Auf der Jagd

 

Oktober, kurz vor 14 Uhr. Es nieselt an der Radrennbahn im Andreasried in Erfurts Norden. Marcel Kittel kommt um die Ecke, leicht verschnupft und geschafft vom Umgraben und Randsteinsetzen im elterlichen Garten am Vormittag. In der rechten Hand hält der 26-jährige Arnstädter das maillot jaune, das Gelbe Trikot der Tour de France.

Nach einer überaus erfolgreichen Saison mit 14 Siegen hat der beste Radsprinter der Welt jetzt vier Wochen Urlaub. Für TOP MAGAZIN nimmt sich Marcel Kittel an diesem Nachmittag zwei Stunden Zeit und spricht mit uns über die lange Zielgerade, sauberen Sport und das schönste Hobby der Welt.

Herr Kittel, laut Ihrem Twitter-Account freuen Sie sich im Urlaub besonders auf erholsame Tage und Partys.

Ja, ich gehe gern mit Freunden weg, brauche den Ausgleich zum Leistungssport. Letztes Jahr habe ich 225 Tage nicht im eigenen Bett geschlafen, wenn ich dann mal nach Hause komme, möchte ich auch mein Leben leben. Ich bin keine Maschine, die jeden Tag nach demselben Schema funktioniert. Genauso freue ich mich aber auch darauf, einfach auf der Couch zu liegen und mal nichts zu machen.

 

Wenn Sie da so entspannt liegen, denken Sie manchmal auch an die Anfänge Ihrer Karriere zurück?

Natürlich, denn es ist ja nicht selbstverständlich, Profi zu werden. Deshalb schätze ich auch jeden einzelnen Sieg, weil ich weiß, dass ich auch viel Glück hatte. Viele meiner Freunde, die mit mir zusammen angefangen haben, sind auch relativ weit gekommen, keiner hat es aber zu den Profis geschafft.

 

Wie haben Sie es geschafft?

Sport hat bei mir schon immer eine große Rolle gespielt, meine Mutter war Leichtathletin, mein Vater Radsportler. Das hat mich geprägt. Ich war zwar auch mal bei einer Chorprobe und in der Kunst AG, aber das war nichts für mich. Schließlich ist der Sport übrig geblieben. Angefangen habe ich in der Grundschule mit Leichtathletik, das hat mir aber mit der Zeit keinen großen Spaß mehr gemacht.

 

Dann musste der Vater Ihnen nach einem Alpenurlaub ein Rennrad besorgen.

Genau, 2001 habe ich mit der Leichtathletik aufgehört. Im Sommerurlaub in Tirol hatte mein Vater sein Rennrad dabei. Das hat mich neugierig gemacht und ich fragte ihn nach dem Urlaub, ob ich das auch mal probieren könnte.

 

Und wie war die erste Probefahrt?

Anstrengend. Ich fuhr meine erste Runde im Sommer 2002 bei großer Hitze rund um Ichtershausen und Apfelstädt, ungefähr 30 Kilometer. Nach einer Stunde lag ich fix und fertig zu Hause auf dem Küchenboden. Ich habe das Gefühl aber auch genossen, wirklich etwas gemacht zu haben. Das war ein sehr schönes Gefühl. Von da an habe ich immer weiter gemacht, zunächst in einer Trainingsgruppe in Arnstadt. Der nächste Schritt war die Sportschule in Erfurt. Von da an war es kein Hobby mehr und spätestens ab dem Junioren-Bundesligateam 2007 war für mich klar, dass ich Profi werden möchte.

 

Obwohl die Nachwehen des größten Doping-Skandals der Radsportgeschichte noch zu spüren waren?

Als die ganze Dopinggeschichte, vor allem der deutschen Radsportler, ab 2006 bekannt wurde, war das schon ein Moment, wo ich überlegt habe, was machst du, wenn du es zu den Profis schaffst und die verlangen von dir auch, zu dopen? Ich hatte dann aber großes Glück, dass ich 2011 ein Profi-Angebot vom Skil-Shimano-Team bekommen habe. Mit deren Philosophie eines dopingfreien Radsports konnte ich mich zu einhundert Prozent identifizieren.

