„Noch einmal in der Sahara spazieren gehen.“
Ohne ihn gäbe es die Krämerbrücke in ihrer heutigen Form wahrscheinlich nicht mehr. Ohne das Wirken von Egon Zimpel, dem Maler, Grafiker, Filmemacher und ganz besonderen Menschen. Seit 1972 wohnt der in Burg bei Magdeburg geborene Künstler auf der Brücke. Er hat das Wahrzeichen Erfurts seitdem maßgeblich mitgeprägt.
Für seine Verdienste um das lebendige Denkmal und die kulturelle Vielfalt in der Stadt erhielt der 74-Jährige Ende September von Oberbürgermeister Andreas Bausewein den Ehrenbrief nebst Ehrgabe überreicht.
TOP besuchte Egon Zimpel auf „seiner“ Brücke. Und sprach mit Weggefährten.
„Das habe ich gemacht!“ Egon Zimpel stellt den Kaffee auf die Untertasse und geht zum Couchtisch. Dort liegt eine gelbe Mappe. Durch die Klarsichtfolie erkennt er eine Zeichnung. Beim Blättern streicht sich der 74-Jährige mit der rechten Hand über den Kopf. Er zeigt auf Zeichnungen, auf Bilder, auf Skizzen. Und sieht glücklich aus. Er möchte die Mappe mitnehmen und die abfotografierten Arbeiten mit Namen und Entstehungsdatum versehen. Es sind seine Bilder, aus über 40 Jahren. Es ist seine Geschichte. Sein Lebenswerk. Seine Erinnerungen…
Ich bin an diesem Novembernachmittag zu Gast bei der Holzbildhauerin Gabriele Leuschner, wir sitzen gerade in ihrem Wohnzimmer über ihrem kleinen Laden auf der Krämerbrücke 22 und unterhalten uns über ihren guten alten Freund Egon Zimpel, den sie seit 40 Jahren kennt. Als dieser plötzlich in der Tür steht und fragt, ob er sich zu uns setzten könne. Gabi Leuschner holt Kaffee. Ich sage ihm, dass ich einen Text über ihn schreibe. Er winkt ab: über mich? Dann setzt er sich hin und fängt doch an zu erzählen. Bei Gabi Leuschner fühlt er sich wohl, ihr vertraut er. Er ist fast jeden Tag hier.
Der 1943 in Burg bei Magdeburg geborene Künstler erzählt von seiner Kindheit. Von seiner Mutter, den Vater hat er nie kennengelernt, der ist im Krieg gefallen. Fortan führt die Mutter die elterliche Bäckerei, der kleine Egon hilft nach der Schule mit. Besonders viel Spaß macht ihm das Malen von Preisschildern und das Dekorieren des Schaufensters. Eine Dekorateur-Lehrstelle bekommt er aber nicht, die gibt es nur für Frauen, weil nach dem Krieg die Männer für die körperlich schweren Arbeiten gebraucht werden. Also lernt er beim Onkel den Beruf des Malers. Farben und das Malen mit ihnen ist das, was ihn fasziniert. Vor allem aber das Malen, welches über das Verschönern von Wänden hinausgeht. Also besucht Egon Zimpel einmal die Woche am Abend einen Malkurs. Nach der Armeezeit studiert Egon Zimpel von 1965 bis 1968 in Heiligendamm an der Ostsee Grafik. In dieser Zeit lernt er den berühmten Maler Otto Niemeyer-Holstein kennen, der auf Usedom lebt und vor allem durch seine impressionistischen Landschaftsbilder bekannt wurde.
Nach dem Besuch einer Ausstellung in Rostock beschließt der Lehrling, dem Meister zu schreiben. Er wolle sich mit ihm über seine Kunst unterhalten. Niemeyer-Holstein antwortet und ist nach dem ersten Treffen begeistert von Zimpels Arbeiten. Es entsteht eine enge Freundschaft. „Ich durfte sogar auf sein Haus aufpassen, als er über Weihnachten verreiste“, erinnert sich Egon Zimpel. Dabei schüttelt er den Kopf, als wenn er das immer noch nicht glauben könne. Ein Vertrauensbeweis der besonderen Art. „Niemeyer-Holstein war mein Vorbild, ich habe von ihm so viel gelernt“. Während Zimpel das sagt, nickt er, und lacht. Über das ganze Gesicht, sogar die Augen lachen mit. Er hat ein ansteckendes Lachen.
Nach dem Studium möchte Egon Zimpel etwas Kreatives mit Farben machen. Freischaffender Künstler? Das getraut er sich nicht. Noch nicht. Über einen Bekannten erfährt er, dass das Erfurter Wohnungsbaukombinat einen Farbgestalter sucht. Also zieht er 1968 nach Erfurt, er soll Häuserwände gestalten, „damit sie nicht weiß oder grau werden“, schmunzelt er.
Grau war zur damaligen Zeit auch die Krämerbrücke, dem Verfall preisgegeben. Anfang der 1970er Jahre beschließen die Stadtoberen aber, auf der Brücke wieder Künstler und Handwerker anzusiedeln und die Gebäude schrittweise zu restaurieren. Viele bewerben sich, so auch Gabriele Leuschner. Sie sollte aber noch bis 1983 warten. Egon Zimpel hat da mehr Glück. Eine Bekannte bat ihn 1972, er hat sich gerade als freischaffender Künstler selbstständig gemacht, auf ihre Wohnung auf der Krämerbrücke 4 aufzupassen. Die Bekannte kommt von ihrer Reise nach Westberlin aber nicht zurück. Egon Zimpel bleibt. Bis heute. Auf 50 Quadratmetern im ersten Stock des „Hauses zum goldenen Löwen“. Gegenüber, über dem heutigen Laden „Tintenherz“, richtet er sich für viele Jahre sein Atelier ein.
