Das gewisse Maß in der Sprossachse

Vom 4. bis 10. Februar 2019 geht es auf der Rennschlitten- und Bobbahn in Oberhof nicht nur um Weltcup-Punkte, sondern auch zum 50. Mal um Europameisterschafts-Medaillen im Rennrodeln. TOP traf vor Saisonbeginn am Grenzadler die Olympia-Zweite von Pyeongchang Dajana Eitberger und Ex-Olympiasieger Jens Müller. Mit den beiden Ilmenauern sprachen wir über Talent, Triumphe und die richtige Taktik.

Wir sitzen im Spätherbst bei für Oberhof untypischem Sonnenschein und blauem Himmel auf der Terrasse des Cafés von Biathlon-Legende Frank Luck.

Dajana Eitberger: Jetzt geht es also tatsächlich um Sport …

 

Nicht nur. Es geht auch um die Stadt, wo der Himmel im Volksmund immer blau ist – und ein gewisser Jens Müller Ehrenbürger ist: Ilmenau.

Jens Müller: Ich komme ursprünglich aus Torgau. Meine Eltern sind aber auf Anraten der Ärzte, weil ich immer erkältet war, nach Suhl gezogen. Mit fünf Jahren bin ich dann 1970 in Ilmenau gelandet, wo ich seitdem lebe.

 

Und Ilmenau hat ja auch eine Rodelbahn, da war doch der Weg auf den Schlitten nicht weit?

Jens Müller: Ich war ein hyperaktives Kind, welches heutzutage Tabletten bekommen würde. Ein Arbeitskollege meiner Mutter, Bernd Rossmann (Anm. d. Red.: ehemaliger Trainer und Geschäftsführer des Thüringer Schlitten- und Bobsportverbandes), meinte, dass mehrmaliges Training in der Woche das Richtige für mich wäre. Also bin ich zum Rodeln gegangen.

 

Frau Eitberger, mussten Sie auch mit Sport ruhiggestellt werden?

Nein, ich bin überhaupt kein quirliges Mädchen gewesen. In meinem Zeugnis der ersten Klasse stand: Dajana könnte sich mehr an Sport und Spiel beteiligen. Als wir von der Schule aus einen Wettkampf auf der Rodelbahn hatten, dachte ich mir: „Ihr seid doch alle verrückt, warum fahrt ihr denn auf einem Schlitten da runter?“ Zwei Jahre später, das war 2001, habe ich doch mitgemacht. Und gewonnen. Dann fand ich Rodeln auch gut. Die Nachwuchstrainerin Kerstin Merten sagte zu mir: „Du bist so groß, wir brauchen dich, aus dir kann wirklich was werden.“ Wegen ihrer Überredungskünste bin ich mit ins Trainingslager nach Bucha gefahren. Seitdem bin ich dabei.

 

Ein Jahr zuvor ist Jens Müller Welt- und Europameister geworden. Haben Sie das damals mitbekommen?

Ja, ich habe das im Fernsehen verfolgt. Jens habe ich 2001 auch das erste Mal live in Ilmenau gesehen. Der MDR brauchte ein paar junge Sportler als Requisite für ein Interview mit Hans Rinn und Jens Müller. Die Moderatorin fragte mich nach meinem größten Vorbild und ich sagte: Silke Kraushaar. Oh, nein, stopp, das müssen wir nochmal drehen, das ist natürlich Jens Müller (beide lachen).

Jens Müller: Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

Dajana Eitberger: Diese Geschichte habe ich immer im Kopf, wenn wir uns sehen. Nächstes Jahr mache ich diesen Sport schon achtzehn Jahre und ich kann mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen.

 

Herr Müller, Sie hätten 2019 Ihr 40-Jähriges als Aktiver und Trainer im Rodel- und im Skeletonsport feiern können.

1979 bin ich in Oberhof an die Sportschule gekommen, bis 2001 war ich aktiv. Und anschließend als Trainer.

 

Und das nicht ganz so unerfolgreich.

