Der Antikünstler

„Was hast du alles gemacht, um so weit zu kommen“, fragt ein Kunststudent Marc Jung zu Beginn seines Vortrages an der Bauhausuniversität Weimar. Der diplomierte Künstler überlegt kurz und antwortet: „Nichts, außer zu arbeiten. Alles andere ist passiert.“ Stille im Saal. „Und“, fährt Marc Jung fort, „ich habe einfach das gemacht, was mir gerade durch den Kopf ging. Das ist das Wichtigste.“

Marc Jung. Ein Porträt.

 

Dass der 28-jährige Erfurter Künstler und derzeitiger Dresdner Meisterklassenschüler Vorträge an Schulen und Universitäten hält, in der Aufnahmejury der Bauhausuniversität sitzt und Bewerber beurteilen soll, ob sie künstlerisch begabt sind und einen der begehrten Studienplätze verdienen, ist für ihn immer noch „verrückt“.

Ausgerechnet er, der 2006 zu seiner eigenen Aufnahmeprüfung an der Bauhausuni, nach dem er ein Jahr zuvor abgelehnt wurde, einen geschlagenen Tag zu spät kommt, um dann im Laufe des Studiums der Freien Kunst nie richtig anzukommen. Ausgerechnet er, der eine hanebüchene Geschichte als Ausrede erzählt und der Glück hat, dass die Sekretärin ihm glaubt und die Professorin Elfi Fröhlich anruft, die ihn dann auf dem Gang anhört, sich seine Mappe ansieht, ihn aufnimmt, durchboxt und bis zum heutigen Tag unterstützt. Wie auch später die Galerie| Kunsthaus Erfurt. Weil sie von Anfang an das Talent gesehen haben. „Dabei ist es so schwierig einzuschätzen, wer wirklich Talent hat. Mit meiner damaligen Mappe hätte ich mich als Juror auch nicht angenommen“, sinniert Marc Jung.

 

Und willkommen war er in der Kunstwelt der Klassikerstadt auch nicht wirklich, „weil ich nicht der klassische Kunststudent war“. Er war Sprayer und vor allem Leistungssportler. Ringer, fünf Mal Training die Woche, am Wochenende für Albrechts bei Suhl in der 2. Bundesliga auf der Matte. Sport ist wichtig, Kunst wählt er im Abitur als Leistungskurs nur, „weil ich sonst nicht wusste, was ich machen sollte.“

Währenddessen fängt Marc Jung mit Graffiti an. Styles, Buchstaben. Er braucht zwei Stunden für ein illegales Bild an einer Häuserwand. In der Szene ist das eine Ewigkeit, unprofessionell. Sogar die Polizei ist überrascht, dass er so lange braucht. Er wird festgenommen. Den Schadensersatz arbeitet er für eine Wohnungsbaugenossenschaft ab, indem er per Dose einen Durchgang in der Berliner Straße mit einer abstrakten Landschaft verschönert. „Das war der Anfang, danach habe ich mit figürlichen Sachen begonnen“, erinnert er sich. Er wird immer dogmatischer, sauberer, schneller, akkurater. Für die Stadtwerke gestaltet er hochoffiziell Stromhäuschen. Das wird ihm aber schnell zu langweilig. Zusammen mit seinem Freund Manuel Heischel sprayen sie fortan als „Nuttenkinder“. Der Stil wird unsauberer, künstlerischer. Das Kunsthaus Erfurt wird aufmerksam auf die Arbeiten, ohne zu wissen, wer dahinter steckt.

Marc Jung möchte malen, zeitgenössisch. Das Realistische, Naturverbundene ist nicht seins. Wenn er heute zeitgenössische Projekte in Schulen begleitet, „laienhaft“, wie er es nennt, erklärt er den Schülern, dass er auch gern in der Schule etwas über zeitgenössische Kunst erfahren hätte, wie es die Künstler heute machen und nicht vor hundert Jahren. Nach Picasso ist ja noch eine Menge passiert. Dann merken die Jugendlichen plötzlich, das ist ja gar nicht so weit weg von uns.

