„Dem Affen mal kurz Zucker geben.“

„Selb ist ungewöhnlich, hat einen ganz bestimmten Reiz. Sie spricht aus, was andere vielleicht denken. Andere Leute vor den Kopf stoßen, das Unfreundlichsein, das bereitet mir so einen Spaß an dieser Rolle.“ Das sagt die in Jena aufgewachsene Schauspielerin Luise Wolfram über ihre Rolle als BKA-Ermittlerin Linda Selb im Bremer Tatort. Im Dezember wird der zweite Fall des neuen Teams ausgestrahlt. Zu sehen ist die vielseitige Schauspielerin darüber hinaus Ende des Jahres auf Sky in der dritten Staffel der Erfolgsserie „Das Boot“. Ein Gespräch mit der Wahl-Berlinerin über Fiktion, ein Initialerlebnis, ihr Heimatgefühl und die Erlaubnis, Regeln zu brechen.

Frau Wolfram, die Selb ermittelt jetzt im Bremer Tatort mit Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Mads Anderson (Dar Salim). Acht Millionen Fernsehzuschauer verfolgten am Pfingstsonntag den ersten Fall des neuen Teams. Die Kritiken waren fast durchweg positiv. Auch ich finde, sie passen ziemlich gut zusammen, wenn ich das so sagen darf.

Das ist schön zu hören. Weil es ja auch immer eine Überraschungsbombe ist, die man legt. Ob das Publikum auch gut findet, was sich die Fernsehleute ausgedacht haben, das muss ja nicht deckungsgleich sein. Und beim Tatort ist das noch einmal etwas ganz Spezielles. Ich habe noch nie in meiner Schauspiellaufbahn so einen großen Rücklauf bekommen.

 

Sonntag, 20:15 Uhr ist in Deutschland eben Tatort-Zeit.

Genau. Aber was mich daran so überrascht, ist, dass die Leute bei dem Format so engagiert sind und eine starke Haltung haben! Fast mit einem Anliegen an uns, so als wären wir so eine Art Volksvertretung, die sich diese Meinungen anhört und beim nächsten Tatort einfließen lässt. Ich finde das irgendwie schön, weil es zeigt, wie sehr der Tatort den Leuten am Herzen liegt und auch ein wenig amüsant, weil wir ja nur die Schauspieler sind, die spielen, was hauptsächlich andere entwickelt haben.

 

Der erste Fall „Neugeboren“ hatte es auch gleich in sich: Plattenbausiedlung, gescheiterte Existenzen, Hartz IV, Drogen, Kriminalität, Alkohol, Perspektivlosigkeit, Kindsentführung, Mord.

Das ist ja eine Fiktion, die man sich zuführt. Fernsehen ist letztlich auch ein Konsumgut, mit dem wir in unserer Gesellschaft konfrontiert werden. Da muss man sich genau überlegen, wie bei allem anderen auch, ob man das möchte. Darum finde ich es ja so großartig, dass am Sonntagabend unter Umständen zehn Millionen Menschen „ja“ sagen. Für mich ist das immer noch ein wenig absurd, dass ich seit 2016 bei der Fernsehreihe mitspiele, die ich selbst schaue, seit ich 14 bin. Tatort-Schauspielerin, das war für mich das am weitesten Entfernte, was ich mir vorstellen konnte.

 

Sie haben an Ihren Traum geglaubt.

Auf der einen Seite glaube ich schon, dass die Sachen, die man sich wünscht und für die man arbeitet, auch in der einen oder anderen Form eintreten. Insofern ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich. Aber wenn man diese beiden Fakten nebeneinanderhält, dann denke ich: Mensch, jetzt sind die fünfzehn Jahre so schnell vorbeigegangen und auf einmal mache ich das, was ich früher von meinem Kinderzimmer aus immer bewundert habe. Am Computer habe ich die ganzen Schauspielerinnen gegoogelt. Das Internet war mein Fenster zur Welt. Ich dachte: Was müssen die für ein krasses Leben haben in Berlin! Die haben diesen Beruf, sind beim Film, leben in dieser Großstadt. Das ist doch einfach nur abgefahren.