Ja, außer der olympischen Silbermedaille habe ich alles gewonnen. Meine Stärke war die Konstanz, das Mentale. Als Trainer im Skeleton fehlt mir die Goldmedaille bei Olympia. Das hat leider nicht geklappt. Ansonsten bin ich ganz zufrieden mit dem Erreichten.

 

Warum haben Sie nach der letzten Saison als Skeleton-Nationaltrainer aufgehört?

Es gibt mehrere Gründe. Ich habe mich einmal dazu geäußert, nochmal werde ich das nicht tun.

 

Jetzt haben Sie gerade an der Bahn das Training von Dajana Eitberger verfolgt. Gibt es für Sie wirklich keinen Weg zurück?

Man sollte niemals nie sagen. Aber zu 90 Prozent komme ich nicht zurück.

 

Sicherlich spielt auch die Gesundheit eine Rolle: Sie hatten 2014 einen Herzinfarkt.

Der Verband hatte mir für die Genesung genügend Zeit gegeben. Die Aufgabenverteilung wurde auch entsprechend geregelt, so dass ich den Job gut machen konnte. Zudem war ich von den letzten 40 Jahren fast 20 Jahre unterwegs, das ist eine große Belastung. Und irgendwann überlegt man sich eben, ob es nicht noch andere Möglichkeiten gibt.

 

Kommen wir zur Faszination Rodelsport.

Was macht den Reiz dieser Sportart aus?

Jens Müller: Wer möchte anfangen?

Dajana Eitberger: Was hat dich fasziniert?

Jens Müller: Die Geschwindigkeit, die man in der Bahn erzielt hat. Später war für mich auch entscheidend, sich in der Weltspitze dauerhaft durchzusetzen. Es geht ja bei uns nicht nur darum, in mehreren Läufen die Bahn optimal herunterzufahren, was ja schon ein Problem ist. Es geht vielmehr auch darum, wie man sich taktisch auf die Rennen vorbereitet. Wie man im Hinblick auf die Saisonhöhepunkte trainiert. Dazu kommt noch das Material. Zum Zeitpunkt x ein perfektes Rennen zu liefern, das hat mich fasziniert und angespornt.

Dajana Eitberger: Als ich angefangen habe, war für mich auch die Geschwindigkeit das absolut Faszinierende. Mittlerweile taktiert man die ganze Woche vor einem Wettkampf im Training. Wir haben nur sechs Testläufe vor dem Rennen, danach muss alles sitzen: das Setup, die Fahrspur. Die Geschwindigkeit nehme ich gar nicht mehr so wahr. Das Handling in der Bahn macht es aus! Ich muss

im Kopf genau wissen, was ich mache, wenn ich zum Beispiel die Kurveneinfahrt nicht genau treffe. Das ganze Training ist sehr vielfältig, wir setzen uns ja nicht nur auf den Schlitten und fahren die Bahn runter. Es ist eben nicht nur „Bahn frei, Kartoffelbrei“. Die Leistungsdichte in der Weltspitze ist so eng, dass ich mir jedes Tausendstel erarbeiten muss. Das ist spannend.

 

Entscheidet letztendlich der Kopf über Sieg und Niederlage?

Dajana Eitberger: Für mich sind drei Komponenten entscheidend: Das Material muss auf die Bahn und die Witterungsverhältnisse abgestimmt sein. Ich muss athletisch in Topform sein, sonst wird der Schlitten Herr über meine Sinne. Für mich entscheidet dann, egal in welcher Sportart, immer der Kopf. Man kann besser trainieren und das bessere Material haben, mentale Stärke kann mir aber niemand nehmen.

Herr Müller, legte man zu DDR-Zeiten auch Wert auf mentales Training?

Ja, ich habe das auch gemacht. Später habe ich während meines Trainerstudiums eine wissenschaftliche Arbeit über das Thema geschrieben. Dabei ging es um Selbstregulation über Wortformeln, die man sich selber sagen kann. Das Ganze ist ein Prozess, am Ende steht der eine Satz, der das Gefühl hervorrufen soll, dass du vom Körper her optimal eingestellt bist. Angenommen, fünf Athleten sind in der Lage, um den Sieg mitzufahren, da ist es natürlich wichtig, dass du die Erwartungshaltung so regulierst, dass du dich am Start nur noch darauf konzentrierst, deine optimale Form abzurufen. Das ist die Grundlage für den Sieg! Natürlich musst du dir vorher das notwendige Niveau im Training erarbeitet haben.

