„Ohne das jüdische Leben würde es keinen christlichen Glauben geben.“

Auf Anregung der jüdischen Landesgemeinde und der christlichen Kirchen ruft die Thüringer Landesregierung für den Zeitraum vom 1. Oktober 2020 bis zum 30. September 2021 das Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“ aus. Ziel ist es, jüdisches Leben in Thüringen sichtbar zu machen, zu würdigen und eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Ein Gespräch in der Alten Synagoge in Erfurt mit Ministerpräsident Bodo Ramelow über prägende Wurzeln, bleibende Werte und wichtige Impulse im Themenjahr.

Herr Ministerpräsident Ramelow, am 1. Oktober beginnt das Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen.“ Was war Ihr erster Berührungspunkt mit der jüdischen Kultur?

Da haben viele Faktoren eine Rolle gespielt. Ich habe dabei widersprüchliche und auch sehr schmerzliche Erfahrungen machen müssen. Ich komme aus einem kleinen rheinhessischen Dorf. In diesem Dorf kamen die Pastoren über lange Zeit aus meiner Familie. Mein Großvater wiederum war in der Nazizeit Bürgermeister unseres Dorfes. Aus vielen Gesprächen mit ihm weiß ich, dass er, obwohl er bekennendes NSDAP-Mitglied war, sich dagegen gewehrt hat, dass in der Reichspogromnacht die dörfliche Synagoge zerstört werden sollte. Er war ganz gewiss kein Held oder gar ein Widerstandskämpfer, er hat es nur nicht übers Herz gebracht tatenlos zuzusehen, dass die jüdische Gemeinde in unserem Dorf derartigem Drangsal ausgesetzt wird. Für ihn war der Gedanke unerträglich, ein Gotteshaus, welchen Glaubens auch immer, anzuzünden. Die Synagoge wurde dann kurze Zeit später auch gegen seinen Widerstand abgebrannt und er als Bürgermeister abgesetzt. Ich selber habe diese Synagoge nie zu Gesicht bekommen. Ich kenne die Kirche, in der ich konfirmiert wurde und ich kenne den Kirchhof. Ich weiß, dass sich auf der dahinterliegenden Seite die Synagoge befand. Und dass in diesem Dorf über lange Zeit Jüdinnen und Juden gelebt haben. Es gibt davon aber keine Spuren oder Bilder mehr. Ich kannte nur diese Erzählung und die habe ich immer in mir getragen. Später in Marburg haben wir als junge Gewerkschafter immer am 9. November an dem Ort Blumen niedergelegt, an dem einst die Synagoge gestanden haben soll. Wir wollten dort gedenken und wachhalten, was passiert ist. Gewissermaßen war also eine nicht mehr sichtbare Synagoge das erste Bild, das mein Verhältnis zum Judentum wesentlich geprägt hat.

 

Sichtbare Spuren vielfältiger jüdischer Geschichte und Kultur gibt es in Thüringen dagegen an vielen Stellen.

Ja. Als ich nach Erfurt kam, traf ich an vielen Stellen auf Wurzeln, die mit der Shoa verbunden sind. Topf & Söhne zum Beispiel, jenes Unternehmen, das die Verbrennungsöfen hergestellt hatte. Die Auseinandersetzung darüber, wie wir mit diesem Ort umgehen sollen, hat mich sehr geprägt. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern einen der dunkelsten Orte der Geschichte in einen Verstand und Herz gleichermaßen ansprechenden Gedenkort umzuwandeln. Wir haben diesen Ansatz in einem intensiven Diskussionsprozess mit der jüdischen Landesgemeinde und den christlichen Kirchen weiterentwickelt zum Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“. Wir wollten nicht länger das jüdische Leben hauptsächlich über die Shoa definieren, weil wir damit zwangsläufig immer nur über die Nazis reden, also die Täter, und darüber das Miteinander vernachlässigen, das es auch immer gegeben hat und weiterhin gibt. Insoweit war es gut, über diesen Denkansatz in eine neue Perspektive reinzukommen. Jetzt sind wir kurz vor dem Start des Themenjahres.

 

Was ist die Zielsetzung des Themenjahres? Sie haben gerade schon über das Gedenken und Wachhalten gesprochen.

