Die dritte Halbzeit.
Oder: die diametral abkippende Doppelsechs
Er hat sie in 30 Jahren alle interviewt: von Franz Beckenbauer bis Michael Ballack, von Muhamed Ali bis zu den Bee Gees, von Peer Steinbrück bis Franz Josef Strauß, von Harald Schmidt bis Ottfried Fischer.
Waldemar Hartmann.
Er moderierte die Sportschau, berichtete von Olympischen Spielen, Fußball-Festen, er vereinte mit Harald Schmidt Sport und Humor. Waldemar Hartmann polarisierte Zuschauer, die ihn liebten oder hassten, und Kritiker gleichermaßen. Seine TV-Fußball-Talkrunde „Waldis Club“ war Kult.
Zum ersten Mal seit seinem freiwilligen Abschied aus der TV-Landschaft Ende 2012 erzählt „Waldi“ in seiner Autobiografie „Die dritte Halbzeit – eine Bilanz“ seine Sicht der Dinge. Bevor der Wahlschweizer das im November bei der Erfurter Herbstlese tut, traf TOP den 65-Jährigen in München zum Gespräch über die Rudi-Rente, Jogis Tauchstation und Alis Entführung.
„Du sitzt hier bequem auf deinem Stuhl, hast drei Weizenbier getrunken und bist schön locker.“ Nach der Pleite gegen Island in der EM-Qualifikation am 6. September 2003 platzte Teamchef Rudi Völler im Interview mit Ihnen der Kragen. „Weißbier-Waldi“ ist geboren und wird Kult. Haben Sie das Zehnjährige eigentlich gemeinsam gefeiert?
Jedes Jahr am 6. September telefonieren wir, dazu geht jede Rechnung in jeder Hotelbar auf dieser Welt auf meinen Deckel. Jetzt zum Jubiläum gab es sehr viele Anfragen aus den Medien, aber ich weiß, dass Rudi diesen Abend gerne aus seinem Leben streichen würde, dabei hat es ihm noch einmal einen richtigen Popularitätsschub gegeben.
Und Ihnen die Rudi-Rente gesichert.
Genau. Ich war nach dem Interview Weißbier, dabei ist mein Lieblingsgetränk Wodka.
Leider ist der Paulaner-Werbevertrag jetzt ausgelaufen. Trotzdem, danke, Herr Völler, für die Rudi-Rente.
Wie kam es damals eigentlich zu Herrn Völlers Wutausbruch?
Normalerweise ist der Weg des Bundestrainers nach einem Spiel in das Fernsehstudio relativ weit und es dauert ein paar Minuten, in denen er runterfahren kann, bis er im Studio ist. Nicht so im beschaulichen Stadion in Reykjavik. Rudi war nach drei Minuten in unserem mobilen Container-Studio und hörte aus dem Presenterstudio die kritische Spielauswertung von Gerhard Delling und Günther Netzer, die unter anderem vom tiefsten Tiefpunkt der deutschen Fußballgeschichte sprachen. Da sah ich schon, dass Rudi mächtig der Kamm anschwoll. Als wir dann auf Sendung waren, nahmen die Dinge ihren bekannten Lauf. Rudi bezeichnete die Analysen von Netzer und Delling mehrfach als „Scheißdreck“, „Mist“ und „Käse“, den er sich „nicht mehr bieten“ lassen will. Übrigens hat sich Rudi danach noch live in der Sendung bei mir für die Weißbiernummer entschuldigt, alles andere nahm er nicht zurück. Das zeigt seine Charakterstärke.
Das Interview ist legendär und zählt zu den Highlights der deutschen Fernsehgeschichte. Ist so ein Gespräch mit dem heutigen Bundestrainer Joachim Jogi Löw überhaupt vorstellbar?
Nein. Nie. Weil Jogi viel zu glatt gebügelt ist, es passt einfach nicht zu ihm. Rudi würde mit Sicherheit auch niemals Werbung für Nivea machen, die würden sich nicht einmal getrauen, ihn zu fragen. Jogi habe ich bisher nur einmal etwas ungehalten erlebt, nach seiner wochenlangen Tauchstation nach dem verlorenen EM-Halbfinale im vergangenen Jahr gegen Italien. Man musste wirklich kein Experte sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass er sich vercoacht hatte.