 

Sie sind in beiden politischen Systemen erfolgreich gewesen. War der Druck in der DDR größer, weil man ja den „Klassenfeind“ schlagen musste?

Da gab es diesbezüglich schon immer mal eine Ansage. 1988 habe ich bei Olympia in Calgary erlebt, wie Jens Weißflog zerpflückt wurde, weil er nur 9. und 31. wurde. Der Druck ist aber heute auch da. Du weißt, dass du dir nur maximal zwei schlechtere Saisons leisten kannst, dann stehen andere Athleten bereit. Wobei sich dieser Fakt momentan ändert, weil es immer schwieriger wird, überhaupt Talente zu finden und sie dann auch zu formen. Das Problem haben aber viele Sportarten, außer König Fußball.

 

Was verbinden Sie mit Ihrer Oberhofer Heimbahn?

Jens Müller: 1985 wurde ich hier Dritter bei den Weltmeisterschaften, fünf Tausendstel fehlten mir zur Silbermedaille. Ich habe mich auf der Bahn manchmal schwer getan, weil die Erwartungen im Umfeld spürbarer waren als sonst.

Dajana Eitberger: Zuhause zu fahren ist immer etwas Besonderes und aufregend. 2011 wurde ich hier Juniorenweltmeisterin und gab ein Jahr später mein Weltcup-Debüt. Mein erstes Podium bei den Frauen schaffte ich 2013 mit Platz 3 auch in Oberhof. Die Bahn gehört zu den schwersten auf der Welt. Ich kenne sie aus dem Effeff, es ist eine Lenkerbahn, man muss die richtigen Punkte treffen und sich etwas trauen.

Jens Müller: Das stimmt. Oberhof hat enge Kurvenradien, die Frauen erreichen hier 120 km/h, die Männer 130 km/h. Bei den Damen ist der Start zudem kürzer als üblich. Da sage ich dir, Dajana: Da musst du bis in die Kurve hinein acht, neun Paddelschläge machen.

 

Wie viele machen Sie aktuell?

Dajana Eitberger: Fünf!

Jens Müller: Das ist zu dünn.

Dajana Eitberger: Ich muss mich ja auch noch hinlegen vor der Kurve.

Jens Müller: Nein, du musst im Sitzen um die Ecke rum. Mit nur fünf Paddelschlägen fehlt dir oben die Geschwindigkeit.

Dajana Eitberger: Acht bis neun? Ok, ich probiere das mal aus.

 

Was sollte Dajana denn noch verbessern?

Jens Müller: Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich sie bisher beim Fahren nur im Fernsehen gesehen habe. Fehler und Verbesserungspotenzial erkennt man aber nur, wenn man in der Bahn steht. Ich kann ihr nur einen Tipp geben: die höchstmögliche Anfangsgeschwindigkeit zu erreichen. Alles andere sage ich ihr unter vier Augen. Es geht immer um den richtigen Weg in der Bahn, die richtige Mitte zu finden zwischen „Laufen lassen und Weg machen“. Das weiß sie aber.

 

Und wie! Im Februar gewannen Sie in Pyeongchang die olympische Silbermedaille. Ihr bisher größter Erfolg lässt auf der anderen Seite aber auch den Druck jetzt nicht gerade kleiner werden.

Das Silber hat mich natürlich beflügelt und mir gezeigt, wozu ich als Athletin in der Lage bin, auch wenn mir die Bahn in Pyeongchang nicht gerade liegt. Jetzt habe ich richtig Blut geleckt und bin noch motivierter. Das verdanke ich vor allem meinem ersten Trainer in Oberhof, Norbert Hahn. Er hat immer an mich geglaubt und mir bei Olympia nach dem letzten Trainingslauf gesagt: „Dajana, morgen ist alles egal, da greifen Automatismen, die du über Jahre trainiert hast. Du musst nichts Besonderes machen, fahr deinen Stiefel runter. Dann werden wir sehen, zu was es reicht.“ Im Sommer habe ich weiter an diesen Automatismen

gearbeitet, dass ich gar nicht darüber nachdenken muss, ob ich gut bin. Ich weiß das innerlich schon. Dieses Gefühl ist überragend und lässt mich einigermaßen entspannt in die Saison gehen.