Es geht um die Erzählung, dass jüdisches Leben ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft war, ist und bleiben wird. Dessen sehr alte Wurzeln wir auch hier in unserem Siedlungsraum in Thüringen und Erfurt verfolgen können. Es ist so wichtig zu zeigen, dass über 900 Jahre hinweg Jüdinnen und Juden unsere Nachbarn waren, sie wesentliche Bereiche unserer Kultur und unseres Alltags mitgeprägt haben. Nicht nur bei Handel und Dienstleistungen, sondern tatsächlich auch kulturell. Die Nazis wollten ja bekanntlich das gesamte kulturelle jüdische Erbe aus unserem Langzeitgedächtnis löschen. Auch die christlichen Kirchen sind nicht frei von Verantwortung. Die Evangelische Kirche hatte sogar 1939 in Eisenach ein „Entjudungsinstitut“ gegründet, um dort tatsächlich alle jüdischen Wurzeln aus der Bibel zu streichen. Was natürlich ein absurdes Vorhaben war, weil der christliche Glaube im Grunde das jüngere Geschwisterchen des Judentums ist, und die abrahamitischen Religionen quasi Geschwister aus der gleichen monotheistischen Familie sind. Ohne das jüdische Leben, ohne den Juden Jesus Christus würde es keinen christlichen Glauben geben. Das muss man immer zusammendenken. Deshalb reden wir über 900 Jahre Thüringer Geschichte, und ein wichtiger Teil davon sind Jüdinnen und Juden, die mit ihrer Kultur und der Art, wie sie ihre Kultur gelebt haben, ein wichtiger Impulsgeber für unsere Kultur waren und sind.

 

Der Rabbiner der Thüringer Landesgemeinde Alexander Nachama beklagt indes einen Mitgliederschwund. Was kann man diesbezüglich tun, gerade auch im Hinblick auf den wieder wachsenden Antisemitismus?

Ich warne davor, jüdisches Leben immer über Antisemitismus zu definieren. So wird sich kein positives Bild unseres Zusammenlebens entwickeln lassen. Die Frage des Antisemitismus haben nicht Jüdinnen und Juden zu klären, sondern wir als Mehrheitsgesellschaft. Wir müssen fragen: Wie können wir es zulassen, dass sich Menschen auf Demonstrationen einen Davidstern anhängen und „Impfgegner“ oder „Impfzwang“ hineinschreiben? Was kann man dagegen machen, dass die Shoa ideell entsorgt wird von Leuten, die sich offenkundig gedankenlos so ein Shirt anziehen oder ein entsprechendes Schild umhängen? Wir müssen die Frage beantworten, wie wir mit Antisemitismus umgehen. Und die vergangenen Wochen haben noch einmal eindrücklich gezeigt, dass der Antisemitismus weder verschwunden noch harmlos geworden ist. Er ist präsent und stellt eine große Herausforderung dar. Aber die begleitet uns schon sichtbar seit dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000. Und trotzdem oder gerade deshalb plädiere ich dafür, im Themenjahr „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“ nicht hauptsächlich über den Antisemitismus und die Shoa zu reden, sondern über die jüdischen Menschen, die bleibende Werte in unserem Land geschaffen und tiefe Spuren hinterlassen haben.

 

Wie zum Beispiel in der Alten Synagoge, in der wir uns gerade befinden. Sie ist einer der ältesten Sakralbauten ihrer Art in ganz Europa.

Die Synagoge ist über 900 Jahre alt und damit eines der ältesten Gebäude Erfurts, sie ist so ein markanter Punkt in der Stadt. Das niederländische Königspaar zum Beispiel hatte den großen Wunsch, sie bei seinem Besuch 2017 zu besichtigen. Überlebt hat die Synagoge übrigens nur, weil sie zufällig in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte eine Scheune war. Deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt die Spuren, die wir haben, wie die Mikwe an der Krämerbrücke und die Alte Synagoge als Museum, als Teile der jüdischen Siedlungsräume für die Menschen sichtbar machen und sagen: Ohne diesen Teil hätte es viele Wachstumsimpulse für diese Stadt nicht gegeben. Erfurt an der Via Regia ist eben auch ein internationaler Ort des Austauschs gewesen, nicht nur für den Handel, sondern auch von Nachrichten und Wissen. Deswegen hat sich hier auch die Universität etabliert. Mit der wiederum auch der junge Student Martin Luther verbunden ist, der sie auf eine ganz andere Weise geprägt hat und dessen Antisemitismus im Alter ja auch zeigt, wie alt diese Form der Herabsetzung und Diskriminierung ist.