Nach und nach ziehen immer mehr Künstler und Handwerker auf die Brücke, die 32 Fachwerkhäuser werden eins nach dem anderen restauriert. Es entsteht ein Dorf in der Stadt. „Eine eingeschworene Gemeinschaft“, sagt Egon Zimpel.
Dieser droht nach dem Fall der Mauer das Ende. Die Stadt erwägt, die Krämerbrücke zu verkaufen. Egon Zimpel stellt sich Anfang der 1990er Jahre an die Spitze einer Bürgerinitiative zum Erhalt des Kulturdenkmals. Daraus entsteht 1996 die Krämerbrückenstiftung, die Zimpel lange als Stiftungsratsmitglied vertritt. Zuvor musste aber erst die Brücke erhalten bleiben. Also geht Egon Zimpel in das Rathaus. „Es war an einem Sonntag“, erinnert er sich, „ich erklärte Oberbürgermeister Manfred Ruge, dass er die Brücke nicht verkaufen kann, weil der Stadt nur der Grund und Boden gehört, nicht aber die Häuser.“ Also wäre rein rechtlich ein Verkauf schon gar nicht möglich. Mal ganz abgesehen von der kultur-historischen Bedeutung. Ruge willigt schließlich ein. Ein Glücksfall für die Stadt.
Ein Glücksfall für Egon Zimpel waren seine Reisen, nach dem die Mauern fielen. Er reiste nach Spanien, Rumänien, Italien, Frankreich, Litauen, Brasilien, Peru…Und mehrmals für mehrere Wochen nach Afrika, in die Sahara. „Reine Natur, ohne Eisen, diese Farben. Die Wüste ist immer in Bewegung. Dort würde ich gern nochmal spazieren gehen“, erzählt er mit strahlenden Augen. Dort lernte er, wie die Einheimischen mit farblich unterschiedlichen Sande, Asche, Kaffee und Tee malen. Auf seinen Reisen drehte er die Dokumentarfilme „Die Farben des Windes“ (Sahara) und „Poesie der Legenden“ (Brasilien/Peru), die sich mit der Weitergabe von Kultur bei einst schriftlosen Völkern, zum Beispiel über Felsgravuren und Feldmalereien, beschäftigen.
Zuhause entwirft er preisgekrönte Plakate für die Kulturstadt Europas 1999 Weimar, für die Krämerbrückenfeste, er malt auf selbstgeschöpften Papieren in Verbindung mit Lasuren und unterschiedlichsten Materialien. Es entstehen plastische Grafiken und Materialbilder. Egon Zimpel unterrichtet an der Bauhaus-Universität Weimar und der Fachhochschule Erfurt. Seine Werke werden in ganz Deutschland und darüber hinaus ausgestellt.
Seiner Brücke macht er indes eine ganz besondere Liebeserklärung. Der Maler illustriert Krämerbrücken-Geschichten seines Freundes Hans-Jörg Dost für das gemeinsame Buch „Ein Sommer mit dem Brückenkater Franz“. Franz lebte im Haus Krämerbrücke 22 bei Gabriele Leuschner. „Er ist mehr gewesen als eine Katze“, sagt der Künstler.
Apropos Künstler. „Durch sie“, weiß Egon Zimpel, „ist die Brücke lebendiger geworden. Sie zieht die Menschen an, Touristen genauso wie Erfurter. Die Leute bleiben stehen und bewundern die Häuser und die Geschäfte.
Den Künstler Egon Zimpel selbst würdigte die Stadt Erfurt nun endlich im September 2017. Mit dem Ehrenbrief nebst Ehrgabe. Der wurde bisher nur an Papst Benedikt bei dessen Erfurt-Besuch 2011 verliehen. „Oh, der Papst und dann noch Blumen oben drauf“, so der Geehrte, der Ehrungen gar nicht mag. Für ihn sei es freilich wichtiger gewesen, „Mut und Frechheit besessen zu haben, um bestimmte Dinge durchzuziehen. Und immer Spaß an der Arbeit. Für die Erfurter und die Touristen gibt es aber noch viel zu tun, dass diese Stadt eine wunderschöne bleibt. Also morgens aufstehen, Zähneputzen und los!“ Bürgermeister und Kulturdirektor schauten etwas verdutzt in die feierliche Runde. Aber so ist er eben, der Egon, immer ehrlich und geradeaus.
Den Kaffee hat er längst ausgetrunken. Egon Zimpel verabschiedet sich, die gelbe Mappe unterm Arm. Er geht hinaus, auf die Brücke. Sein Zuhause. Er dreht sich nochmal kurz um, lächelt, und sagt: „Zum Erhalt der Kultur, deshalb sind wir doch immer noch da.“
Für seine Krämerbrückengemeinschaft war Egon Zimpel immer da. Jeden Tag. Jetzt kümmert sie sich um ihn. Egon Zimpel ist an Demenz erkrankt und ist ein paar Tage nach meinem Besuch in ein Heim gezogen.
Text: Jens Hirsch
Fotos: Marcel Krummrich