 

Herr Müller, Sie haben 2001 Ihren Schlitten in die Ecke gestellt. Wie hat sich das Rennrodeln seitdem weiterentwickelt?

Um einiges, wobei ich das nur noch von außen betrachten kann. Das fängt bei der Aerodynamik an und geht bis zu den Materialien weiter. Die Kufenauflage ist auch deutlich länger geworden, wodurch sich die Lenktechnik verändert hat und man insgesamt sicherer fahren kann. Für uns war es nahezu unmöglich, eine sehr schnelle Abstimmung auf neues Material zu reproduzieren. Damals sind wir am Limit gefahren, lenken konnten wir nur an bestimmten Punkten der Bahn. Das ist heute natürlich aufgrund der Material-Erfahrungswerte einfacher. Man kann fast alles messen im Rodeln, aber einen Schlitten zu bauen, der genauso schnell ist wie der perfekte Vorgänger, das ist mir nicht gelungen.

Dajana Eitberger: Wir lenken hauptsächlich mit den Beinen und Körperverdrehungen im Schulterbereich, zur Not kann man auch mal an den Griffen ruckeln. Mittlerweile habe ich auch ein gutes Gefühl für den Schlitten bekommen und mir ein relativ gutes Know-how angeeignet. Ich muss wissen, was passiert, wenn ich an einer Schraube drehe, wie sich das Gerät dann verändert. Wir tüfteln jedes Jahr aufs Neue, um den Schlitten zu optimieren. Das Lenken ist dabei extrem individuell geworden.

 

Könnten Sie mit dem Schlitten von Tatjana Hüfner auch schnell fahren?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit einem anderen Schlitten zurechtkommen würde. Jeder hat andere Bedürfnisse. Es gibt die Gleiter, die weniger lenken, andere brauchen einen trägen Schlitten, der nicht sofort einlenkt. Ich war lange der Kraftfahrer, ich musste das Ding anpacken können. Im diesjährigen Herbst-Trainingslager in Lillehammer habe ich mit dem Mechaniker besprochen, ob es nicht besser wäre, entspannter auf dem Schlitten zu liegen und weniger zu lenken. Daran arbeiten wir jetzt, denn die Weltmeisterschaft findet im Februar in Winterberg auf einer Gleiterbahn statt. Weniger Bewegungen sind dort der Garant für eine schnelle Fahrt. Jede Lenkbewegung ist eine Bremsbewegung!

 

Anfang Februar finden auf Ihrer Heimbahn die Europameisterschaften statt. Sind Sie schon aufgeregt?

Dajana Eitberger: Das ist natürlich etwas Besonderes für mich. Dass es während meiner Karriere noch einmal eine WM hier gibt, daran glaube ich nicht. Dementsprechend freue ich mich riesig drauf. Und bin dann bestimmt auch etwas aufgeregt.

 

Und Jens Müller wird an der Bahn stehen und zuschauen?

Ich muss mal schauen, ob ich da Zeit habe (lacht).

 

Sie könnten ja im Vorprogramm selber nochmal die Bahn runterfahren.

Nein. Damit es so einfach aussieht, wie es im Fernsehen rüberkommt, musst du athletisch topfit sein. Und dafür muss die Sprossachse, also die Wirbelsäule, ein ausreichendes Maß an Gesundheit aufweisen. Beides ist bei mir nicht mehr gegeben, sodass ich gerne davon absehen würde. Schon gar nicht vom Herrenstart aus, vielleicht vom Juniorenstart. Nein, nein, ich habe damit abgeschlossen, ich fahre ja auch keine Veteranenrennen.

 

Frau Eitberger, Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.

 

TOP Service: www.tsbv.de

www.dajana-eitberger.de

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus