„Dann schon lieber Thüringer Klöße mit Rouladen“

 

Mitte der 80er Jahre gründete Michael Campioni in Erfurt die erste private Behindertenwerkstatt der DDR. Nach der Wende kaufte der gelernte Elektromaschinenbauer und Handelskaufmann eine insolvente Tischlerei im Schwarzwald und wollte anschließend in Vietnam, wo er Mitte der 70er Jahre in der DDR-Botschaft arbeitete, Fenster produzieren. Die Vietnamesen wollten aber lieber Thüringer Bratwürste. Also startete Michael Campioni mit sieben Mitarbeitern eine Wurstproduktion. Heute produzieren 300 Mitarbeiter TÜV-zertifizierte Wurstspezialitäten. Vietnam ist zu seiner zweiten Heimat geworden.

TOP THÜRINGEN traf den 68-Jährigen in Erfurt und sprach mit ihm über die beste Bratwurst, Organisationstalent und neue Essgewohnheiten.

freier Journalist aus Erfurt/Thüringen – Interviews, Geschichten, Reportagen, PR-Texte, Pressemitteilungen, Content-Marketing, Redaktion von Broschüren.

Herr Campioni, hatten Sie heute schon Kontakt nach Vietnam?

Ja, den habe ich jeden Tag. Unser Sohn Andreas arbeitet seit zehn Jahren in der Firma als internationaler Marketingdirektor, er lebt dort mit seiner vietnamesischen Frau und unserer Enkelin. Aber auch unsere Tochter Christiane, Restauratorin, hat mit ihrem Mann in Hanoi die Firma „byCampioni“ gegründet.

 

Sie haben sich aus dem aktuellen Tagesgeschäft zurückgezogen?

Ja, das fällt mir aber noch schwer. Oft sage ich Wir, wenn es um die Firma geht. Andererseits bin ich jetzt 68 und zufrieden und glücklich, wenn ich auf mein Berufsleben zurückblicke. Ich würde alles wieder so machen. Jetzt mache ich nur doch das, was mir Spaß macht. Zum Beispiel mit dem Motorrad durch Vietnam fahren oder durch Thüringen mit meinem restaurierten 61`er Sport-AWO Gespann. Ich engagiere mich aber u.a. auch noch als Erfurt-Botschafter und als Gründungsmitglied des Bratwurstmuseums in Holzhausen.

 

Die Bratwurst hat Ihr Leben verändert. Ist sie auch Ihre Lieblingsspeise?

Nein, das sind dann schon lieber Thüringer Klöße mit Rouladen.

 

Gibt es denn einen Unterschied zwischen einer vietnamesischen und einer Thüringer Rostbratwurst?

Die vietnamesische Bratwurst ist etwas kleiner, das liegt an der Verpackungsgröße, und sie kostet umgerechnet nur ca. 40 Cent. Der einzige wirkliche Unterschied ist aber der Salzgehalt. Die Asiaten sind sehr salzempfindlich und deswegen machen wir weniger Salz rein. Ich hatte das anfangs nicht geglaubt, aber schon ein Gramm mehr haben sie gemerkt und sich beschwert. Ansonsten ist die Rezeptur identisch, die habe ich mir schließlich in Thüringen besorgt.

 

Hand aufs Herz, welche schmeckt besser?

Unsere, die Thüringer ist mir oft zu salzig.

 

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, in Vietnam Thüringens Grundnahrungsmittel Nr. 1 herzustellen und zu verkaufen?

Eigentlich wollte ich ja Anfang der 90er Jahre in Vietnam Kunststofffenster produzieren und verkaufen. Ich bin dann aber Vorort gefragt worden, ob ich als Thüringer nicht Thüringer Wurst mitbringen könnte. Viele Vietnamesen kannten sie, weil sie in der DDR gelebt und gearbeitet haben. Nachdem ich immer wieder darauf angesprochen wurde, begann ich, mich damit zu beschäftigen. Per Handschlag gründete ich mit meinem Freund Dr. Mai Huy Tan, den ich Anfang der 90er Jahre in Hanoi kennen gelernt habe, quasi unsere Firma. Wir fangen jetzt einfach an, sagten wir uns.

 

Sie waren gelernter Elektromaschinenbauer und Handelskaufmann, aber kein Fleischer.

Ja, zu dem Zeitpunkt hatte ich von dem Gewerbe überhaupt keine Ahnung. Ich dachte, wenn ich lerne, wie ein Schwein geschlachtet wird, kann ich das in Vietnam auch machen. Ein Thüringer Fleischer zeigte mir das Schlachten und wie man Bratwürste herstellt. Ich kaufte Gewürze, Born Senf und eine Wurstfüllmaschine und verschiffte alles nach Hanoi. Dr. Tan kümmerte sich um die Genehmigungen. Ein Fleischermeister begleitete mich anfangs und brachte einigen ehemaligen Reisbauern das Wurstmachen bei. Wenige Wochen später haben wir uns Fleischerjacken angezogen und in einem Biergarten in Hanoi die ersten Xuc xich, also Thüringer Rostbratwürste, gebraten und verkauft.

 

Wie war die Resonanz?

Das weiß ich noch ganz genau. Die ersten Kunden waren eine Familie mit zwei Kindern. Der Vater kostete die Wurst und sagte, so kenne er das aus der DDR. Dann durften die Kinder essen.

