„So funktioniert Demokratie nicht.“

Die von der rot-rot-grünen Landesregierung und der CDU versprochenen Neuwahlen wird es am 26. September in Thüringen nicht geben. Die Christdemokraten beendeten zudem ihre Rolle als „konstruktive Opposition“ der Minderheitsregierung unter der Führung von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke). Ist Thüringen jetzt unregierbar? Darüber und ob und wie man aus diesem Dilemma herauskommen könnte, sprach ich im Landtagsgebäude mit André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt.

Hallo Herr Professor Brodocz!

Hallo Herr Hirsch, worüber reden wir eigentlich? Eine Landtagswahl gibt es ja nicht.

 

Warum eigentlich nicht, sie war doch versprochen?

Das ist wirklich eine sehr einfache Frage, auf die es keine ganz einfache Antwort gibt. Am Ende liegt es daran, dass sich, wenn wir es mal von Verfassungs wegen betrachten, nicht genügend Abgeordnete gefunden haben, um den Landtag aufzulösen und damit den Weg für Neuwahlen freizumachen. Zwei Drittel aller Landtagsabgeordneten wären dafür nötig gewesen und die wären vielleicht auch erreicht worden. Es war aber nicht sicher, und deshalb hat die Regierungskoalition ihren Antrag wieder zurückgezogen. Deswegen haben wir keine Landtagswahl.

 

„Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen“, lautet ein Sprichwort, das oft von Kindern gegenüber ihren Eltern verwendet wird, wenn diese ein Versprechen eben nicht eingehalten haben. Gilt das unter Politikern nicht?

Das gilt schon auch. Deshalb haben die Wählerinnen und Wähler auch bei den nächsten Wahlen wieder die Gelegenheit, die Einhaltung solcher gebrochenen Versprechen einzufordern, beziehungsweise einzuklagen und nachzufragen, warum diese gebrochen wurden. Die beteiligten Parteien haben ein paar Argumente vorgebracht, weswegen es ihres Erachtens jetzt eben nicht möglich war.

 

Es lag natürlich immer an den anderen, …

… und nie an der jeweiligen Partei selbst. Insofern ist es für Parteien immer ein großes Problem, offensichtliche Versprechen zu brechen, weil die Wählerinnen und Wähler sie dafür sicherlich bestrafen werden. Aber, und das ist die andere Seite, die Parteien befürchteten, wenn sie dieses vermeintliche Versprechen gehalten hätten, dann hätten sie vielleicht nicht die Versprechen erfüllen können, die sie auf anderen Ebenen gegeben haben. Politik ist komplex, es werden viele Versprechen gegeben, nicht alle kann man halten.

 

Nähern wir uns nochmal dem Grund des aktuellen Dilemmas. Es begann am 5. Februar 2020 mit der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Sie führte zu einem landesweiten Aufschrei, den man bis nach Südafrika hörte, wo die Kanzlerin weilte und intervenierte. Von einem Tabubruch war die Rede, weil sich Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD hat wählen lassen. Aber war das nicht eine reguläre Wahl? Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: „Das ist Demokratie“.

Von Rechts wegen gab es keinen Tabubruch, wir hatten in jeglicher Hinsicht eine rechtlich gültige Wahl. Das Parlament war legal besetzt, die Wahl erfolgte nach den Verfahren, wie sie das Gesetz und die Verfassung vorsehen. Der Tabubruch bestand darin, dass sich insbesondere die CDU selbst gebunden hatte, niemals mit der AfD zusammen politische Entscheidungen zu treffen und schon gar keine Regierungen zu stellen. Dieses Versprechen wurde an jenem 5. Februar gebrochen. Das war der Tabubruch!

 

Die Brandmauer zieht die CDU auch nach links. Dann wird es aber schwierig, eine Regierung zu bilden. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte dereinst: „Die Demokratie lebt vom Kompromiss. Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.“

Das ist auch so. Bei uns in Deutschland liegt das auch darin begründet, dass wir durch das Verhältniswahlrecht Parlamente haben, die nicht nur aus drei oder vier Parteien bestehen, sondern aus fünf oder sechs. Das macht es komplizierter. Dementsprechend müssen sich mindestens zwei, in der Regel drei, in Thüringen jetzt sogar vier Parteien finden. Und da kann man nur gemeinsam regieren, wenn man Kompromisse eingeht. In Thüringen bekommt man aber nicht einmal eine Regierung zusammen.

 

Der rot-rot-grünen Minderheitsregierung hat die CDU die Duldung versagt.