An der Bauhausuniversität ist er selber Lichtjahre weg. Ein Außenseiter. Er möchte malen, die anderen Materialien interessieren ihn nicht. „Die ersten vier Semester wusste ich nicht, was ich da machen soll.“ Für die anderen ist er „der Sportlertyp.“ Die wenigsten machen Malerei. Es gibt keinen Austausch. Der Inhalt wird besprochen, das Medium ausgesucht, so ist das Studium aufgebaut. „Was soll ich machen, damit ich sagen kann, das bin ich?“, fragt er sich.

 

Anfang 2009 sitzt Marc Jung in seinem ersten eigenen Atelier im Erfurter Zughafen, er will das Studium schmeißen, die Uni wechseln oder eine „normale“ Ausbildung beginnen.   Sinnkrise. Während er sich sein Skizzenbuch mit seinen Zitaten anschaut, macht es klick. Die Schnelligkeit, das Unfertige, teilweise auch Aggressive der Skizzen. „Das ist es, was du willst. Mach jetzt einfach das, was dir gerade durch den Kopf geht.“ Er malt Kinder, die verloren durch die Nacht irren, wie er selber in Weimar. Dazu beschäftigt er sich mit Objekten, baut realistische, einfache Figuren. Vieles entsteht beim Arbeiten, nie malt er eine Skizze eins zu eins ab. Er arbeitet ununterbrochen, macht 200 Zeichnungen. Zur selben Zeit wird sein Vater, zu dem er kaum Kontakt hatte und hat, schwer krank. Die Krankheit ist zu 50 Prozent vererbbar, man stirbt nach ein paar Jahren. „Das war ein krasser Moment“, der seine Sinne schärft. „Egal, mach deine Sachen jetzt weiter“, puscht er sich. Plötzlich sieht er, was schon immer da war. Den Test hat er bis heute nicht gemacht.

 

Er möchte raus aus Weimar. Düsseldorf, Tokio? Oder Wien, dort ist Daniel Richter Professor. „Baselitz, Richter, Meese. Solche Sachen wollte ich auch immer machen.“ Es wird ein Jahr Wien, Malereiklasse bei Daniel Richter!

Marc Jung betritt ein neues Feld. Er beginnt, auch auf der Leinwand grafisch zu arbeiten. Reduziert, ein Mix aus Zeichnung, Malerei und Dose entsteht, mit immer mehr Farbe. Er verarbeitet, was um ihn herum passiert, Vater-Sohn-Beziehung, alltägliche Sachen. „Es geht um den Blick der Leute auf eine Sache. Ich sitze immer zwischen den Stühlen, beim Sport bin ich der Künstler, in der Kunst der Sportler. Ich fühle mich als Beobachter, beschreibe den Zeitgeist. Was ich male, habe ich so gesehen, es sind tagtägliche Dinge, bei denen ich oft denke, das kann doch nicht wahr sein.“ Marc Jung, der Antikünstler, möchte den Betrachter bewusst überfordern. Oft ergeben Bild und Installation erst einen Sinn, wenn man sie im Kontext betrachtet. Sein Mix aus der Hochkultur der bildenden Kunst mit Bodenständigem kommt äußerst gut an in der Welt, die ihm eigentlich immer fremd war und ist. Ausstellungen in Erfurt, Weimar, Jena, Berlin, Bonn, Dresden, Jakarta … belegen das.

 

Der Vortrag ist zu Ende. „Was hat sich verändert, seit du so erfolgreich bist?“, fragt eine Studentin fast andächtig. Marc Jung muss schmunzeln. „Am Anfang haben mich alle ausgelacht, als sie meine ersten Arbeiten gesehen habe. Jetzt, nachdem ich ein wenig Erfolg habe, finden sie sie plötzlich alle toll. Das ist krank. In Berlin gibt es Tausende wie mich. Für mich hat sich nichts verändert.“ Was er nach Beendigung des Meisterklassenkurses in Dresden macht?

 

„Erfurt? Berlin? Ausland? Ich habe nichts geplant, es wird einfach passieren.“

 

Fotos: Marcel Krummrich