Weil er Kroos auf die rechte Seite gegen Pirlo stellte, der zog aber in die Mitte, dadurch war die rechte deutsche Seite verwaist, Boateng musste aufrücken und Hummels das Zentrum verlassen. So viel das 1:0 der Italiener …
Danke. Sie verstehen etwas von Fußball. Warum hat Jogi nicht einfach gesagt: Ja, ich habe danebengelegen. Nein, er war nach der Kritik trotzig, hat auf den Boden gestampft und war beleidigt. Was mir bei ihm so aufstößt, ist, dass er so tut, als wenn er den Jungs das Fußballspielen beigebracht hätte. Dabei hatte doch noch nie ein Bundestrainer so einen Kader mit intelligenten und bestens ausgebildeten Spielern. Das Problem ist doch, dass jetzt alle Nachwuchskicker wie Götze werden wollen, keiner will mehr verteidigen. Grätschen ist ja schließlich verpönt bei Jogi.
Genau wie eine klare Hierarchie.
Wir haben jetzt eine flache Hierarchie. Dabei braucht jedes Team einen, der den Hut auf hat, oder auch zwei. Bei meiner Ballack-Laudatio in der Semperoper habe ich gesagt, dass ein Orchester nur gut spielt, wenn sie harmonisch miteinander spielen, aber trotzdem haben sie einen ersten Geiger und einen Dirigenten. Genauso ist es doch auch beim Fußball.
Michael Ballack war übrigens der letzte Capitano der Nationalmannschaft, der hat nicht nur den Wimpel ausgetauscht, sondern hat sich auch kritisch geäußert. Das gibt es heute nicht mehr und ich weiß nicht, ob diese Entwicklung gut ist. Wir haben zwar jetzt ein Überangebot an guten Spielern, aber wenn es drauf ankam, war bisher nix.
Dafür gibt es doch heute die Doppelsechs, die falsche Neun und die gependelte Viererkette …
Leider wird heute alles im Fußball verwissenschaftlicht. Die DFB-Fußballakademie heißt Hennes Weisweiler. Wenn der heute Begriffe hören würde wie Dreiecksspiel und Doppelsechs, würde der sagen: „Was is dat für ne Schweinerei.“ Oder offensiv gegen den Ball arbeiten. Früher hieß das: Wir gehen vorne drauf. Und ein vertikaler Pass in die Schnittstelle der Viererkette war früher ein Pass in die Gasse. Die meisten Spieler, befürchte ich, verstehen das doch heute gar nicht mehr. Mehmet Scholl hat mir gesagt, bei seinem Trainerlehrgang gab es den Begriff der diametral abkippenden Doppelsechs. Das war dann auch für ihn zu viel.
Zu viel wurde es auch Ihrem Spezi Rudi Völler, er trat ein Jahr nach dem Wut-Interview nach dem Vorrundenaus bei der EM in Portugal zurück. Sie verkündeten diese Meldung noch vor der offiziellen Pressekonferenz in der ARD. Touchdown für einen Journalisten!
Ich traf vor der Pressekonferenz im Fahrstuhl den damaligen DFB-Vize-Präsidenten Theo Zwanziger, der teilte mir etwas verschachtelt mit, dass Rudi gleich zurücktritt. Ich bin sofort zu meinem Redaktionsleiter gegangen und habe ihm gesagt, ich gehe mit der Meldung auf Sendung. Die Kollegen haben noch schnell einen Einspieler über Rudi gemacht und dann habe ich live gesagt: `Mir hat da jemand etwas gezwitschert …` Um 9.30 Uhr begann die Pressekonferenz und ich wartete: Sag es doch endlich. Er hat es gesagt. Das war für mich als Journalist natürlich eine große Sache. Das ZDF, das an diesem Tag eigentlich der übertragende Sender war, hatte derweil noch 15 Minuten Kindergeburtstag gebracht. Meine Live-Meldung ging sofort online, aber mit uns als Quelle. Wäre Rudi nicht zurückgetreten, hätte das für mich auch das Ende als Sportreporter sein können. Aber man muss im Leben gewisse Entscheidungen treffen, das war so eine.
Sie waren Kneipenbesitzer, Discjockey, angehender Versicherungskaufmann und spielten in einer Band. Wie wurden Sie eigentlich Journalist?
Als ich 1977 Pressewart eines Augsburgers Handballlandesligisten wurde. Meine ersten Texte für eine Augsburger Zeitung musste ich unter dem Synonym Hartmut Waldmann schreiben, weil ich ja in Augsburg wegen meiner Kneipe bekannt war wie ein bunter Hund. Am 20. Januar 1979 habe ich für den Bayerischen Rundfunk eine Bundesliga-Probereportage gemacht. Ich fand mich grottenschlecht, der Chef war aber zufrieden. Dann habe ich das Morgentelegramm auf Bayern 3 abwechselnd mit Sandra Maischberger und Günther Jauch moderiert, ebenso die Rundschau im Bayerischen Fernsehen. 1984 bin ich zum Sport gewechselt, habe beim BR „Blickpunkt Sport“ und in der ARD die Sportschau moderiert, von allen Großereignissen und vom Boxen berichtet.
Apropos Boxen, stimmt es, dass Sie 1976 den großen Muhamed Ali entführt haben?
Mehr oder weniger. Ich habe im Mai 1976 die Pressearbeit für Alis Kampf in der Münchner Olympiahalle gemacht. Ich war durch Zufall, und weil ich ganz gut Englisch konnte, sehr nah dran an Ali, ich habe auch sein Training im Zirkus Krone moderiert. Dann war ich plötzlich Mädchen für alles im Ali-Team. Neben der Pressearbeit kümmerte ich mich auch um die Vermarktung. So kam es, das ich die Wagenkolonne vom Alkohol verabscheuenden Moslem Muhamed Ali für einen PR-Auftritt in eine Brauerei quasi umleitete, also entführte. Ali schaute erst etwas verdutzt, dann gab ich ihm meinen kleinen Sohn auf den Arm und er strahlte wieder. Ich habe heute noch seine unterschriebene Hose und Boxhandschuhe zu Hause. Der Ali war völlig normal, aber der ganze Clan drumherum. Naja, wie das eben bei so vielen Prominenten ist.
Nicht zu glauben ist auch, dass Franz-Josef Strauß bei Ihnen am Mikrofon quasi die Alpenrepublik Bayern ausgerufen hat.
Das war auf der Kemptener Festwoche 1980. FJS war Kanzlerkandidat und ich sollte ihn für den Bayerischen Hörfunk interviewen, vorher war ein Vorgespräch geplant. Er kam aber später von seinem Rundgang als vereinbart zum Interview, deshalb war ich schon live auf Sendung. Dann kam er auf mich zu und ich begann: „Herr Ministerpräsident, Sie haben gerade in Ihrer Rede gesagt, Bayern sei autark. Warum machen wir das dann nicht?“ FJS dachte, das ist das Vorgespräch und antwortete: „Wenn mich das der Chefreporter des Bayerischen Rundfunks fragt, dann ist das eine gute Idee. Dann machen wir das und gründen die Alpenrepublik.“ Hinterher war natürlich die Hölle los. Der Kanzlerkandidat hat separatistische Absichten, hieß es in den Medien. Die Staatskanzlei beschwichtigte, das sei ein Spaß in lockerer Runde gewesen.
Locker und spaßig ging es auch von 2006 bis 2012 vor Millionenpublikum in „Waldis Club“ zu, der nicht ganz bierernsten Fußball-Talkshow. Warum wollte die ARD Ihren Vertrag nur bis 2013 verlängern?
Sicherlich gab es Begehrlichkeiten anderer Menschen. Ich habe das engagierte Desinteresse der Verantwortlichen während der EM gesehen, wo nicht einmal, wie üblich während des Abendspiels, die Gäste meiner folgenden Sendung angekündigt wurden. Ich hatte mit 65 auf diese Spielchen keine Lust mehr.
Waren Sie zu aufmüpfig?
Nein, dann hätten sie es schon vor zehn Jahren beenden können, ich habe mich ja nicht verändert.
Es gab nach der EM im Feuilleton harsche Kritik an „Waldis Club“: „Enthemmter Moderator, der Ignoranz, Großmannssucht und Sportchauvinismus praktiziert, Kumpeleiqualle, Duzdudelsack Weißbier-Duz-Journalismus…“
Wir hatten Stadionatmosphäre in Leipzig, während das ZDF aus Usedom mit Animateuren versucht hat, die Alten und Kranken zu animieren.
Natürlich haben wir kein Literarisches Quartett gemacht. Dennoch kamen Gäste wie Anne Will, Harald Schmidt, Til Schweiger, Campino, Helmuth Karasek, Veronica Ferres … zu mir in die Sendung. Wir hatten bis zu 6 Millionen Zuschauer, 3 Millionen im Durchschnitt, 25 Prozent Marktanteil. Und beim größten Sorgenkind der Öffentlich-Rechtlichen, der wichtigen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, hatten wir 23 Prozent. Auch wenn die Verantwortlichen manchmal so tun, als wenn es nicht so wäre, aber die einzige Währung im TV heißt nun einmal Quote. Sicherlich kann man Geschmacksfragen haben, zum Beispiel, dass Bierkrüge auf den Tischen standen, in denen übrigens immer Wasser war. Ich wollte aber nach der Analyse der Analyse ein unterhaltendes Programm für die Zuschauer machen.
