Schwerelos

„Das fliegende Wunderkind“ (Die Zeit) brach sich in den vergangenen 17 Jahren beide Schlüsselbeine, das Schulterblatt, Zeh und Oberschenkel, das Kreuzband riss, zweimal schlug er sich die Frontzähne raus. Sein Motto: „Go big or go home!“ Ein ganz Großer in der Freestyle Motocross Szene ist Luc Ackermann aus Niederdorla schon lange: mehrfacher Weltrekordhalter, Europameister, erster deutscher X-Games-Teilnehmer, aktuell Führender der FMX-Weltmeisterschaftsserie.

TOP traf den 20-Jährigen auf seinem Trainingsgelände in Niederdorla bei Mühlhausen.

Die metallenen Rampen im Achtmeterradius kennen nur eine Richtung: gen Himmel. Zwei Meter und fünfundsechzig Zentimeter hoch. Mit 60 Sachen hinauf. „… dann hebt er ab und völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff völlig schwerelos. Die Erdanziehungskraft ist überwunden alles läuft perfekt …“

Als Tom Schilling seinen Hit „Major Tom“ (Völlig losgelöst) 1983 schrieb, war Luc Ackermann noch nicht einmal geboren. Dennoch beschreiben die Zeilen ganz gut, was in den zehn Sekunden passiert, wenn sich der Thüringer auf seiner 450er Viertakt-Husquana mittels Rampe in bis zu fünfzehn Meter Höhe katapultiert, Saltos schlägt, sich aus dem Sitz löst, die Maschine für den Bruchteil einer Sekunde gänzlich loslässt, um dann, wenn alles gut gegangen ist, samt Maschine wieder heil auf der Erde zu landen.

Drei Sekunden Schwerelosigkeit. „Dieser kurze Moment in der Luft ist einfach unbeschreiblich cool. Dazu noch die Tricks. Das Wichtigste dabei ist aber“, erklärt Luc Ackermann nach ein paar Trainingssprüngen, „Spaß zu haben, dann geht das alles von ganz alleine.“ Ob er allerdings alleine auf die Idee gekommen wäre, diesen waghalsigen Sport auszuüben? Sein Bruder Hannes, der acht Jahre älter ist, war wohl nicht ganz unschuldig daran. Noch heute trainieren sie fast täglich auf dem Gelände neben dem Sportplatz in Niederdorla zusammen und bauen natürlich auch die Rampen selbst.

Hier auf der grünen Wiese neben dem Fußballplatz hat alles begonnen. Mit dreieinhalb Jahren saß Luc Ackermann das erste Mal auf einer 50-Kubik-Motocross-Maschine. Beim Losfahren und Anhalten mussten sie ihn festhalten, denn sonst wäre der kleine Mann umgefallen, schließlich reichten die Füße noch nicht bis auf den Boden. Er wollte es aber unbedingt seinem Bruder gleichtun. Schon seit zwei Jahren fuhr dieser Motocross-Rennen. Und dann stand da plötzlich beim Bikertreffen am Stausee eine Holzrampe, über die die Jungs aus dem Dorf mit einer ausgeliehenen Maschine sprangen. „So hat das angefangen“, schmunzelt Luc Ackermann und fährt wieder los gen Himmel.

Anfangs fuhr er auch eins, zwei Motocross-Rennen, aber das Springen, diese drei Sekunden in der Luft, das sei eben noch mal etwas ganz anderes. Natürlich fährt er auch heute immer mal wieder ein paar Cross-Runden, wenn es die Zeit zulässt. An 30 Wochenenden ist der Freerider in der ganzen Welt unterwegs. Fünf Stunden Training stehen jeden Tag auf dem Programm. Tricks einstudieren, Fitness, Kraft, Joggen. 

Die ersten Tricks schaut er sich beim Bruder ab. Zuerst nimmt er mal eine Hand, dann ein Bein von der Maschine. Zunächst wird aber auf dem Trampolin und dem Fahrrad geübt. Erst wenn alles sitzt, geht es auf die 100 Kilogramm schwere Maschine. Neue und komplizierte Sprünge werden zuerst im Schaumgummibecken gelandet. Mit 12 startet er bei den Männern, zwei Jahre später holt Red Bull das Naturtalent in sein Team und er darf bei der renommierten Night oft the Jumps-Serie starten. Mit 16 bekommt er seinen eigenen Bullen-Helm – das Nonplusultra in der Szene.