Genau. Das heißt, wenn die Regierungskoalition eigene Gesetze durchbringen will, ist sie darauf angewiesen, dass eine der anderen Fraktionen, also CDU und FDP, mit ihnen stimmt. In Einzelfällen wird das sicherlich gelingen. Es gibt aber jedes Jahr eine große Hausaufgabe.

 

Den Landeshaushalt.

Und der betrifft viele politische Fragen, zumindest alle, die das Thema Finanzen berühren. Da scheint eine Einigung sehr schwierig, die muss aber im Herbst gefunden werden. Wenn dies nicht gelingt, fehlt dieser Regierung das Vertrauen im Parlament. Die Verfassung sieht dann vor, dass der Ministerpräsident die Vertrauensfrage stellt. Wenn das Parlament ihm kein Vertrauen ausspricht, könnte es auf diesem Wege doch noch zu Neuwahlen kommen.

 

Dann wäre das Versprechen doch noch eingelöst. Ist das nicht das Kalkül von Bodo Ramelow?

Das ist ganz schwer zu sagen. Man hätte ja in diese Neuwahl gehen können, die insbesondere auch von der Linken nicht angegangen worden ist. Dass man jetzt wenige Wochen später kalkuliert über den Umweg der Vertrauensfrage diesen Weg gehen möchte, das glaube ich nicht. Es gibt eher eine Letzthoffnung, dass es gelingen wird, einen Landeshaushalt zu verabschieden. Dann hätte man für ein Jahr Ruhe. Die CDU scheint aber dazu wenig gewillt zu sein, und ob die FDP über ihren Schatten springt, wird man sehen. Gleichzeitig muss sich auch die Linke fragen lassen: Sie wollte nicht zusammen mit der FDP den Landtag auflösen, aber kann sie dann wenige Wochen später zusammen mit der gleichen FDP den Haushalt verabschieden? Das würde Glaubwürdigkeit kosten.

 

Apropos Glaubwürdigkeit. Verstehen die Bürger überhaupt noch diese ganzen taktischen Spielchen?

Das glaube ich schon. Wenn Politik darauf angewiesen ist, dass Parteien Kompromisse eingehen, lebt vieles von persönlichen Vertrauensverhältnissen. Das kennen wir auch aus dem Arbeitsalltag, aus der Familie, dem Freundeskreis. Sie können helfen, große politische Differenzen zu überbrücken und sie wecken Kompromissbereitschaft. In Thüringen ist dieses Vertrauen seit der vorletzten, beziehungsweise letzten Ministerpräsidentenwahl sowie der gescheiterten Parlamentsauflösung mit den verbundenen Schuldzuweisungen quasi nicht mehr existent. Das macht es im Moment so schwierig, handlungsfähige Koalitionen herzustellen.

 

Linke und Grüne haben eine Auflösung des Landtags mit Stimmen der AfD abgelehnt. Gesetzesvorhaben aber nur zu verabschieden, wenn sie nicht mit Stimmen der AfD zustandekommen, das kann es doch auch nicht sein. Gibt man damit nicht erst der AfD eine Machtposition, die sie eigentlich gar nicht hat?

Diese Strategie ist in der Tat eine höchst problematische. Man macht sein eigenes Ansinnen abhängig vom Handeln der anderen. Und das in vielen Fragen, bei denen man vorher gar nicht auf deren Handeln angewiesen war. Das war bei der gescheiterten Parlamentsauflösung der Fall und wird bei den Gesetzen, die nur eine einfache Mehrheit benötigen, noch viel stärker der Fall sein. Dieses Vorgehen muss man ganz stark überdenken.

 

Die AfD beklagt, dass sie als Partei und ihre Wählerinnen und Wähler – immerhin knapp 23 Prozent – im Parlament ausgegrenzt werden.

Wir müssen diese Frage losgelöst von der AfD betrachten. Es ist in der Tat so, dass es in einer Demokratie Mehrheiten braucht. Das kann bedeuten, dass Oppositionsparteien über eine ganze Legislaturperiode, und damit auch die Wählerinnen und Wähler, die sie repräsentieren, nicht an der Regierung beteiligt sind. Das ist der Normalfall. Ich erinnere mich an 1976: Helmut Kohls CDU gewann die Bundestagswahl mit 48,6 Prozent. Er ist aber nicht Kanzler geworden, weil SPD und FDP zusammen etwas mehr hatten, nämlich 50,5 Prozent. Da hatten wir eine Regierung gegen fast 49 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Demokratie bedeutet eben nicht, dass immer alle an jedem Gesetz teilhaben und zustimmen müssen. Deshalb haben wir das Mehrheitsprinzip. Das ist gestaffelt in einfache Mehrheiten, teilweise auch unter 50 Prozent. Bei besonders wichtigen Fragen, wie der Ministerpräsidentenwahl, brauchen wir die absolute Mehrheit. Die Auflösung des Landtages benötigt eine Zweidrittelmehrheit. So haben wir, je nach Relevanz, gestaffelte Mehrheiten. Dieses Prinzip funktioniert, weil wir alle vier Jahre wählen und die Chance haben, neue Mehrheiten herzustellen.

