„Kunst darf nicht elitär sein.“
Ein fester Bestandteil des Themenjahres „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ ist der Yiddish Summer Weimar, der vom 21. Juli bis 21. August 2021 stattfindet. Im Zentrum dieses weltweit renommierten Musik- und Kultur-Festivals steht die traditionelle und zeitgenössische jiddische Kultur. Sie wird in Workshops und Konzerten gelehrt, entwickelt und präsentiert. TOP THÜRINGEN traf in Berlin-Neukölln den Initiator und künstlerischen Leiter Alan Bern. Der US-Amerikaner ist als Komponist, Pianist, Akkordeonist, Pädagoge und Philosoph tätig und hat eine ganz besondere Beziehung zu Deutschland. Und zu Weimar.
Es duftet nach orientalischen Gewürzen. Arabische, türkische, portugiesische, italienische, afrikanische und deutsche Händler bieten an über hundert Ständen ihre Waren feil: frisches Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch, Käse, Backwaren, Kaffee, Kunsthandwerk, Schmuck, Stoffe. Und sind immer für einen Plausch zu haben. Familien, Studenten, Geschäftsleute und Touristen kaufen hier zweimal in der Woche ein. Im Schmelztiegel der Kulturen. Das ist der Wochenmarkt am Maybachufer im Berliner Bezirk Nord-Neukölln. „Hier fühle ich mich wohl, das ist mein Kiez“, sagt Alan Bern, als wir an diesem sonnigen Mainachmittag über den beliebten Markt schlendern.
„Hier leben verschiedene Kulturen friedlich zusammen. Ich bin wahrscheinlich der einzige Jude in diesem Kiez. Hier ist das kein Problem. Viele haben Angst vor Neukölln, weil hier so viele arabische und türkische Menschen leben. Ich fühle mich aber total sicher hier. Das ist mein Zuhause.“
Als der Amerikaner vor 34 Jahren in Berlin ankam, gab es noch zwei deutsche Staaten. Die geteilte Stadt feierte getrennt ihren 750. Geburtstag. Eigentlich wollte der studierte Musiker und Philosoph nach Italien. Aber die persönliche Konfrontation mit Deutschland fand der damals 32-Jährige vorerst wichtiger. Obwohl er davor auch Angst hatte. Da war auf der einen Seite die seit seiner Kindheit entfachte Neugier auf das Land, in dem Goethe, Schiller, Bach und Beethoven gewirkt hatten. Auf der anderen Seite ist es aber auch das Land der Täter, der Nationalsozialisten. Die das jüdische Volk, also auch die Familie von Alan Bern, ausrotten wollten. Der Vater wanderte 1922 von Bessarabien nach New York aus. Die Großmutter mütterlicherseits stammte aus einem Dorf nahe Lemberg. Die meisten Familienmitglieder blieben und kamen im Holocaust ums Leben. „Mit dem Bewusstsein, dass ein Teil meiner Familie nur überlebt hat, weil sie ausgewandert ist, bin ich aufgewachsen“, betont Alan Bern. Mutter und Vater haben im zweiten Weltkrieg in der US-Armee gedient. Erst viele Jahre später erfährt er, dass ein Onkel in genau der amerikanischen Einheit kämpfte, die ein Außenlager von Buchenwald befreit hat.
Der junge Alan Bern wächst in Bloomington, Indiana, auf. Er interessiert sich früh für Geschichte, vor allem für die deutsche in Beziehung zur jüdischen Historie. Seine Liebe gehört aber von Anfang an der Musik. Mit fünf lernt er klassisch Klavier spielen, mit zehn spielt er Konzerte mit Orchester und gewinnt verschiedene Musikwettbewerbe. Doch er fühlt sich nicht wohl in der damaligen Klassikmusik-Kultur. Obwohl Alan Bern immer davon geträumt hat, Konzertpianist zu werden, bedeutet für ihn seine Liebe zur Musik, „dass man sie mit anderen teilt“. Doch wenn er allein spiele, habe er das Gefühl, dass dies ihn von vielen anderen absetzen würde. Gerade in den 1960er Jahren hatte die soziale Dimension des Musizierens eine hohe Priorität. Während seiner musikalischen Ausbildung kommt Alan Bern über die Balkanmusik, über Jazz und Volksmusiken mit der jiddischen Musik in Kontakt. Dabei erlebt er Musik als etwas, das Menschen zusammenbringen kann.
„Der vermeintliche Gegensatz zwischen einem Feingefühl für Kunst und partizipativer Kultur, das ist ein großes Thema meines Lebens. Wie bringt man diese zwei Sachen zusammen, dass sie sich nicht ausschließen, sondern ergänzen? Kunst soll Menschen miteinander verbinden, sie darf nicht elitär sein.“
Am 27. April 1987 kommt Alan Bern in Berlin an. Gleich bei der ersten Taxifahrt vom Flughafen Tegel in die Stadt merkt er, „dass hier vieles von meinem Weltbild zusammenkommt.“ Für den Philosophen ergibt das alles einen Sinn. Er ist da, wo die Dinge passiert sind, die ihn immer interessiert haben. Die guten und die schlechten. Am dritten Tag seines Deutschland-Abenteuers erkennt ihn jemand bei einem Konzert: „Du bist doch Alan Bern, der amerikanisch-jüdische Musiker?“ Der Mann, der ihn fragt, ist Andreas Karpen vom Kasbek-Ensemble, einer sehr bekannten West-Berliner Folkband. Karpen „gesteht“, dass er eine Schallplatte von Alan Bern habe. Und er fragt ihn, ob er nicht mit seiner Band bei Konzerten gastieren möchte. Mit jiddischer Musik. Alan Bern will.
Mittlerweile haben wir den Wochenmarkt verlassen und sitzen auf dem Spielplatz direkt hinter Alan Berns Wohnhaus in Nord-Neukölln, in dem er seit 22 Jahren lebt. Jiddische Musik bringt Alan Bern 1998 auch das erste Mal nach Weimar. Mit seiner Band Brave Old World spielt er auf Einladung der Stadt ein Konzert und gibt einen Wochenend-Workshop. Daraus entstehen die Klezmer Wochen Weimar, die 1999 als einwöchiger Workshop plus Konzerte Premiere feiern. Schon 2006 läuft das inzwischen in Yiddish Summer Weimar (YSW) umbenannte Festival einen ganzen Monat – und hat sich zu einem der weltweit wichtigsten Sommerprogramme für jiddische Sprache und Kultur entwickelt. Ein Angebot, das die jiddische Sprache, die traditionelle und zeitgenössische jiddische Kultur und die mit ihr verwandten Kulturen erforscht, lehrt, weiterentwickelt und einem Publikum präsentiert. Für die Teilnahme an den Workshops und Jam Sessions muss man kein Profi sein – es gibt Einführungsworkshops bis hin zu Meisterkursen; alle sind willkommen! Die künstlerische Leitung liegt bei Alan Bern, der zusammen mit dem Kurator Andreas Schmitges YSW als „eine kreative, transkulturelle, Generationen umspannende Gemeinschaft“ sieht, die Platz für Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen bietet.
Seit 2006 bündelt der Verein Other Music Acadamy (OMA) das interdisziplinäre Festival und ist Ansprechpartner für Kooperationen mit anderen Institutionen und Vereinen in ganz Thüringen. Gemeinsam wolle man helfen, „Weimar mit Leben zu füllen“, so Bern. In diesem Jahr ist der YSW, der am 25. Juli auf der BUGA offiziell eröffnet wird und am 21. August endet, fester Bestandteil des Themenjahres „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“. Wie im letzten Jahr werden alle Workshops und Veranstaltungen im Freien stattfinden.
„Es geht beim Yiddish Summer Weimar um jiddische Kultur und Musik als Beispiel für eine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und mit dem ,Anderen‘ in sich selbst. Wenn du in einem kreativen Prozess mit anderen Menschen bist, ergibt sich ein ständiges Entfalten der eigenen Kreativität.“
Nur wenige Menschen wissen heute, wie vielfältig die Verbindungen zwischen jiddischer und deutscher Kultur sind. Die meisten haben ein klischeehaftes und reduziertes Bild. Der YSW möchte „die Vielfalt und Offenheit deutlich machen und eine Plattform für interessierte Menschen bieten“. Bern, der selber nicht religiös ist, möchte „eine gesunde Verbindung zwischen Alltags- und Kunstkultur“ ermöglichen. Durch die Zerstörung der jiddischen Alltagskultur und der Menschen fehle diese Verbindung.
„Unsere Aufgabe ist es, nachwachsen zu lassen, was einmal da war, damit es eine Basis für eine jiddische Kunstkultur gibt, die aber nicht getrennt ist von der Alltagskultur. Das gilt aber auch für andere Kulturen. Die wenigsten Menschen wissen doch heute, was zeitgenössische Kunst ist.“
Seit 1999 hat Alan Bern also auch einen Koffer in Weimar, wie man so schön sagt. Die Hälfte seiner Zeit verbringt der Wahl-Berliner, der „europäische, deutsche und thüringische sowie amerikanische und jüdische Dimensionen“ in seinem Leben empfindet, in der Klassikerstadt. Um den YSW vorzubereiten, durchzuführen und zugleich OMA-Projekte anzuschieben. Weimar ist zwar im Vergleich zu Berlin klein, ruhig und übersichtlich, „dennoch ist die Stadt vor allem ein wichtiger kultureller Ort, so wie Thüringen im allgemeinen, für die jüdische und viele andere Kulturen“. Deshalb fühlt es sich für Alan Bern nicht so an, als ob er in irgendeiner Kleinstadt wohnen würde. Bern schätzt die Traditionen der Klassikerstadt sehr. Die Herausforderung sei es aber, „auch Freiräume für andere Anlässe zu schaffen“. Gerade für Künstler sei es wichtig, Orte zu entdecken, die noch nicht weitgehend von der Geschichte besetzt sind. Weimar ist voll von Geschichte und Kultur. An so einem Ort ist es schwer, unbesetzten Raum zu finden. Deshalb bietet das OMA-Konzept viel Raum für ganz neue Ideen. Für neue Kreativität. Und Verantwortung.
„Dass wir als Individuen mehr Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Ich glaube, das ist ein zutiefst jüdischer Ansatz. Dafür gibt es viele Beispiele, wie ,Tikun Olam‘, was ,die Heilung der Welt‘ bedeutet. Alle haben die Pflicht, dazu beizutragen, gläubig oder nicht.“
Es ist noch immer sehr warm, als wir uns am späten Nachmittag voneinander verabschieden. Die Menschen sitzen am Maybachufer und genießen die Sonne. Wir laufen über den Markt der Kulturen, auf dem das rege Treiben nicht nachlässt. Alan Bern bestellt sich eine Falafel. Das ist sein Kiez. Sein Zuhause. Eigentlich wollte er nur ein paar Wochen bleiben. Daraus wurden bis jetzt 34 Jahre.
www.yiddishsummer.eu/de
www.othermusicacademy.eu
www.juedisches-leben-thueringen.de
2009 bekam Alan Bern die Ehren-RUTH für sein Lebenswerk als Musiker und Pädagoge, 2016 erhielt er den renommierten Weimar-Preis, 2017 wurde er mit dem Verdienstorden des Freistaates Thüringen ausgezeichnet.
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus, Yulia Kabakova