 

Mittlerweile beliefert die Firma Restaurants, Supermärkte, die Metro sowie die Bahn- und Fluggesellschaft. Hätten Sie sich das jemals träumen lassen?

Nein, ich habe das Handwerk ja nicht gelernt. Ich hatte aber den Mut, das zu wagen und durchzuziehen. Ich war schon immer ein Organisator und Macher. Schon zu DDR-Zeiten habe ich mich selbstständig gemacht und in Erfurt die erste private Behindertenwerkstatt gegründet, in der wir Zierfutter für Fische hergestellt haben. Darauf bin ich heute noch stolz. Es ist doch spannend, etwas aufzubauen, zumal, wenn man so weit weg von zu Hause ist. Wir haben in Vietnam mit sieben Mitarbeitern angefangen, jetzt sind es knapp 300.

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Die arbeiten in einer modernen Fabrik, die Sie 2004 selbst geplant und auf einem Reisfeld gebaut haben.

Als wir unsere Fabrik 35 Kilometer nördlich von Hanoi errichteten, habe ich sie zuvor mit einem Erfurter Fleischer zu Hause am Schreibtisch projektiert. Ich war in ganz Deutschland unterwegs und habe Maschinen, zumeist aus Konkursmasse, gekauft. Dann wurden 14 40-Fuß-Container in Österreich gepackt, nach Hamburg gebracht und nach Vietnam verschifft. Ich habe dort die Packlisten sortiert, zugeordnet und mit 80 Leuten innerhalb von zwei Tagen alles entladen und aufgebaut. Da waren teilweise zwölf Meter lange Isolierpaneele dabei. Hebebühnen gab es nicht, also haben wir dank meiner DDR-Erfahrung Seilwinden und Flaschenzüge gebaut. Die Österreicher haben nur mit dem Kopf geschüttelt. Aber es hat alles funktioniert. Auf dem Firmengelände waren damals tatsächlich Reisfelder, die wir einmauern mussten und dann aufgefüllt haben. Heute ist dort ein großer Industriepark mit vielen internationalen Firmen. Wir waren die Ersten.

 

Wie viele Bratwürste werden dort pro Jahr produziert?

Das ist eine typische Journalistenfrage, die ich nicht genau beantworten kann. Wir produzieren jedenfalls so viel, dass theoretisch jeder der 92 Millionen Vietnamesen einmal im Jahr eine Wurst essen kann.

 

Ihr Erfolg blieb auch in der Heimat nicht unbemerkt. Anfang der 2000er Jahre kam hier das Gerücht auf, dass Sie Ihre vietnamesischen Würste bald auch in Thüringen verkaufen würden.

Das wurde im Radio verbreitet. Das stimmte natürlich nicht, aber die Aufregung war groß und ich musste öffentlich klarstellen, dass da überhaupt nichts dran ist.

 

Wäre das denn rein theoretisch möglich?

Ja, alle unsere Produkte sind vom TÜV-Rheinland zertifiziert. Als wir angefangen haben, gab es in Vietnam keinerlei Unterlagen und Bezeichnungen über Fleisch, Fleischarten und deren Verarbeitungsmöglichkeiten. Es gab nur mageres und fettes Fleisch. Wir haben verschiedene Wurstprodukte eingeführt und mein Sohn hat Informationsbroschüren angefertigt. Mit unserer Biergartenwurst, einer Art Chili-Bockwurst, haben wir sogar auf einer Lebensmittelmesse eine Goldmedaille gewonnen. Wir produzieren auch unseren eigenen Senf, nach einer alten Thüringer Rezeptur aus zwei Senfsaaten. Zur Konservierung nehmen wir Reisessig. Mit dem Senf haben wir sogar inkognito bei Geschmackstests in Thüringen gewonnen.

 

Ihr absolutes Top-Produkt ist aber die Wurst am Stiel, oder?

Das stimmt, sie ist aus einer Notsituation entstanden. Uns waren an einem Verkaufsstand Brot und Brötchen ausgegangen, es standen aber immer noch Leute an und wollten eine Wurst. Da habe ich überlegt und die Wurst auf ein Essstäbchen aufgespießt. Wurst am Stiel. Seitdem ist sie ein Renner.

 

Ist Vietnam im Laufe der Jahre so etwas wie eine zweite Heimat geworden?

Auf jeden Fall. In der Addition war ich vielleicht fünf Jahre in Vietnam.

Meine Frau und ich sind am 8. Juni 1975 in Hanoi angekommen, knapp sieben Wochen nach dem Ende des Vietnamkrieges. Zwei Jahre habe ich in der Verwaltung der DDR-Botschaft gearbeitet und in dieser Zeit viele Freundschaften geschlossen, die ich heute noch pflege. Mein bester Freund Vuong Anh Tuan ist vor drei Wochen gestorben, da merkt man, wie stark man mit diesem Land verbunden ist.

Es macht mich auch stolz, wenn die Vietnamesen heute zu mir sagen, „Wir haben Deine Wurst im Kühlschrank“.

Ein Freund meinte sogar: „Weißt Du eigentlich, was Du mit Deiner Schnapsidee geschafft hast? Du hast die Essgewohnheiten eines Volkes verändert.“

 

Herr Campioni, vielen Dank für das Gespräch.

 

Fotos: Mario Hochhaus, Michael Campioni