Für den Ostbeauftragten der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) sind viele Ostdeutsche „diktatursozialisiert“ und für die Demokratie verlorene AfD-Wähler. Sind solche Aussagen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zielführend?

Das sind sie nicht. Wenn wir uns selbst betrachten und uns in unserem Freundes- und Bekanntenkreis umschauen, sehen wir: Man ändert seine politische Einstellung nicht grundlegend, aber in bestimmten Fragen ändert man sie durchaus. Zudem beruht meine Wahlentscheidung nicht immer darauf, dass ich mich eins zu eins mit den Parteien identifiziere, weil diese genau meine Meinung abbilden. Das tun sie in bestimmten Politikfeldern, die mir gerade wichtig sind. Deshalb wähle ich sie. Und wir haben Wählerinnen und Wähler, die eine Partei wählen, weil sie den anderen Parteien demonstrieren wollen, dass diese in der Vergangenheit nicht so agiert haben, wie sie sich das vorgestellt hatten. Vielleicht auch, weil sie ihre Versprechen nicht eingehalten haben. Also verpassen sie denen einen Denkzettel, indem sie eine Partei wählen, die sich radikal von den anderen unterscheidet. Insofern ist diese Wählerschaft sehr heterogen, und man kann und darf nicht alle über einen Kamm scheren.

 

Kommen wir wieder zur aktuellen Situation in Thüringen. Die CDU sieht sich nicht mehr als „Mehrheitsbeschaffer“ von Rot-Rot-Grün. Haben wir es mit einer Regierungs-, Parlaments- oder, wie Sie es nennen, einer Oppositionskrise zu tun?

Die Grundidee der Demokratie, das hatten wir vorhin schon bei der Mehrheitsfrage, besteht darin, dass wir eine von einer Mehrheit gestützte Regierung haben. Und wir haben die Opposition, die „Regierung in Reserve“. Jetzt haben wir im Thüringer Landtag die besondere Situation, dass wir mehr Parlamentarier auf den Oppositions- als auf den Regierungsbänken haben. Diese müssten also in die Regierung streben. Im Moment haben wir aber Fraktionen in der Opposition, die offensichtlich nicht gewillt sind zu regieren. Aber so funktioniert Demokratie nicht. Opposition ist kein Selbstzweck! Parlamente können durchaus eine Frustpartei aushalten, wenn sich das aber auf über 50 Prozent aufsummiert, dann funktioniert das System nicht mehr. Alle Oppositionsfraktionen müssen sich vorwerfen lassen, dass sie die Grundidee von Opposition nicht verstanden haben.

 

Die Thüringer Bürgerinnen und Bürger wollen zumindest eine neue Regierung: Mehr als 60 Prozent befürworten Neuwahlen! Interessiert dies die Parteien nicht?

Dieses Votum interessiert die Parteien natürlich, weil zwei Drittel der Wählerstimmen ein ganz dicker Scheck sind, mit dem man nach der nächsten Wahl dastehen könnte. Deswegen wird man darüber nachdenken. Es gib ja auch Initiativen aus der SPD heraus, über eine Petition zu einer Neuwahl zu kommen. Natürlich hat man auch Angst, dass sich viele der Menschen, die für eine Neuwahl sind, bei der nächsten Wahl für eine andere Partei entscheiden.

 

Wenn Sie bitte zwei Prognosen wagen würden: Wie geht die Bundestagswahl am 26. September aus?

Ich denke, dass die CDU die stärkste Partei wird und auch den Kanzler stellt. Die Frage wird sein, ob es für Schwarz-Grün reicht, oder ob wir bei Jamaika landen. Dann bin ich sehr gespannt auf Christian Lindner, wir erinnern uns alle vier Jahre zurück. Aber der Mann ist rhetorisch begabt. Da werden wir eine schöne Geschichte zu hören bekommen, warum es dieses Mal geht und das letzte Mal eben nicht ging. Dankenswerterweise wird ja aus seiner Sicht Angela Merkel die neue Regierung nicht anführen, und mit Armin Laschet versteht er sich ja prima.

 

Prognose zwei: Hält die Minderheitsregierung in Thüringen bis 2024?

