die Lebensphilosophie der Juliane Solvång wider. Sie fliegt nicht, hat kein Auto, isst kein Fleisch, kauft ihre Kleidung secondhand. Es geht ihr um Nachhaltigkeit, um Biodiversität, um das jahrtausendalte Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur. Um ein ressourcenschonendes Gärtnern. Deshalb beginnt ihr Projekt auch jedes Jahr erst am 1. Mai und endet bereits am 31. Oktober. In den ersten Frühlingsmonaten pflückt sie ganz bewusst keine Wildblumen, weil die wenigen Frühlingsblüher in dieser Zeit für die Bienen da sein sollen. Und im Winter, wo bei uns keine Blumen wachsen, kann man auch Zweige von einem Obstbaum in die Vase stellen. „Im Gegensatz zu unserem Essen, denken wir selten darüber nach, woher die Blumen kommen, wie die Bedingungen in den Anbauländern aussehen, und dass die gekauften Sträuße voll mit Pestiziden sind, die wir dann einatmen, wenn sie bei uns auf dem Esstisch stehen.“ Als Influencerin vertritt Juliane Solvång die Slow-Flower-Bewegung, die sich unter anderem dafür einsetzt, den Blumenkonsum nachhaltiger, also saisonaler und aus lokalem Anbau zu gestalten.

Die One-Bouquet-Per-Day-Fotos sollen das Interesse an Wildblumen, an unserer Natur wecken. Oft schreibt sie neben die Pflanzennamen, wie man sie noch verwenden kann, beispielsweise zum Färben, oder ob sie essbar sind. „Ich möchte die Leute sensibilisieren, damit sie sich wieder mehr mit dem befassen, was um sie herum in der Stadt passiert. Ich begrüße es, dass Rasenflächen in Erfurt wieder in Wildblumenwiesen verwandelt werden sollen. Aber die wenigsten wissen doch, wie man eine solche Wiese anlegt. Es genügt nicht, den Inhalt von ein paar Samentütchen zu verteilen und alles wachsen zu lassen. Eine richtige Wildblumenwiese braucht Pflege und muss zwischendurch gemäht werden, gerade in den ersten Jahren, damit sich die Pflanzen etablieren können.“ Ihr über die Jahre erworbenes Wissen gibt sie gern weiter. Auf Blumenwanderungen, mit Vorträgen zu ganzheitlichen Konzepten im Alltag. Es gibt Anfragen von Verlagen und Gespräche zu einer Ausstellung im Haus Dacheröden.

Das Fotoshooting in diesem wunderschönen grünen Idyll in Möbisburg ist beendet. Juliane Solvång strahlt, auch von innen. „Ich hadere bis jetzt nicht mit meiner Entscheidung, hierhergekommen zu sein.“ Sie hat ein Gast-Engagement am Puppentheater Waidspeicher, sie baut ihre Spielpuppen, schreibt Texte und fotografiert – auf Anfrage auch gern Garteninhaber mit ihren selbstgepflückten Blumensträußen. „Ich liebe Erfurt und die Umgebung, ich bin hier sehr warm und offen empfangen worden. Ich wohne in Hochheim, der Hahn kräht am Morgen und in zehn Minuten bin ich mit dem Rad in der Altstadt. Ich habe nicht vor, meine Zelte so schnell wieder abzubrechen.“

Juliane Solvång ist angekommen. „Ja, das bin ich.“

 

Service:

www.julianesolvang.com

www.instagram.com/onebouquetperday

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Marcel Krummrich, Juliane Solvång