Wie können im Themenjahr vor allem die jüngeren Generationen über die Verankerung der jüdischen Kultur in unserem Leben aufgeklärt werden?

Wir müssen sie neugierig machen. Aufklären will ich niemanden. Ich möchte, dass junge Leute selber den Wunsch haben, mehr und genaueres über das jüdische Leben zu erfahren. Dass sie fragen: Was für Spuren davon finden wir in unserem Alltag? An welchen Stellen haben uns äußerliche Einflüsse geprägt und stark gemacht? Weil es immer gut ist, wenn Gesellschaften intensive Außenbeziehungen unterhalten. Schwierig wird es, wenn eine Gesellschaft sich nur noch auf sich selbst bezieht. Dazu gehört zweifellos auch der 1998 bei Bauarbeiten gegenüber der Synagoge entdeckte und mittlerweile weltberühmte „Erfurter Schatz“. Ja, wenn man sich hier im Museum der Alten Synagoge umsieht, findet man viele Zeugnisse einer einzigartigen Goldschmiedekunst. Ich bin richtig froh, dass ich ein Replikat mit nach Tel Aviv nehmen durfte und dort im Museum die jüdischen Wurzeln Erfurts mit in die Ausstellung bringen konnte, um einen zusätzlichen Aspekt jüdischen Lebens zu zeigen, das in Thüringen beheimatet ist. Wir werden ja in vielen israelischen Museen mit gutem Grund und Recht mit den Themen Topf & Söhne und den Verbrennungsöfen gezeigt. Klar ist: Wir müssen auch die Verbrennungsöfen zeigen, deshalb haben wir den Gegenwartsort Topf & Söhne als Gedenk- und Lernort etabliert. Ich nenne deshalb auch diesen Schatz nicht einfach nur „den Erfurter“, sondern spreche vom Jüdischen Schatz von Erfurt und der ist wirklich etwas sehr Besonderes.

 

Bekannt ist Thüringen auch für seine drei jüdischen Kulturfestivals. Wie werden sie in das Themenjahr eingebunden?

Wir sind das Bundesland mit der höchsten Dichte an jüdischen Kulturfestivals. Darauf bin ich stolz. In ihrer Vielfalt sind die Thüringer Tage der jüdisch-israelischen Kultur, das Achava Festival und der Yiddish Summer unglaublich bereichernd. Das wird im Themenjahr noch mal ganz deutlich werden. Diese drei Festivals sind wesentlicher Teil des Festjahres. Und ich darf noch mal einordnen: Wir werden im Themenjahr und nachfolgend in Erfurt die BUGA, den bundesweit durchgeführten Tag der Deutschen Einheit und dann den Deutschen Katholikentag haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir die unterschiedlichsten Wurzeln unserer Stadt erkennbar machen. Dazu gehören auch Bonifatius, die Heilige Elisabeth, die Heilige Radegunde und die Reformation. Und eben die Jüdinnen und Juden, die bei uns wesentliche Impulse gesetzt haben. Immerhin entwickelte sich die Jüdische Gemeinde zu Erfurt im Hochmittelalter zu einer der größten und bedeutsamsten Gemeinden im Heiligen Römischen Reich.

 

Ist das Themenjahr auch ein Impuls für die Bewerbung Erfurts mit seinen mittelalterlichen jüdischen Stätten für einen UNESCO-Welterbe-Titel?

So ist es gedacht und verabredet. Wir beginnen am 1. Oktober mit der Auftaktveranstaltung im Erfurter Kaisersaal. Ein Höhepunkt des Themenjahres wird die Einreichung des UNESCO-Antrages der Stadt Erfurt im Februar 2021 sein.

 

Herr Ramelow, vielen Dank für das Gespräch.

 

Service:

www.thueringen-entdecken.de

www.jlgt.org

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus