Die letzte Schlacht
Acht Sekunden fehlten dem Waltershäuser Karateka Noah Bitsch zum Medaillen-Gewinn bei den Olympischen Spielen in Tokio. Am Ende wurde der 31-Jährige bei seinem letzten Wettkampf hervorragender Fünfter. Ich traf Noah Bitsch an dem Ort, wo seine erfolgreiche Karriere begann: im Sportcentrum Bushido in seiner Heimatstadt.
Wettkampfuhr zeigt 2:52 Minuten an. Noch acht Sekunden. Karateka Noah Bitsch führt in seinem dritten Vorrundenkampf des olympischen Turniers gegen den Italiener Luigi Busa mit 2:1. Mit einem weiteren Erfolg, es wäre der zweite, hätte der 31-Jährige das Halbfinale und damit eine Medaille so gut wie sicher. Zumal im letzten Kampf mit dem Australier Tsuneari Yahiro der schwächste Gegner warten würde. Jetzt muss sich der erfahrene Waltershäuser auf sein Gefühl verlassen, geht er auf den nächsten Punkt oder bleibt er defensiv und versucht, die Uhr herunterlaufen zu lassen. Er entscheidet sich für den Angriff, weil er das immer macht, wenn er die Chance sieht, einen Punkt zu erringen. Dieses Mal trügt ihn sein Instinkt. Sein Kizami Zuki mit der rechten Hand zum Kopf verfehlt sein Ziel nur knapp. Im gleichen Atemzug schlägt Busa mit der gleichen Technik zu. Die Kampfrichter geben den Punkt zunächst nicht. Erst nach dem angeforderten Videobeweis zählt der Schlag. Für Noah Bitsch eine Fehlentscheidung: „Er hat eher mit einer unsauberen Technik vorbeigeschlagen. Aus meiner Sicht war das nicht punktreif.“ Doch das Urteil der Kampfrichter steht. Damit gehen die Punkte an Busa. Der Italiener gewinnt am Ende auch im ersten olympischen Karateturnier die Goldmedaille in der Gewichtsklasse bis 75 Kilogramm. Noah Bitsch wird im Endklassement hervorragender Fünfter: „Ich bin über mich hinausgewachsen und sehr, sehr glücklich mit meiner Leistung. Enttäuscht bin ich nicht, nur etwas traurig.“
Die knappe Niederlage schmerzt. Doch die vielen unvergesslichen Eindrücke, die er bei den Olympischen Spielen in Tokio gesammelt hat, kann ihm keiner mehr nehmen. Auch wenn der 31-Jährige aufgrund der Corona-Verordnungen sowohl der Eröffnungs- als auch der Abschlussfeier fernbleiben musste. Und natürlich haben auch die Zuschauer in der Halle gefehlt. Dennoch: Für Noah Bitsch war es ein unvergleichliches Erlebnis, vor allem im olympischen Dorf, wo sich die Athleten aus der ganzen Welt getroffen und ihren olympischen Traum verwirklicht haben.
Dabei schien dieser Olympia-Traum für den Waltershäuser schon zu platzen, bevor er überhaupt begonnen hatte. Mitte Juni dieses Jahres beim Qualifikationsturnier in Paris wird der Routinier beim vierten Kampf unglücklich am rechten Knie getroffen. Er spürt sofort, dass da etwas nicht stimmt. Trotzdem kämpft er weiter. Auch das Halbfinale fünf Minuten später steht er ohne vorherige Behandlung und mit Schmerzen durch. Danach lässt er das lädierte Knie spritzen und tapen. Im Final Four sichert sich Noah Bitsch schließlich als Gesamtzweiter eines von drei Olympiatickets. Die ärztliche Diagnose lässt aber Schlimmes befürchten: Innenbandteilriss und Zerrung im vorderen rechten Kreuzband. Zwei Wochen geht es anschließend nach Donaustauf zur Reha zum bekannten Physiotherapeuten Klaus Eder, der unter anderem 30 Jahre lang die Fußball-Nationalmannschaft betreute. Als Noah Bitsch in den Flieger nach Tokio steigt, ist er noch nicht wieder bei 100 Prozent seiner Leistungsfähigkeit. Wenn er aber am 6. August an den Start gehen sollte, dann nicht nur, um mitzumachen, dann will er auch konkurrenzfähig sein.
Mit drei Jahren hat Noah Bitsch im heimischen Waltershausen mit Karate angefangen – im von den Eltern 1991 aufgebauten Sportcentrum Bushido, dem heutigem Bundesleistungszentrum für Karate. Vater Klaus Bitsch (6. Dan) gehört als Jugend-Bundestrainer zu den erfolgreichsten Karate-Trainern Deutschlands und war daran sicherlich nicht ganz unschuldig. In den Folgejahren jagt Noah Bitsch aber nach dem Karatetraining auch noch mit großer Begeisterung dem runden Leder nach. Bei einem Schulturnier in der fünften Klasse fällt er den Verantwortlichen von Wacker Gotha auf. Jetzt muss er sich entscheiden: Fußball oder Karate? Gerade erst ist er in die U12-Karate-Nationalmannschaft aufgenommen worden. Viele seiner Freunde spielen aber Fußball. Eine schwere Entscheidung.