Ich glaube es nicht. Wenn die Haushaltsverhandlungen im Herbst scheitern, dann wird der politische Druck auf den Ministerpräsidenten noch einmal ganz stark zunehmen, die Vertrauensfrage zu stellen. Wird ihm das Vertrauen nicht ausgesprochen, dann sieht die Verfassung noch eine Zeitspanne von drei Wochen vor, in der ein neuer Ministerpräsident gewählt werden kann. Passiert dies nicht, dann kämen wir ganz schnell zu Neuwahlen, vielleicht auch zu einer ganz neuen Art von Regierung.

 

Die neue Art könnte eine Expertenregierung unter Ministerpräsident Ramelow sein?

Man hat nicht viel Zeit, das zu entwickeln und vorzubereiten. Aber es könnte ein Ziel sein, dass man von CDU- und FDP-Seite signalisiert: Wir sind nicht bereit, eine rot-rot-grüne Regierung zu tolerieren, wir könnten uns aber eine Expertenregierung unter Ministerpräsident Ramelow vorstellen. Vielleicht rettet man sich dann auch mit einem Doppelhaushalt bis 2024. Ich sehe dafür aber keine großen Chancen. Für am wahrscheinlichsten halte ich einen gescheiterten Haushalt im Herbst und dann Neuwahlen im Dezember oder Januar. Oder man einigt sich doch mit der FDP auf einen Haushalt.

 

Hätte der Ausgang der Bundestagswahl auf diese Szenarien einen Einfluss?

Nein. Sie hätte einen Einfluss auf die Landtagswahl gehabt, wenn diese, wie ursprünglich geplant, am selben Tag stattgefunden hätte. Denn mit der Bundestagswahl haben wir häufig eine höhere Mobilisierung der Wähler im Vergleich zu normalen Landtagswahlen. Und der zweite Effekt ist der berühmte Rückenwind aus Berlin, wie er eben gerade weht. Für Thüringen wäre das hilfreich gewesen. Seit der letzten Landtagswahl haben wir sehr stabile Umfrageergebnisse. Das heißt, wenn es zu Neuwahlen, die ich ja auch fordere, kommt, wird das Ergebnis ähnlich sein. Mit der Bundestagswahl zusammen wäre da aber Bewegung reingekommen. Es muss sich ja nicht viel verändern, es hätte schon große Auswirkungen, wenn eine Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde. Rot-Rot-Grün hatte am letzten Wahlabend phasenweise die Mehrheit, als die FDP unter fünf Prozent lag. Das gleiche gilt für die Grünen, die auch nicht weit weg sind von dieser Hürde.

 

Wer hat das größte Interesse, dass die Haushaltsverhandlungen scheitern?

Die AfD, um zu zeigen, dass die Regierung nicht handlungsfähig ist. Ihr Interesse an Neuwahlen scheint aber auch gebremst zu sein, sonst hätten sie schon deutlich signalisiert, dass sie für Neuwahlen sind. Das tun sie aber nicht. Die FDP hätte Interesse an Neuwahlen haben müssen, allein schon wegen des positiven Bundestrends.

 

Auch mit Thomas Kemmerich?

Da sind wir genau bei dem Punkt: Die Partei ist, was Herrn Kemmerich angeht, gespalten. Seine erneute Aufstellung würde zu großen Diskussionen und Kämpfen führen. Zudem müssten sich die aktuellen Landtagsabgeordneten im Fall einer Neuwahl ihr Mandat neu erkämpfen. Was für die These spricht, dass die FDP den Haushalt mitträgt. Und das würde dann bis 2024 reichen. Wenn alle diszipliniert bleiben.

 

Meine vierjährige Tochter sagte kürzlich zu mir: „Du bestimmst nicht über mich!“

Es geht anscheinend anarchisch zu bei Ihnen zuhause. Familien sind aber auch nur sehr bedingt demokratisch. Sie versuchen das zwar zu leben so gut es geht, aber auch da gibt es – da sind wir schon wieder bei den gestuften Mehrheiten – Situationen, in denen man Nein sagen muss. Dann geht es darum, wessen Stimmgewicht an dieser Stelle größer ist. Macht man aber aus Prinzip nicht, was die Kinder wollen, engt man seinen eigenen Handlungsspielraum ein. Und wenn man sich von seinen Kindern auch mal überzeugen lässt, dann ist es zum Wohle aller, ohne dass man ihnen damit unnötig Macht verschafft. Das passt auch zum Umgang mit der AfD.

 

Herr Professor Brodocz, vielen Dank für das Gespräch.

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Marcus Scheidel, Sascha Fromm