Die Nachfolgesendung heißt „Sportschau-Club“ und setzt auf seriösen Fußball-Talk.
Zu der jetzigen Sendung äußere ich mich nicht, ich schaue ohne Emotionen zu, manchmal mit einem leichten Schmunzeln. Ich trete nicht nach, die drei oder vier Nasen, die mich die letzten Jahre geärgert haben, können meine guten Erinnerungen an 35 Jahre nicht trüben.
Ist Ihr aktuelles Buch nicht auch eine Art Abrechnung mit Ihrem ehemaligen Arbeitgeber?
Nein, auch wenn das einige so sehen. Ich erkläre nur, wie das Spiel bei den Öffentlichen-Rechtlichen so läuft. Das ist für mich auch kein Geheimnisverrat, schließlich haben die Zuschauer bzw. jetzt die Leser ein Anrecht darauf zu erfahren, was mit ihren Gebühren passiert. Und witzigerweise bin ich ja jetzt mit meinen Lesungen der große Freund des Feuilletons. Die, die mich 20 Jahre rasiert haben, feiern mich jetzt. Das Wichtigste für mich ist aber, dass die Leute mir zustimmen, wenn ich zum Beispiel über die Verwissenschaftlichung des Fußballs sinniere. Das ist kein Populismus, die Leute haben die gleiche Meinung wie ich. Es sagt keiner, du ewig Gestriger.
Ist das Thema Fernsehen für Sie ein für alle Mal erledigt?
Das ist dahingehend für mich erledigt, dass ich keine Bewerbungen schreibe und ich auch nicht das Fenster Tag und Nacht aufmache, damit neue Angebote hereinflattern. Ich habe verschiedene Angebote und bekomme ständig Einladungen. Wenn mir etwas Spaß macht, mache ich das, ich muss es aber nicht mehr. Ich habe über 33 Jahre im Fernsehen in der Bundesliga gearbeitet, vierte Liga muss ich nicht mehr machen.
Uli Hoeneß würde auch nie in der vierten Liga arbeiten wollen, auch wenn er vielleicht dorthin aufgrund seiner Steueraffäre strafversetzt werden würde.
Ich kenne ihn seit 36 Jahren und schätze ihn sehr. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis, in dem es natürlich auch mal richtig gekracht hat. Sicherlich hat er zu der jetzigen kritischen Berichterstattung über ihn selbst mit beigetragen, weil er jahrelang den Gut-Menschen gegeben hat. Jetzt fällt ihm das auf die Füße. Allerdings wird in Deutschland jedem Schwerverbrecher mit Gutachten und gewieften Anwälten eine Hintertür geöffnet. Es gibt bisher 49.000 anonyme Selbstanzeigen von Steuersündern, nur seine wurde öffentlich. Man darf nicht vergessen, er hat so viel Geld für karitative Einrichtungen gespendet und eingesammelt. Und seien wir doch mal ehrlich, bei jedem von uns ist doch in der Steuererklärung die neue Deckenleuchte eine Bürolampe.
Wir sind hier in München. Wird das bei den Bayern gut gehen mit den beiden Alphatieren Matthias Sammer und Pep Guardiola?
Ja, weil beide in Sachen Fußball Überzeugungstäter sind. Sie werden Meister, aber nicht mehr mit über 20 Punkten Vorsprung.
Sie kommen im November im Rahmen der Erfurter Herbstlese nach Thüringen. Das wäre doch die Gelegenheit, Ihre erste Liebe wiederzutreffen. Eine Erfurterin.
Das hat Frank Elstner auch schon versucht. Aber der Reihe nach. Ich habe 1960 im Konsum-Ferienlager in der Schössersmühle im Harz Renate R. aus Erfurt kennengelernt. Da war ich zwölf und habe zum ersten Mal gemerkt, dass es zweierlei Geschlechter gibt. Beim Abschied, ich fuhr heim nach Nürnberg, sie nach Erfurt, haben wir Rotz und Wasser geheult. Ein Jahr später wurde die Mauer gebaut und 40 Jahre später hat sie Frank Elsner für eine TV-Show wiedergefunden. Wir haben uns aber nicht gesehen, die Fragen, die man uns per Video stellte, haben wir dafür deckungsgleich beantwortet.
Herr Hartmann, vielen Dank für das Gespräch und viel Spaß in Thüringen.
Fotos: Mario Hochhaus