Aktuell beherrscht Luc Ackermann, der sich nach dem Abitur ausschließlich auf seinen Sport konzentriert, so um die 40 Tricks. „Man muss sich den Trick zuerst im Kopf vorstellen“, erklärt er. Als einziger auf der Welt zeigt er bei Wettkämpfen den wohl derzeit spektakulärsten Sprung, den Double-Backflip. Einen doppelten Salto rückwärts! Er war der erste Deutsche und mit 19 Jahren der jüngste Fahrer überhaupt, dem dieser Sprung im vergangenen Herbst gelang.    

Bei diesem Jump, der ihm auch den diesjährigen Europameistertitel einbrachte, ist die benötigte Rotation doppelt so schnell wie bei einem einfachen Backflip – der gelang ihm übrigens im Alter von 12 im Oktober 2010 in Köln. Natürlich war es der „jüngste“ Motorrad-Backflip aller Zeiten. Für den doppelten braucht man viel mehr Motorrad-Leistung in der Rampe. Und Technik. Wann leite ich die Rotation ein, wann ziehe ich hoch, wie kontrolliere ich den Sprung in der Luft? „Macht man sich kleiner in der Luft“, beschreibt der 20-Jährige, „wird die Rotation schneller, öffnet man sich, wird sie langsamer.“ Das Ganze wird mit Gas und Bremse beeinflusst. „Es muss alles perfekt passen.“

Wenn nicht? „Dann ist das wahnsinnig schlecht.“ Das sagt der Niederdorlaer fast genauso emotionslos, wie wenn er über das heiße Sommerwetter spricht. Das ist aber nicht überheblich, er macht das eben schon seit siebzehn Jahren, hundert Sprünge pro Training. Man entwickle eben über die Jahre viel Gefühl für sein Motorrad. Bei Wettkämpfen ist er trotzdem sehr angespannt. Er muss sich konzentrieren auf das, was er vorhat. Zehn verschiedene Sprünge in 120 Sekunden. Dabei merkt er schnell, wenn er die Rampe verlässt, ob der geplante Trick funktionieren wird oder nicht. Wenn nicht, bricht er ab. Manchmal mit schmerzhaften Folgen: beide Schlüsselbeine gebrochen, das Schulterblatt, Zeh und Oberschenkel, das Kreuzband riss, zweimal schlug er sich die Frontzähne raus.

Der Oberschenkelbruch 2016 war bisher die schlimmste Verletzung. Nach einem missratenen Trick verfehlte er in der Luft das Motorrad und stürzte im Schaumstoffbecken mit dem linken? Bein auf das Motorrad. Kurzzeitig dachte er: „Ich habe keinen Bock mehr auf den Sch….“ Aber eben nur kurz. Das erste, was er den Arzt fragte, war: „Wann kann ich wieder fahren?“ Nach sechs Monaten saß er wieder auf seiner Maschine.

In der FMX-Szene, die in der absoluten Weltspitze vielleicht aus vierzig Fahrern besteht, gilt sein Stil als aggressiv. Sein Bruder lacht, schüttelt den Kopf und sagt mit einem Schmunzeln: „Der fährt völlig krank.“ Das ist ein Kompliment! Angst? Nein. Respekt? Ja. Luc Ackermann, der sich auf seinem rechten Fuß sein Motto „Go big or go home!“ (Gib alles oder geh nach Hause!) tätowieren ließ, bezeichnet sich selber als „sehr, sehr ehrgeizig“, er hasst es, „zu verlieren“ und verfolgt seine Ziele „sehr genau“. Weil die Perfektion eben den Unterschied ausmacht. „Viele Fahrer können fast alle Tricks, sie sehen aber nicht so aus, wie sie sein sollten.“

Zwei große Ziele hat Luc Ackermann in dieser Saison bereits erreicht. Er wurde FMX-Europameister und als erster Deutscher FMX-Fahrer zu den X-Games nach Minneapolis eingeladen. Bei der Olympiade des Action-Sports erreichte er bei seiner Premiere einen beachtlichen siebten Platz. Trotzdem war er enttäuscht. Aber der Track, der Anlauf und die Rampen – alles war neu für ihn. Im nächsten Jahr will er wiederkommen und eine Medaille gewinnen. Davor will er sich aber in diesem Jahr noch zum ersten Mal zum Weltmeister krönen. Derzeit führt er in der Gesamtwertung nach vier von neun Veranstaltungen. Am 6. Oktober geht es in Köln weiter.

Weiter geht es auch an diesem Nachmittag in Niederdorla. Beim Verabschieden rufe ich ihm noch zu, „komme immer wieder gesund runter“. Er nickt, setzt den Helm auf und fährt los. Mit 60 Sachen die Rampe hoch, dann hebt er ab…

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Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus