Der Kopf ist frei
Am 4. Oktober 2020 zog Ai Weiwei beim Luther in Eisenach ein. Zumindest als Kunstwerk. Als „man in a cube“ – als negativer Abdruck des weltbekannten chinesischen Künstlers und Dissidenten. Der 63-Jährige hat ihn höchstselbst aus einem 2.000 Kilogramm schweren Betonklotz filigran herausgemeißelt. Der steht jetzt zweigeteilt im Hof des Lutherhauses, in dem der Namensgeber als Schüler von 1498 bis 1501 gewohnt haben soll. Das Kunstwerk lädt zum Anschauen, Anfassen und Nachdenken ein.
Den 4. Oktober 2020 wird Alexandra Husemeyer so schnell nicht vergessen.
Seit 2008 ist sie für die Öffentlichkeitsarbeit und den Bildungsbereich im Eisenacher Lutherhaus tätig. Als freiberufliche Kulturkoordinatorin hat sie darüber hinaus in den vergangenen 20 Jahren deutschlandweit schon so einiges erlebt. Aber so einen Tag? „Nein“, erinnert sie sich kopfschüttelnd.
Gegen neun Uhr herrschte rege Betriebsamkeit vor einem der schönsten und ältesten Fachwerkhäuser Thüringens auf dem Eisenacher Lutherplatz. Hier steht das Lutherhaus, in dem Martin Luther als Schüler von 1498 bis 1501 gewohnt haben soll. Später begehrte er gegen die katholische Kirche auf und übersetzte als Verbannter auf der Wartburg das Neue Testament. Jetzt, 520 Jahre später, soll ein anderer Intellektueller, ebenfalls von Weltrang, ebenfalls ein Dissident seiner Zeit, in Luthers „liebe Stadt“ und in „sein“ Haus einziehen.
Der neue Mieter kommt per Spezialsattelschlepper, ein zweiter hat Werkzeug und einen mobilen Kran für den geplanten Einzug an Bord. Schweres Gerät für das Künstlerschwergewicht. Passen die zwei jeweils 1,50 Meter hohen und 1.000 Kilogramm schweren Betonscheiben überhaupt durch die schmale Tür der Lutherwerkstatt? Alexandra Husemeyer ist sich da nicht so sicher. Die coolen Berliner Jungs von dem Spezialunternehmen für Kunstguttransporte aber schon. Denn die haben das natürlich vorher ausmessen lassen. Und überhaupt: Sie solle sich mal keine Sorgen machen, schließlich transportieren sie tagtäglich wertvolle Kunstgüter durch ganz Europa. Sagen die Transport-Experten.
Acht Stunden später stehen die beiden Stelen dank Hubwagen, Gerüst und mobilen Kran exakt auf den dafür vorgesehenen Stellen im Hof – unter freiem Himmel.
Die beiden jeweils 1,50 Meter hohen Betonscheiben zeigen einen aufgeschnittenen Block, in dessen Hohlraum der Abdruck vom Körper Ai Weiweis zu sehen ist. Beim Betrachten des negativen Abdrucks scheint das Abbild als eine positive Form herauszutreten und zeigt – je nach Blickwinkel – einen bärtigen Mann. Der Gefangene wird somit sinnbildlich aus der Form heraus „befreit“. „Mit der einsamen Gestalt in dem Betonkubus verarbeitete er seine Zeit in chinesischer Haft und die damit verbundene Erfahrung von Isolation.
Ai Weiwei kauert in diesem Beton und dann hat er den Block aufgesägt und der Kopf ist frei. Der Himmel ist offen“, erklärt Alexandra Husemeyer, die selber zu DDR-Zeiten als Umwelt- und Friedensaktivistin gegen einen totalitären Staat aufbegehrte. Der heute 63-Jährige Ai Weiwei war 2011 nach regierungskritischen Äußerungen in China für 81 Tage an einem unbekannten Ort festgehalten worden.
Die Skulptur ist so ausgerichtet, dass Ai Weiwei Richtung Wartburg blicken kann. Denn auch der als „Junker Jörg“ untergetauchte Kirchenreformer Martin Luther hat vor fast 500 Jahren in Isolation – vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 – auf der nahe gelegenen Wartburg das Neue Testament aus dem Griechischen übersetzt. Natürlich könne man, so Alexandra Husemeyer, Ai Weiweis Einzelhaft in einem Gefängnis in China nicht mit dem Aufenthalt von Junker Jörg auf der Wartburg vergleichen. Es ist aber das gleiche Thema. Ai Weiwei sagte über seine Haft: „Was bleibt mir, wenn ich in Haft bin, wenn ich isoliert bin. Ich habe nur meinen Geist. So lange mir der nicht genommen wird, kann ich das aushalten, weil ich hoffentlich in meinen Gedanken, in meiner Bibliothek im Kopf spazieren gehen kann.“ Die Kraft des Geistes, der Bildung und des Wissens, das schätze er an Luther. Auch wenn Luther selbst im Winter des Jahres 1521 in Isolation zunächst depressiv wurde. Erst der Theologe und Reformator Spalatin überredete ihn, das Alte Testament aus einer griechischen Ausgabe von Erasmus von Rotterdam ins Deutsche zu übersetzen. „Das war seine Rettung. Durch die Arbeit hat Luther die Depression überwunden“, so Alexandra Husemeyer.
Ai Weiwei hatte die Skulptur „man in a cube“ zum Reformationsjubiläum 2017 für die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ geschaffen, die im ehemaligen Gefängnis in der Lutherstadt Wittenberg zu sehen war.
Gesehen hat sie dort auch Pfarrer Johannes Sparsbrot, der zu der Zeit im Kirchenkreis Eisenach-Gerstungen als Pfarrer für Ökumene, Mission und Kunst angestellt war. Er möchte, dass sich Thüringen die Skulptur als einmalige internationale Lutherrezessionen aus dem 21. Jahrhundert sichert. Schließlich gehört das Lutherhaus in Eisenach zu den europäischen Kulturerbestätten und zählt zu den bedeutendsten Erinnerungsorten der Reformation in Deutschland. Also setzten sich Johannes Sparsbrot und vor allem Dr. Jochen Birkenmaier, Leiter und Kurator der Stiftung Lutherhaus Eisenach, beharrlich dafür ein, den Kaufpreis von 500.000 Euro aufzutreiben. Ende 2019 war es soweit. Dank Sponsoren, Unterstützern und Förderern, die größten Geldgeber sind das Kultusministerium des Bundes sowie die Kulturstiftung der Länder, konnte der Kauf zwischen der Evangelischen Kirche Mittelthüringen (EKM) als Trägerin der Stiftung Lutherhaus Eisenach und der Galerie Neugerriemschneider, die Ai Weiwei vertritt, abgeschlossen werden.
Seit dem 5. Oktober 2020 ist „man in a cube“ im Lutherhaus in Eisenach zu besichtigen. Man darf den Mann im Beton übrigens auch anfassen.
Inwieweit sich der neue „Bewohner“ bereits eingelebt hat, dazu wollte Alexandra Husemeyer nichts sagen. Zu erzählen haben sich die beiden ja so sicherlich einiges.
Text: Jens Hirsch
Foto: Alice End, Studio Ai Weiwei