 

Hatten Sie auch Poster von Ihren Idolen an der Wand?

Ja, aber nicht von Tatort-Stars, die gab es nicht. Eher von Popstars.

 

Das Schauspieler-Gen scheint in Ihrer Familie zu liegen. Ihre Tante, die Weimarer Schauspielerin Claudia Geisler-Bading, und Ihre Cousinen Emma und Bella Bading sind ebenfalls vor der Kamera aktiv. Wann wussten Sie, dass Sie in andere Rollen schlüpfen möchten? Haben Sie zuhause vor dem Spiegel die Stars nachgespielt?

Ich führe das immer zurück auf mein Initialerlebnis, welches ich mit neun hatte, als ich den Film „Engelchen“ gedreht habe. Ich fand das Drehen vom ersten Moment an fantastisch. Und ja, ich imitiere total gern Leute. Wenn ich jemanden erlebe, denke ich währenddessen schon, wie man diesen oder jenen Charakterzug nachmachen könnte. Das ist ja schon auch etwas, was mit dem Berufsstand zu tun hat, seinen Körper an eine andere Person zu verleihen.

 

Verleiht man ihn nur oder gibt man nicht auch mit jeder Rolle etwas von sich preis?

Auf jeden Fall gibt man etwas von sich mit rein. Ich glaube nur nicht, dass das immer eins zu eins eine Charaktereigenschaft ist. Wenn ich zum Beispiel die Selb spiele, habe ich die Erlaubnis, kurz mal die gesellschaftlichen Regeln zu brechen. Das würde man ja sonst im wirklich Leben nie so machen.

 

Zum Beispiel, dass die Selb in der Kantine auf die Frage ihres Chefs „Was hast du?“ (bezogen auf neue Ermittlungsergebnisse) antwortet: „Vegan. Bessere Cholesterinwerte, weniger Schlaf, besserer Sex.“

Ja, die Antwort „vegan“ könnte man vielleicht noch gerade so als Missverständnis verkaufen. Aber dass man dann noch so weit geht und Details über das Intimleben verrät, das sprengt natürlich die Regeln.

 

Das zu spielen, was man sich im realen Leben nicht traut, das muss doch besonders großen Spaß machen?

Sie spricht aus, was andere vielleicht denken. Andere Leute vor den Kopf stoßen, unfreundlich zu sein, das bereitet mir so einen Spaß an dieser Rolle. Dem Affen mal kurz Zucker zu geben und das auszuprobieren, aber eben immer mit Erlaubnis, und alle im Raum wissen, das ist nur gespielt – obwohl es in dem Moment real ist. Sonst würde ich das gar nicht aushalten, weil ich ständig darüber nachdenken würde, was die anderen über mich denken. Es hat natürlich einen großen Reiz, das zu spielen, aber nur für diese kurze Zeitspanne. Und nach dem Dreh da wieder rauszukommen und wieder ich zu sein, das fällt mir zum Glück überhaupt nicht schwer. Ich streife das einfach ab.

 

Die Rolle ist wie eine Schutzhülle, die vor zu tiefen Einblicken schützt?

Etwas preiszugeben hat auf der einen Seite etwas mit Scham zu tun, auf der anderen Seite gibt es aber auch die Lust daran, genau das zur Verfügung zu stellen.

 

Das haben Sie aber schön gesagt.

Dass die Zuschauenden ein wenig in uns reingucken können, dafür bezahlen sie Geld. Für mich ist das eine Verwandlung und die Reise zu mir selbst.

 

Ihre Reise begann auf der Theaterbühne, viele Jahre waren Sie ein preisgekröntes Mitglied der Berliner Schaubühne. Warum haben Sie Ihre „erste Liebe“ für die Kamera verlassen?

Ich fand beides schwer miteinander vereinbar. 2014 bekam ich die Chance, mit Lars Eidinger den russischen Film „Matilda“, der die Geschichte über eine Liebschaft des letzten russischen Zaren erzählt, zu drehen. Das war eine Art Sprungbrett. Danach haben sich Schritt für Schritt weitere Filme ergeben, und da sagt man nicht: So, jetzt stopp, ich unterbreche den Flow, zurück zum Theater.

