Der Lebensläufer
Für Harald Schmidt war er ein „Klassischer deutscher Held“, für die Welt am Sonntag gar die „neue Lichtgestalt der Leichtathletik“. Olympiasieger, Europameister, Deutscher Meister über 800 Meter, Sportler des Jahres. Nils Schumann war 2000 ganz oben. Mit 22!
Es folgten 12 Operationen, Misserfolge, Missverständnisse. 2009 Rücktritt und Privatinsolvenz.
Anfang dieses Jahres veröffentlichte der Personaltrainer sein Buch „Lebenstempo“, indem der Erfurter nicht nur zurückschaut, sondern vor allem die Motive und Methoden des heutigen Leistungssports und des Lauf- und Fitnessbooms kritisch auf den Prüfstand stellt.
TOP traf den 38-Jährigen unweit des Olympiastützpunktes Erfurt, an dem er jahrelang trainierte, zum Gespräch über gefallene Helden, ein gescheitertes System und den besten Freund.
Herr Schumann, Sie zitieren zu Beginn Ihres Buches Fausts berühmten Satz „Verweile doch, du bist so schön“. Jagen Sie immer noch dem ultimativen Glücksmoment hinter her?
Das geht doch vielen Menschen so, vor allem im Leistungssport. Jeder läuft eigentlich diesem Glücksmoment hinterher. Wir möchten mit dem Buch versuchen, eine Lösung zu finden, wie man mit dieser Sehnsucht umgeht. Ob es das überhaupt gibt.
Sie hatten ihn doch am 27. September 2000. Und danach?
Natürlich gibt es im Privaten auch tolle Momente, zum Beispiel mit der Familie. Dieses Glück entspricht auch meinem jetzigen Alter. Der Olympiasieg mit 22 war aber etwas ganz anderes, das kann man nicht vergleichen. Die Geburt der Kinder ist etwas sehr privates, durch den Olympiasieg stand ich plötzlich in der Öffentlichkeit. Das war gefühlt viel, viel größer, aber das Leben geht ja weiter. Und dieser Hype kann einen auch ganz schön zermürben. Deswegen war es fast vorhersehbar, dass es von da an in Wellenbewegungen weiter gehen würde. Ich habe mit vielen bekannten Persönlichkeiten gesprochen, die haben alle Abstürze gehabt. Durch das Buch habe ich mich jetzt wieder mit diesem Thema beschäftigt und mich gefragt, was hätte ich damals besser machen können, was lief schief?
Schiefgelaufen ist, dass Sie schon mit 22 auf dem Olymp standen?
Das würde ich nicht sagen. Man kann ja auch nicht denken, gut, ich werde jetzt erst mal Zweiter, oder Dritter und in vier Jahren, wenn ich dann so weit bin, werde ich Olympiasieger. Man muss die Chance ergreifen, wenn sie da ist. Natürlich habe ich danach Motivationsprobleme bekommen. Was sollte ich noch gewinnen? Zum anderen wurde der Druck auf mich immer größer, ich wollte allen beweisen, dass das keine Eintagsfliege war. Ich war damals aber leider in vielen Bereichen noch nicht gefestigt, habe mir nichts sagen lassen. Pressetermine, TV-Auftritte, Sponsoren … Mein Ego wurde gekitzelt und ich fühlte mich unbesiegbar. Ich dachte, das geht jetzt zehn Jahre so weiter. Ging es aber nicht. Heute denke ich, hätte ich damals mein gefestigtes Umfeld mit meinem Trainer Dieter Herrmann behalten, wäre vielleicht vieles besser gelaufen.
Sie könnten zum Beispiel als Trainer Ihre Erfahrungen an junge Athleten weiter geben?
Darauf hatte und habe ich keine Lust, ich möchte das nicht ein Leben lang machen. Erst 15 Jahre Sportler, dann Trainer. Wieder Trainingslager, Wettkämpfe … Ich wollte im Sport bleiben, aber nicht im Leistungssport.
Wie sehen Sie heute den Stellenwert des Leistungssports?
Im Olympiajahr interessieren sich viele auch für Sportarten, die sonst praktisch keine Beachtung finden. Leistungssport ist grundsätzlich wichtig, um zu zeigen, was möglich ist. Insgesamt gesehen wird der Leistungssport aber in Deutschland immer kritischer hinterfragt. Ich glaube, dass ich etwas Talent hatte und es gibt bestimmt auch Läufer, die etwas mehr haben. Aber wie man im Olympischen Finale 2012 in London ohne Tempomacher von der Spitze weg Weltrekord laufen kann, das ist mir ein Rätsel. Das ist eigentlich unmöglich. Genau diese Gedanken machen den Sport kaputt, wenn schon diejenigen zweifeln, die ihn jahrelang betrieben haben.
Als Vater von zwei Kindern frage ich mich schon, möchte ich das für meine Kinder? Immer am Limit, immer an der Grenze, auch was die Gesundheit angeht. Dieser lorbeerkranzgeschmückte Held, immer fair, immer sauber und trotzdem immer erfolgreich, das gibt es doch gar nicht, das ist doch eine Marketingidee. Wer soll dem denn gerecht werden? Das ist letztendendes auch nur ein knallhartes Business.
Haben Sie noch zu Beginn Ihrer Karriere an den Lorbeerkranz geglaubt?
Ja, die Werte des Sports, also Ehrlichkeit, Fairness, Fleiß, wie ich sie als junger Athlet verinnerlicht habe und die mich als Kind überhaupt erst zum Sport gebracht haben, die finde ich heute aber nicht mehr. Für mich sind jetzt auch andere Sachen viel wichtiger. Warum zum Beispiel treiben sozialschwache Menschen kaum Sport und ernähren sich falsch, sie sterben sogar früher. Andererseits greifen zwei Millionen Fitnessstudiobesucher laut einer Studie zu Dopingmitteln. Sie riskieren ihr Leben, wenn sie sich die Mittel im Internet bestellen. Das beschäftigt mich viel mehr als ob eine russische Kugelstoßerin gedopt ist.
In Ihrem Buch befürworten Sie aber eine Dopingfreigabe ab 18.
Wenn Minderjährige zum Doping verführt werden, ist das eine ganz klare Straftat. Viele haben mich nach meiner Aussage kritisiert, aber sie haben einfach nicht verstanden, worum es mir geht.
Nämlich?
Ich fordere, den Athleten moralisch und körperlich wieder mehr Verantwortung zu geben. Das Anti-Dopingkontrollsystem hat versagt, das muss man ganz klar sagen. Jahrelang ist den Sportlern vorgegaukelt worden, dass das System greift. Jahre später sieht man aber, dass das eben nicht so ist. Immer mehr Athleten werden nachträglich des Dopings überführt. Dieses System ist nicht dadurch zu retten, dass die Strafen noch härter werden.
Und mit einer Dopingfreigabe löst man alle Probleme?
Nein, aber Leistungssport ist grundsätzlich nicht gesund, zwölf Mal Training pro Woche kann nicht gut sein für deinen Körper. Ich musste zwölf Mal operiert werden, konnte fast vier Jahre keine Wettkämpfe bestreiten. Dann kommst du nicht mehr zurück. Sind also nicht unter bestimmten Umständen gewisse Präparate, die zum Beispiel die Regeneration beschleunigen und damit etwas für die Gesundheit tun, hilfreich?
Aber wer soll die bestimmten Umstände festlegen?
Kann das überhaupt jemand? Deswegen bin ich für ganz klare Grenzen. Bei Minderjährigen und bei unwissentlichem Doping gibt es gar keine Diskussion, das gehört verboten und bestraft. Aber Volljährige bei gesundem Verstand müssen das für sich moralisch und ethisch entscheiden können, ohne gleich ins Gefängnis zu müssen. Ansonsten kriminalisieren wir das Doping immer weiter. Das Thema muss der Leistungssport selbst klären. Das viel größere Problem in unserer Gesellschaft ist doch der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung. Deshalb habe ich das auch in meinem Buch thematisiert.
Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?
Ich trage die Idee schon lange mit mir herum. Die ersten Anfragen gab es gleich nach Olympia 2000, aber wie sollte ich mit 22 eine Autobiografie verfassen. Später habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht. Nach meinen großen Krisen habe ich mich erst mal abgeduckt, diese Zeit für mich gebraucht. Durch Zufall hat mich vor einem Jahr mein Kunde Erik Niedling wieder darauf angesprochen. Zusammen mit dem Schriftsteller Ingo Niermann haben wir das Buch dann realisiert. Fitnessbücher gibt es genug und für eine reine Autobiografie war ich nicht populär genug, viele erkennen mich ja auch heute gar nicht, weil ich optisch ganz anders aussehe. Natürlich hat das Buch autobiografische Züge, im Kern geht es aber darum, warum es auch mir heute so schwer fällt, Fitness in meinen Alltag zu integrieren.
Stichwort Hamsterrad.
Ja, mir müsste es doch aber leicht fallen. Aber auch ich musste akzeptieren, dass fit nicht perfekt heißt, sondern passend. Viele meiner Kunden merken mit 50, dass sie etwas tun müssen. Durch die Werbung der Fitnessindustrie haben sie aber völlig falsche Vorstellungen. Wir müssen dazu kommen, unseren Körper als besten Freund und nicht als Werkzeug oder Maschine, wie das im Leistungssport oft der Fall ist, wahrzunehmen. Es muss nicht der Marathon, das Sixpack sein. Jeder muss für sich seinen Weg finden, dabei möchte ich meine Kunden unterstützen.
Wie sind die Reaktionen auf Ihrer Lesereise durch ganz Deutschland?
Das Thema betrifft einfach jeden, das merke ich in den vielen Gesprächen. Am Anfang dachte ich, interessiert das überhaupt jemanden, wenn ich da etwas vorlese? Die erste Etappe hat aber schon sehr viel Spaß gemacht, ich lese ja auch nicht nur, viel wichtiger ist es, mit den Zuschauern ins Gespräch zu kommen. Im November geht es wieder für zwei Wochen auf Lesereise. Das größte Kompliment für mein Buch kam von meiner Schwester. Sie mir sagte, dass sie beim Lesen immer das Gefühl hatte, ich rede mit ihr.
Was machen Sie am 16. August 2016 um 3.25 Uhr?
Da ist wahrscheinlich das 800-Meter Finale der Männer bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro.
Das schaue ich mir ganz in Ruhe live an, aufgeregt werde ich aber nicht sein, das bin ich, wenn meine Jungs laufen.
Ein Thüringer wird wohl nicht im Finale stehen.
Nein, wie auch? Bei den begrenzten Möglichkeiten ist eine flächendeckende Sichtung und Betreuung von Athleten doch gar nicht mehr möglich. Ich würde mir wünschen, dass die Leichtathletik irgendwann wieder ein bisschen sexy wird. Die Laufszene entwickelt sich ja stetig weiter. Cross- und Hindernisläufe versuchen, das seriöse Image des Laufens ein wenig aufzubrechen. Das ist eine ganz andere Art des Laufens. Das ist Laufen als Passion, als Erlebnis, es geht weniger um das Ergebnis. Das widerspricht natürlich all dem, was ich einmal gelernt habe, aber andererseits nützt es auch nichts, immer an starren Strukturen festzuhalten, wenn es keinen mehr interessiert. Wenn man bei Thüringer Hallenmeisterschaften bei den Mädchen teilweise nur eine Starterin hat, ist das doch lächerlich. Da kann doch etwas nicht stimmen.
Abschließende Frage an den Fußballfan, wer wird Europameister?
Ich hoffe natürlich auf Deutschland, auch wenn ich eigentlich schon immer mit England sympathisiert habe und sie jetzt auch endlich wieder eine gute Mannschaft haben.
Herr Schumann, vielen Dank für das Gespräch.
Fotos: Mario Hochhaus
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