Das Ringen mit der Form
Seit mehr als vierzig Jahren beschäftigt sich der weit über Thüringens Grenzen hinaus bekannte Erfurter Bildhauer und Plastiker Lutz Hellmuth in seinen Kunstwerken mit dem Widersprüchlichen in der Zeit und in uns. Ob Steine, Gipse, Bronzen oder Terrakotten, die figürlichen und abstrakten Arbeiten des Erfurters transportieren ihre eigene Wahrheit unter der Oberfläche.
TOP MAGAZIN besuchte den 71-Jährigen in seinem Atelier in Möbisburg-Rhoda, das derzeit noch einen ganz besonderen Gast beheimatet.
Was sie sich wohl gedacht hat, ausgerechnet hier im Gebälk über der Terrasse ihren Brutplatz zu bauen. Normalerweise meiden Amseln Menschen, gerade wenn sie Nachwuchs erwarten. Diese junge, gefiederte Dame aber, wählte ausgerechnet den Balken für ihr Nest aus, der genau über dem Tisch liegt, an dem Lutz Hellmuth am liebsten sitzt und für gewöhnlich seine Gäste empfängt. Wie uns an diesem wunderschönen Sommermorgen Ende Juli – Dr. Rüdiger Wiese, Kunsthistoriker/Kunstberater und langjähriger Kenner der künstlerischen Entwicklung von Lutz Hellmuth, den Fotografen Marcel Krummrich und den Autor dieses Artikels.
Vielleicht findet die Amsel den Künstler sympathisch. Zumindest kreativ sind beide. Die Amsel besonders in den Variationen ihres Gesangs. Und vielleicht gefällt ihr ja auch, was der Hausherr so in seinem Atelier bewerkstelligt. Sie hat nämlich einen ziemlich guten Blick von ihrem Nest in die Werkstatt und den mit Skulpturen gesäumten Garten. Vielleicht sucht sie aber auch einfach nur den Schutz des Menschen.
Wie auch immer. Jedenfalls beginnen wir unser Gespräch unter Beobachtung der brütenden Amsel. Übrigens mit hervorragendem türkischem Kaffee, kredenzt vom Gastgeber persönlich. „Vier Eier liegen drin, bald müsste es so weit sein“, berichtet Lutz Hellmuth besorgt nach oben schauend. Wir schweifen also noch mal ab vom eigentlichen Grund unseres Besuches. Dass die Amsel als einstiger Waldvogel im 19. Jahrhundert begann, in siedlungsnahe Parkanlagen sowie Gärten bis in die Stadtzentren vorzudringen, brachte ihr den Spitznamen Kulturfolger ein. Dass sie damit im Garten bei Lutz Hellmuth nicht ganz falsch liegt, dürfte bekannt sein. Zudem sie auch noch als Freibrüter gilt. Also ein Freidenker. Wie Lutz Hellmuth.
Jetzt aber mal im Ernst. Wenn eine Amsel kreativ ist, was ist dann für Lutz Hellmuth Kunst? Schweigen. Der 71-Jährige pafft genüsslich seine Pfeife. „Kunst ist so breit gefächert“, beginnt er, „eigentlich ist es die geistige Übersetzung eines Gesehenen, einer gesehenen oder inneren Welt. Die Qualität ergibt sich aus der geistigen Umsetzung.“ Und daran scheiden sich bekanntlich die Geister. Gefällig darf es für Lutz Hellmuth jedenfalls nicht sein, „das können andere machen“. Das Anpassen, dass es für möglichst viele als schön gilt, sei nicht seine Sache da fehle ihm „die geistige Auseinandersetzung“. Sein Ansatz ist das Widersprüchliche in sich.
Mit dieser Einstellung eckt der Erfurter natürlich auch an und macht sich angreifbar. Das sei ihm, der „nicht sachlich“ sein will, aber nicht nur reichlich egal, er provoziere das sogar, offenbar getreu einem einstigen Weimarer Kunstfestmotto von Bernd Kaufmann: „Schöngeister sitzen unbequem“. Wobei gefällig und schön für ihn nicht gleichzusetzen sind. „Denn schön, einmalig und meisterhaft auf ihre Art und Weise sind die Arbeiten von Lutz Hellmuth“, weiß nicht nur Dr. Rüdiger Wiese. Nicht umsonst stehen viele seiner Werke in Museen und im öffentlichen Raum unter anderem in Erfurt, Weimar, Thessaloniki, Eisenach, Marburg, Magdeburg, Jena, Gotha, Schmalkalden, Göttingen, Berlin, Montenegro, Burgas. Dr. Rüdiger Wiese versucht indes, unsere Diskussion über das Gefällige und das Schöne zu entmystifizieren. Für den Kunsthistoriker geht es vor allem um gute und werthaltige Kunst. „Sie soll unverwechselbar und einmalig sein, Aufmerksamkeit erregen, die Sinne ansprechen, etwas auslösen, egal, ob sie zum Nachdenken anregt, von dem einen schön oder dem anderen gefällig empfunden wird.“ Gerade die Plastiken, Skulpturen und Zeichnungen von Lutz Hellmuth transportieren für den Kunstfachmann „in ihrer erkennbar eigenwertigen Handschrift als figürlich-realistische und als abstrakt-zeichenhafte Kunstwerke immer auch eine Wahrheit unter der Oberfläche“. Über ästhetische und haptische Reize gilt es, diese zu entdecken. „Das ist doch das spannende an anspruchsvollen Unikaten, wie bei den Kunstwerken von Lutz Hellmuth. Ansonsten wären sie blanke Dekoration, die kann man im Baumarkt kaufen.“
Wie wurde aus Lutz Hellmuth der Künstler Lutz Hellmuth? Wieder Schweigen. „Mit sechs, sieben Jahren“, beginnt der Gefragte nach einem langen Pfeifenzug zu erzählen, „habe ich begonnen, aus Knetmasse mein Spielzeug zu modellieren.“ Vornehmlich Tiere. „Damals wünschte ich mir zu Weihnachten nichts anderes als große Mengen Knetmasse“, erinnert er sich. Die Eltern erfüllten den Wunsch und tolerierten seine Neigung. Aber im Hause Hellmuth selbst gab es keine Vorbilder für seine sich abzeichnende Begabung. Die Familienausflüge führten sonntags weder in die Museen noch in die Kirche. Der Gottesdienst fand in der Natur statt. Hier hat sich der Blickwinkel des 14-Jährigen verändert. Aus dem Spielzeug wurden Bildwerke. Lutz Hellmuth fing an, figürlich zu modellieren. Kleine nackte Frauen zum Beispiel, was den Vater irritierte und der sich lieber wieder Tiere wünschte.
Der Sohn machte sich indes an eine andere Arbeit, offenbar, so Dr. Wiese, angelehnt an die Porträt-Zeichnung „Die Mutter“ von Albrecht Dürer. Die Terrakottaplastik, die eine alte Frau zeigt, die ihr Gesicht sorgenvoll in ihre rechte Hand legt, steht noch heute in seinem Atelier.
Mit Kunst hatte das aber für Lutz Hellmuth aus heutiger Sicht noch nichts zu tun. Das fing erst mit der Lehre zum Gebrauchswerber an. Damals noch ein gestalterischer Handwerksberuf. Er lernt Tischlern, Beziehen, Malern, Tapezieren und Gestalten. Ein Beruf, bei dem er merkt, „daraus könnte etwas Weiterführendes passieren“. Ein Studium scheint für ihn aber ausgeschlossen, er hat kein Abitur. Trotzdem bewirbt er sich auf Anraten einer Kollegin in Dresden an der Hochschule für Bildende Künste und wird prompt angenommen und studiert von 1964 bis 1969 bei den Professoren W. Arnold, H. Steger, H. Naumann und G. Jaeger. Eigentlich war das zu früh für mich, ich war 21 und von Kunst und Kunstgeschichte hatte ich damals nur wenig Ahnung“, denkt er zurück.
Geschadet hat es ihm aber auch nicht. Gleich nach dem Diplom macht er sich 1970 in Erfurt als freischaffender Bildhauer und Plastiker selbstständig. Und auch wenn er in der DDR, wie viele andere Künstler auch, scheinbar hofiert wird, „du wurdest hofiert und gegängelt“, erklärt Dr. Wiese, lässt er sich nicht instrumentalisieren. Die angekündigten Atelier-Bauten für Erfurter Künstler wurden von ihm mit Zurückhaltung zur Kenntnis genommen. Er bleibt lieber in Möbisburg-Rhoda, wo er 1976 den Anbau eines ehemaligen Gasthauses kaufte und nach seinen Vorstellungen umbaute. „Meine zwei Hände kenne ich, Euch kenne ich nicht“, antwortet er den verwunderten Funktionären.