Noah entscheidet sich für die japanische Kampfkunst. Von klein auf hat er gelernt und verinnerlicht, dass „Karate mehr ist als nur ein Sport, es prägt deinen Charakter. Respekt und Demut werden gelehrt. Es geht um Selbstverteidigung und nicht darum, den Gegner auszuschalten.“ In der Wettkampfform Kumite, dem Zweikampf Mann gegen Mann, darf der Gegner im dem dreiminütigem Kampf nicht verletzt werden. Im Vordergrund steht die technisch einwandfreie Ausführung der Tritte mit dem Bein und der Stöße mit der Hand. Körper und Kopf sind die ganze Zeit am Limit, man steht immer nah am Gegner. Es gibt keine Ruhephase. Man studiert den Gegner – und die Kunst bestehe darin, „dabei aber nie zu vergessen, wer man selber ist“, erklärt Noah Bitsch.
Das Training beim Vater zahlt sich schnell aus. Technisch perfekt ausgebildet, avanciert er mit drei WM-Medaillen und einer EM-Medaille in den Alterskategorien U18 und U21 zum erfolgreichsten Athleten des Deutschen Karateverbandes. 2012 holt er seine erste Einzelmedaille bei einer Senioren-Europameisterschaft und siegt mit dem Team in der Mannschaftswertung. Es folgten Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften und den World Games. Ausgerechnet im vorolympischen Jahr 2019 läuft es aber gar nicht rund. Die Trainingsleistungen stimmen zwar, aber irgendwie kann er das nicht auf die Matte bringen. Dann kommt 2020 Corona und alle Wettkämpfe inklusive der Olympischen Spiele werden abgesagt beziehungsweise auf 2021 verschoben. Noah Bitsch zweifelt, hadert mit sich: Soll er aufhören, macht das alles überhaupt noch Sinn? Ende des Jahres fällt er die Entscheidung, dass er nochmal voll durchziehen wird, egal was passiert. Und er kommt stärker auf die Matte zurück, als er sie vor der Corona-Pause verließ. Bei drei Turnieren steht er jeweils auf dem Podest. Die Olympiaqualifikation erkämpft er sich trotz eines lädierten Knies. In Tokio verspürt er keinen Druck, wie sonst immer vor Wettkämpfen. Er will es genießen und für seine Liebsten zuhause ein letztes Mal alles geben. Vor den Kämpfen saugt er alles auf, was um ihn herum passiert. Er ist ganz bei sich und genießt es zu sehen, wie die Kollegen trotz Pokerface auch aufgeregt sind. Noah Bitsch gewinnt und verliert in seiner ausgeglichen besetzten Vorrundengruppe jeweils zwei Kämpfe. Leider verpasst er das Halbfinale und damit eine Medaille hauchdünn – um die bereits beschriebenen acht Sekunden.
Nach seiner letzten Schlacht tritt der 31-Jährige als Olympia-Fünfter zurück. Mit einem reinen Gewissen: „Platz fünf bei Olympia ist für mich in meinem Alter ein großer Erfolg. Medaillen sind das eine, aber dass ich mich nach der Knieverletzung trotzdem noch für Olympia qualifiziert und dann dort so eine Leistung gebracht habe, das ist der krönende Abschluss. Ich habe in Tokio alles genossen und bin mit einem Lächeln durch meinen letzten Wettkampftag gegangen. Ich komme nicht zurück.“
Jetzt freut sich Noah Bitsch auf den neuen Lebensabschnitt, auf Snowboard fahren im Winter und Fußball spielen im Sommer. Bis Ende des Jahres will er erst einmal durchatmen und entspannen. Wo und in welcher Form er zukünftig als Trainer arbeiten wird, das entscheidet sich in den nächsten Wochen und Monaten. Bereits als Aktiver arbeitete er als Thüringer Landestrainer im Schülerbereich, gab Lehrgänge und organisierte Feriencamps für Kinder und Jugendliche.
Um den Karatenachwuchs in der Familie Bitsch muss er sich jedenfalls keine größeren Sorgen machen: Seine große Schwester Jana ist zwar nach der knapp verpassten Olympiaqualifikation ebenfalls zurückgetreten, die „Kleine“, Mia, steht aber bereits in den Startlöchern. Und wie: Bei der U18-Europameisterschaft im August in Tampere gewann sie Gold in der Klasse bis 53 Kilogramm.
www.bushidowaltershausen-sport.de
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus, „Team Deutschland“ / Max Galys