 

Was ist der größte Unterschied zwischen Bühne und Leinwand?

Auf der Bühne kann man auf eine gewisse Art und Weise ganz anders schummeln. Man muss im Theater auch immer einhundert Prozent geben, aber man muss nicht immer so im Gefühl versinken. Was man für die Kamera machen muss, weil sie in deinen Augen sieht, ob du es hast oder nicht.

 

Haben oder hatten Sie Vorbilder?

International finde ich Cate Blanchett, Meryl Streep und Kate Winslet ganz toll. In Deutschland war sehr lange Corinna Harfouch mein Vorbild.

 

Thüringen scheint auch ein guter Nährboden für gute Schauspieler zu sein: Karoline Schuch, Albrecht Schuch, Franz Dinda und Sie kommen aus Jena, Sandra Hüller aus Suhl, Yvonne Catterfeld und Alexander Beyer aus Erfurt. Für so ein kleines Land ist das ganz beachtlich.

Auf jeden Fall! Der Filmjournalist Knut Elstermann hat mich darauf auch schon mal angesprochen. Und zu den Gemeinsamkeiten befragt. Ich empfinde als sehr verbindend bei allen, dass sie auf so eine direkte, unmittelbare Weise spielen. Das hat vielleicht auch etwas mit der Herkunft zu tun.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Rollen vor?

Es gibt verschiedene Ebenen, die ich vom Kleinen zum Großen bearbeite. Vor jeder Rolle habe ich ein paar Grundsatzfragen, die ich immer wieder durchexerziere, wie so eine Art Grammatik. Auf einzelne Szenen bezogen sind das dann eher Fragen wie: Was will ich? Was ist mein Hindernis? Was resultiert daraus? Den großen Bogen meiner Figur schaue ich mir aus einer psychologischen Perspektive an und versuche eine Beziehung zu mir herzustellen. Es macht mir großen Spaß, die Wurzeln von Zuständen zu finden. Wenn es um historische Themen oder Zeiten geht, bei denen ich mich nicht auskenne, recherchiere ich viel. Für „Matilda“ habe ich zum Beispiel die Originalbriefe zwischen dem Zaren und Matilda gelesen.

 

Sie sind in Jena aufgewachsen, haben dort begonnen Theater zu spielen und die Musik- und Kunstschule besucht. Schauspiel studierten Sie dann in Berlin, wo Sie seit vielen Jahren leben. Wie oft sind Sie noch in der alten Heimat?

Meine beiden Großeltern, meine Eltern und einige Bekannte leben noch in Jena. Leider bin ich nicht so oft da, wie ich es gern wäre. Irgendwann kommt dann so ein Schub und ich denke, ich muss jetzt aber sofort nach Hause. Dann setze ich mich in den ICE und düse runter.

 

In Ihrem Agentur-Profil steht bei Sprachen neben Englisch und Grundkenntnissen in Spanisch auch Thüringisch. Bei mir hören Sie den Einschlag wahrscheinlich deutlich heraus, ich bei Ihnen nicht.

Den höre ich bei Ihnen tatsächlich (lacht). Ich war vor kurzem zum 60. Geburtstag meiner Mutter in Jena. Wir haben die Feier vorbereitet und ich merkte, wie ich innerhalb von drei Stunden hinüberglitt in den Kindheitsdialekt.

 

Wie beschreiben Sie Heimat?

Oh Gott! Heimat besteht für mich aus den Menschen, die mich ganz eng umgeben, gleichzeitig aus meinem eigenen Zuhause in Berlin, dem Raum, in dem ich lebe. Aber auch aus diesem thüringischen Landstrich, aus dieser Stadt, die ich von klein auf kenne. Ich kann mich detailreich an sehr viele frühere Ereignisse erinnern. Diese drei Sachen vermischt, bilden in mir mein Heimatgefühl.

 

Sie lebten Ihre ersten drei Jahre in der DDR. Haben Sie später eine Beziehung zu dem untergegangenen Staat, zum Land Ihrer Großeltern und Eltern aufgebaut?