 

Für viele Deutsche brach damals eine Welt zusammen, als „ihr“ Held Jan Ulrich 2006 des Dopings überführt wurde. Für Sie auch?

Es war natürlich ein Schock, aber zum Glück hatte ich nie ein Idol, dem ich nachgeeifert bin, deswegen hat mich das nicht so getroffen. Mein Antrieb für den Sport war immer mein Vater.

 

Zusammen mit Ihren Kollegen Tony Martin und John Degenkolb fordern Sie, dass die Hintermänner des Dopinggeschäfts zur Rechenschaft gezogen werden, bis zur Gefängnisstrafe.

Wir fordern, dass es ein Gesetz geben muss, das klar sagt, dass Doping Betrug ist und dass auch die Hintermänner, die die Mittel beschaffen, bestraft werden.

Wir gehen unseren eigenen Weg und wissen, dass wir unseren Sport sauber betreiben. Nach all den schwierigen Jahren fordern wir jetzt aber auch mehr Vertrauen für den Radsport ein.

 

Mit Erfolg, wie die Wahl zum Aufsteiger des Jahres bei der Goldenen Henne 2014 und zum Sportler des Jahres 2013 der SPORT1-User zeigt. Sie verwiesen dabei die Superstars Philipp Lahm und Sebastian Vettel auf die Plätze.

Es gab in Deutschland lange die vorherrschende Meinung, die dopen sowieso alle, das war sicherlich auch teilweise richtig, aber nach dem Zusammenbruch blieb die Meinung einfach so im Raum stehen. Zum Glück merken die Menschen langsam, dass sich viel getan hat, ein Umdenken stattgefunden hat.

Deswegen bin ich sehr stolz auf die Auszeichnungen, die nicht nur mir gelten, sondern dem gesamten Radsport.

 

Sie absolvieren jedes Jahr um die 35.000 Trainings- und 13.500 Wettkampfkilometer. Was treibt Sie immer wieder in den Sattel?

Ich motiviere mich immer wieder selber. Wenn man nicht freiwillig sechs Stunden auf dem Fahrrad sitzen will, dann geht es nicht. Natürlich frage ich mich auch manchmal, warum ich das eigentlich jeden Tag mache, wenn ich zum Beispiel im Winter bei Kälte und Regen fahre und ich die Finger nicht mehr bewegen kann. Wenn ich dann aber zu Hause im Bett liege, denke ich, du hast es überstanden und so schlecht war es doch auch gar nicht. Mit diesem Gefühl macht man dann immer weiter. Natürlich brauchte auch ich gerade am Anfang auch mal einen Tritt in den Allerwertesten von meinem Trainer oder meinem Vater. Ich war auch zu Beginn nicht erfolgreich, bin hinterhergefahren, aber das Wichtigste ist, dass man alles gegeben hat.

Hinterherfahren tun Sie schon lange nicht mehr. Sie sind aktuell der beste Radsprinter der Welt, haben acht Etappensiege bei der Tour de France auf dem Konto. Nur Erik Zabel steht mit zwölf Siegen in der deutschen Bestenliste noch vor Ihnen … Wenn Sie 2015, wie 2013 und 2014, wieder vier Siege schaffen, haben Sie ihn nächstes Jahr eingeholt.

Mein Ziel ist es nicht, Rekorde zu brechen. Als ich mit Radsport anfing, habe ich auch nicht gedacht, dass ich Profi werde und an der Tour teilnehme. Jetzt ist es aber so gekommen und ich mache mir am wenigsten Stress, wenn ich mir vornehme, weiterhin so erfolgreich wie möglich zu sein. Natürlich bin ich immer auf der Jagd nach Siegen, aber nächstes Jahr beginnt alles wieder bei null und ich muss mich neu beweisen.