Staatliche Aufträge versucht er fortan, mit verschlüsselten Inhalten zu versehen. Dr. Wiese ergänzt lächelnd, „wenn er einen Auftrag annahm, veränderte er ihn über die Idee bis zur Umsetzung so lange, bis er für ihn künstlerisch stimmig war.“ Werden seine Arbeiten abgelehnt, weil sie nicht in das Kunstbild der SED passen, antwortet er auch schon mal: „Ich schnitze Ihnen nicht das Parteiabzeichen in erzgebirgischer Schnitzkunst.“
Mitte der 80er Jahre bekommt er einen Auftrag für das Erfurter Wohngebietszentrum Wiesenhügel zum Thema Befreiung. Natürlich dachten die SED-Funktionäre an die Befreiung Nazideutschlands durch die Rote Armee 1945. Lutz Hellmuth denkt das Thema philosophisch. Er konzipiert einen 12 mal 6 Meter großen Tempel mit drei offenen Toren – mit davor sitzenden, hindurch gehenden und in der Mitte verweilenden Menschen. „Befreiung heißt für mich: Ich muss täglich meine Räume öffnen, sie verlassen können und wieder rein können, um zu verweilen und geistig weiterzukommen. “ Die Zeit drängt, Lutz Hellmuth und Dr. Wiese wollen die überlebensgroßen Figuren schnell gießen lassen, bevor die Funktionäre die Arbeit verstanden haben und ihre Ausführung stoppen. Ironie des Schicksals: Die Fertigstellung erfolgt nach dem Mauerfall 1990. Die damaligen Kulturverantwortlichen der Stadt haben anderes im Sinn und verschlumpern die Arbeit. Heute sind nur noch die Figuren als Fragmente der Gesamtgestaltung auf dem Erfurter ega-Gelände zu sehen.
Dabei ist das Thema heute noch genauso aktuell, wie die Arbeiten von Lutz Hellmuth. Denn seine Haltung hat sich mit der Wende nicht geändert. „Meine künstlerische Entwicklung hat nichts mit dem Wechsel des politischen Systems zu tun. Es ist doch immer noch der derselbe Menschenschlag, der den anderen sagen will, wo es langgeht. Auf dieser Ebene muss ich mich nicht an der Politik reiben.“ Zunehmend arbeitet er deshalb auch im Eigenauftrag, denn er muss sich wiederfinden, in dem was er tut.
Reibungspunkte für seine Werke findet er nach wie vor genug. Zum Beispiel beim Betrachten antiker Säulen Anfang der 90er Jahre in Südeuropa. Für den Bildhauer stehen sie „ohne Bauwerk, ihrer Funktion enthoben, völlig für sich in der Landschaft“. Die Silhouette der Säulenform, das Gebrochene. Daraus entstehen für ihn zeichenhaft-abstrakt übersetzte menschliche Figuren, die er aus Terrakotta formt. Die aus Segmenten entstehende Säule wird so zum Träger des Gesehenen. Es geht um das Tragen, das Ertragen, das Stützen. Für Lutz Hellmuth ist das ein stetiges „Ringen mit der Form“. Wirkten die Arbeiten anfänglich harmonisch, findet man seit einiger Zeit eine Disharmonie. „Das Anzweifeln der Säule, die selbst zerfällt oder der die Last der geistigen Architektur zu schwer wird“, beschreibt er, was ihn umtreibt. Das weltweite Finanzgebaren, die Schuldenkrise …, das werde immer so weitergehen, vermutet er. Bis der Atlant kippt. „Ist das aber nicht zu vordergründig gedacht? Kann man durch Kunst die Welt besser machen?“ fragt er zweifelnd. „Man kann solche Themen andeuten, das war es dann aber auch. Die Befindlichkeit darüber ist in einem selbst, dass man nicht jeden Tag in sich harmonisch ist. Das ist das Zerbrechliche, die Hilflosigkeit.“
Und da sind wir wieder beim Nichtgefälligen. Sehr schön war jedenfalls der Vormittag bei Lutz Hellmuth im Garten. Der Amsel hat es offensichtlich auch gefallen, nur kurz hatte sie sich zwischendurch aufgemacht, um Futter zu holen. „Sie wird ein Kunstfreund“, ist sich der Künstler sicher.
Übrigens können Interessierte das auch werden. Jeden Sommer bietet Lutz Hellmuth in seinem Atelier dreitägige Bildhauerkurse an. Vielleicht wäre das etwas für Sie im nächsten Sommer? Dann könnten auch Sie mit Lutz Hellmuth über das Gefällige und das Schöne diskutieren. Und vielleicht ist die Amsel dann auch wieder da.
Meine Wanderung
In Erinnerung (der Kindheit):
Es bleibt immer ein Spiel
und ein Ringen mit der Form
ein geistiger Prozess
immer auch ein Entdecken
ursprüngliches Suchen
die Figuration Mensch hinterfragen
in einer anderen Form zu definieren
für mich selbst Antworten finden
(Lutz Hellmuth)
Fotos: Marcel Krummrich