Je älter ich werde, desto stärker wird diese Bindung. Es ist eine zusammengesetzte: Auf der einen Seite habe ich die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern im Kopf, auf der anderen Seite kenne ich Filme und Literatur. Und ich kenne den Osten der 1990er Jahre. Ich kenne aber nicht die Realität aus den 1980er Jahren. Für den „Stern“ habe ich gerade einen Text darüber geschrieben, wie Hans-Dietrich Genscher im Herbst 1989 in der Prager Botschaft den DDR-Flüchtlingen ihre Ausreise verkündete. Vor der Veröffentlichung habe ich den Text meinen Eltern geschickt, weil ich immer das Gefühl habe, dass ich ja nicht ganz kundig bin. Es ist mir aber ein Anliegen, dass die Lebensrealität, die es in der DDR gab und die bis ins Heute hineinwirkt, auch vorkommt in unserer Republik. Das Ganze ist hochemotional für mich. Wenn man sagt, das Land der Eltern gibt es nicht mehr, das ist weg, das berührt mich.

 

30 Jahre nach der Wiedervereinigung sehen Sie sich als Ostdeutsche, Deutsche, Kosmopolitin?

Ich fühle mich auch als Ostdeutsche und habe immer noch damit zu kämpfen, dass ich nach wie vor Unterschiede spüre, dies aber gleichzeitig nicht mehr möchte. Wenn man es ganz genau betrachtet, habe ich mein bisheriges Leben komplett im Osten verbracht, weil ich ja sogar in Berlin im Osten lebe (lacht). Wenn ich im Ausland sage, ich komme aus Ostdeutschland, dann schauen mich die Leute an, als wäre ich aus einem Museum. International reagieren die Leute ganz anders auf dieses Thema als innerdeutsch.

 

Welche Themen beschäftigen Sie abseits der Schauspielerei?

Ich liebe Sport, besonders Ballsport – Fußball, Zweifelderball. Wenn irgendwo ein Ball ist, kann ich dem Gespräch, das ich gerade führe, nicht mehr folgen. Dann möchte ich nur noch mit dem Ball spielen.

 

Haben Sie die Europameisterschaft verfolgt?

Ja, aber nur die Deutschland-Spiele. Und dann im Italien-Urlaub natürlich die Auftritte der Italiener. Wie die Tifosi emotional abgehen, das ist krass. Dieser gellende Schrei vor Freude, wenn ein Tor gefallen ist, … da denkst du, die Gebäude stürzen gleich ein. Das zu erleben, hat mir große Freude bereitet.

 

Welche Freuden wird uns denn die Selb im Dezember im neuen Bremer Tatort bereiten?

Sagen wir mal so: Sie bleibt sich auf jeden Fall treu!

 

Und ihre Darstellerin? Am Ende der besagten Kantinenszene in „Neugeboren“ fragt die Selb ihren Chef: „Warum hast du mir den Fall nicht gegeben?“ Antwort: „Du bist da am besten, wo du gerade bist.“ Darauf die Selb: „Das weiß man nie, wenn man immer da bleibt, wo man gerade ist.“ Wo möchte Luise Wolfram in zehn Jahren sein?

Ich hoffe, dass ich meinen Beruf dann immer noch so gern ausübe, wie ich das jetzt mache. Und dass ich immer noch die Gelegenheit habe, ihn auszuüben. Ich empfinde es als extremen Luxus, einer Beschäftigung nachzugehen, die man wirklich liebt. Ich glaube auch, dass ich dann noch in Deutschland leben werde.

 

Wenn Hollywood anrufen sollte, würden Sie aber nicht gleich wieder auflegen?

Nö, da würde ich schon mal einen Flug rüber nehmen. Ich würde aber Deutschland nicht den Rücken kehren, dazu bin ich hier zu tief verwurzelt.

 

Frau Wolfram, vielen Dank für das Gespräch.

www.instagram.com/luisewolfram/

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Radio Bremen – Christine Schroeder/Michael Ihle, privat