 

Der Druck, gerade von außen, wird aber nicht weniger.

Das stimmt. Ich spüre ihn, aber ich komme damit ganz gut klar.

 

Sie haben als Sprinter nur die Chance, eine Etappe zu gewinnen, wenn das Feld geschlossen auf die Zielgerade fährt. Was passiert dann auf den letzten 500 Metern?

Wir besprechen das Finale im Team vor dem Rennen, kurz vor der Zielgeraden reden wir dann noch mal über Funk mit den Trainern und im Feld miteinander, wie wir den Sprint jetzt gestalten wollen. Zum Beispiel, auf welcher Seite der Straße wir nach vorne fahren wollen, was vom Profil abhängt. Im Finale selbst braucht es dann keine große Kommunikation mehr, wenn ich mit den erfahrenen Jungs in meinem Team zusammenfahre. Ich bin vor den Rennen auch nicht abergläubisch und habe keine Rituale.

 

Mit Tempo 70 geht es Richtung Ziellinie. Nur ganz wenige Fahrer können dieses hohe Tempo so lange halten. Können Sie uns die Kräfte beschreiben, die da wirken?

Jeder Fahrer hat seine maximale Wattleistung, die er treten kann. Je schwerer man ist, umso mehr muss man dafür treten. Ich wiege 85 Kilogramm, deswegen muss ich sehr hohe Wattzahlen treten, um vorne dabei zu sein und um zu gewinnen. Mein Konkurrent Mark Cavendish mit seinen 72 Kilogramm muss entsprechend weniger treten, das heißt aber nicht, dass er langsamer ist. Die Wattzahl sagt nicht viel darüber aus, wie gut ein Sprinter ist.

Zum Vergleich, ich kann im Sprint zwischen 1500 und 1800 Watt fahren, mit dem Stadtrad fährt ein Nichtradsportler bei 25 km/h so an die 150 Watt, wenn es leicht bergauf geht, vielleicht auch 250 Watt, dann wird er aber schon ganz schnell langsamer.

 

Mit Ihren 1,88m und 85kg können Sie schon aus rein physiologischen Gründen die dreiwöchige Tour de France nie gewinnen.

Das stimmt, ich als Lkw komme die Berge eben nicht so schnell hoch. Deshalb brauche ich auch bei Olympia oder den Weltmeisterschaften einen flachen Kurs, um überhaupt eine Chance zu haben.

 

Grämt Sie das manchmal?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin dankbar, dass ich die Gabe habe, so schnell sprinten zu können. Das Rennen fahren mit dem Team, das Sprinten bei hohen Geschwindigkeiten, das Gefühl zu siegen, das macht mir einfach Spaß, ich liebe das. Dazu lerne ich die Welt von meinem Rennrad aus kennen. Für mich ist Rad fahren das schönste Hobby der Welt.

 

Was war Ihr bisher wichtigster Etappenerfolg?

Der Sieg bei der ersten Etappe der Tour de France in diesem Jahr, weil der Druck spürbar war. Es war ein riesiger Befreiungsschlag für mich, dass ich das nach 2013 noch mal geschafft habe.

 

Fährt sich das Rad dann auf der nächsten Etappe eigentlich von alleine, wenn man das Gelbe Trikot trägt?

Das kommt einem tatsächlich so vor, gefühlt fährt sich das Rad um zwei Drittel leichter. Das liegt natürlich auch an den Fans an der Strecke, die den Gelben noch mehr anfeuern als die anderen Fahrer. Das beflügelt zusätzlich.

 

Sie fahren seit 2011 für das niederländische Profiteam Giant-Shimano. Wäre es nicht großartig, für ein deutsches Pro-Tour-Team zu starten?

Na klar ist das ein Traum, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Leider gibt es derzeit aber kein deutsches Pro-Tour-Team.

 

Herr Kittel, vielen Dank für das Gespräch.

 

Fotos: Marcel Krummrich