„Die Weimarer Verfassung ist ein großer deutscher Freiheitstext.“

Am 8. Dezember 2021 hat Dr. Marco Buschmann das Amt als neuer Bundesminister der Justiz angetreten. Der Freie Demokrat setzt wie die Gründungsväter der ersten deutschen Republik auf ein Land voller Kraft und Gestaltungswillen durch mehr Freiheit! WEIMARER REpublik sprach mit dem 45-jährigen Anwalt über die Offenheit der Geschichte, das beste politische System und das schönste Hobby der Welt.

Herr Dr. Buschmann, haben Sie die 4. Staffel von „Babylon Berlin“ bereits gesehen?

Nein. Erzählen Sie!

 

Die Staffel spielt 1930 in Berlin und beschäftigt sich neben der Kriminalhandlung mit dem Erstarken des Nationalsozialismus – und „wie sich die Nazis in Deutschland festbissen“ (Regisseur Tom Tykwer). Drei Jahre später war die Weimarer Republik Geschichte. Was waren die Gründe für das Scheitern der ersten Demokratie auf deutschen Boden?

Die Ursachen sind von den Historikern ja gründlich erforscht und beschrieben worden. Es hat die Republik – faktisch und in den Augen vieler – von vornherein schwer belastet, dass sie geboren wurde aus einem so fürchterlichen und verlorenen Krieg und aus einer Revolution. Hinzu kamen die Hypothek der Bedingungen des Versailler Friedensvertrages, wirtschaftliche Not an ihrem Beginn und an ihrem Ende, der mörderische rechtsradikale Terror, politische Blockaden durch starke extremistische Ränder links wie rechts und überhaupt die Schwäche der demokratischen, liberalen Mitte. Am Ende reichte der Druck eines sich fatal überschätzenden Kreises von Republikgegnern um den greisen Reichspräsidenten Hindenburg, dass dieser Hitler zum Reichskanzler ernannte. All das ist bekannt. Aber mir ist trotz alledem doch auch die Offenheit der Geschichte wichtig. In dieser Offenheit liegt der Möglichkeitsraum unserer Freiheit als Menschen. Auch die Weimarer Republik hatte Chancen und hatte ihre Phasen, zumal Mitte der zwanziger Jahre, in denen sie sich stabilisierte und Skeptiker für sich zu gewinnen begann.

 

Die Weimarer Verfassung wurde oft als weitere Belastung bezeichnet, das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich geändert. Was sagt der Jurist und Bundesjustizminister aus heutiger Sicht über die damalige Verfassung?

Der unentschiedene Kompromisscharakter der Weimarer Verfassung zwischen parlamentarischem und Präsidialsystem, die auch durch seine Volkswahl starke eigene Stellung des Reichspräsidenten, dessen Notverordnungsrecht in dem berüchtigten Artikel 48 in Kombination mit seinem Recht zur Auflösung des Reichstags – all das hat sich doch als problematisch erwiesen, etwa indem es das Ausweichen der Parteien und Fraktionen vor der politischen Verantwortung begünstigte. Allerdings kann man hier die Frage von Henne oder Ei wohl doch klar beantworten: Die demokratisch-parlamentarische Praxis auf der Grundlage dieser Verfassung scheiterte, nicht in erster Linie, weil die Verfassung war, wie sie war, sondern weil die Mentalität der Bürgerinnen und Bürger und die politische Kultur des Weimarer Staates die liberale Demokratie nicht ausreichend stützten und trugen. Die Verfassungsväter von Weimar hatten kein Verfassungsvolk, wie man einmal gesagt hat. Man hielt ja etwa weithin für möglich und wünschenswert, dass auch in einer Demokratie Politik ohne Parteien gemacht werde. Und Sie haben ja recht: Zuletzt ist die Weimarer Verfassung – etwa ihr Grundrechte-Teil, das im internationalen Vergleich frühe Frauenwahlrecht, die sozialstaatlichen Passagen oder das von ihr entworfene Verhältnis von Staat und Religion – in der Forschung wieder deutlich positiver beurteilt worden, und ich schließe mich dem gern an.

 

Damals schreckten die Gegner der Demokratie auch nicht vor Morden zurück, 1922 wurde z.B. der deutsche Außenminister Walther Rathenau ermordet. Sie nannten ihn in einem Artikel „einen großen deutschen Liberalen“. Er war nicht nur Politiker, sondern auch ein jüdischer Intellektueller – und Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Knapp 100 Jahre später, am 2. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) erschossen. Er ist der erste Politiker in Deutschland, der in der Nachkriegszeit mutmaßlich von einem Rechtsextremisten erschossen wurde. Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?

Ich denke doch, dass wir aus der Geschichte gelernt haben. Es steht außer Frage, dass die völlig überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft einer Tat wie dem Mord an Walter Lübcke mit Abscheu und Entsetzen begegnet. Der Täter sitzt lebenslang in Haft. Wir arbeiten die Umstände einer solchen Tat auf und versuchen Schlüsse für die Arbeit der Sicherheitsbehörden zu ziehen. Und keine Tat dieser Art kann uns davon abbringen, ein der Humanität und der Würde jedes Menschen verpflichteter Staat zu sein. Mörderischer Terror ist leider nicht verschwunden – aber der Stabilität von Demokratie und Rechtsstaat kann er doch nichts anhaben.

 

Im Ruhrgebiets-Podcast der Essener Brost-Stiftung sagten Sie: „Es gibt nun mal böse Menschen, und denen muss sich der Rechtsstaat entgegenstellen.“ Reichen dafür die aktuellen Gesetze aus?

Ja, der Überzeugung bin ich. Gewalttaten, die uns erschüttern, auch zuletzt, sind strafbewehrt. Die Verabredung zu Straftaten und die Vorbereitung von Straftaten sind es auch. Der Staat kann Reichsbürgern entgegentreten, er kann gegen kriminelle Clan-Mitglieder vorgehen, er kann terroristischen Anschlägen zuvorkommen, er kann Hassrede im Netz ahnden – all das hat er zuletzt gezeigt. Und er kann ausländische Straftäter auch ausweisen und abschieben. Woran es manchmal hapert, ist die Durchsetzung von Recht. Da erlangen dann manche Fälle eine große Aufmerksamkeit – und es folgt reflexhaft der Ruf nach schärferen Gesetzen. Aber die Durchsetzung unseres Rechts wird nicht verbessert, indem man Strafen verschärft oder neue Straftatbestände einführt.

 

Was können wir aus dem Scheitern der Weimarer Republik lernen, damit so etwas nicht noch einmal passiert?

Wir haben von Beginn der Bundesrepublik an aus diesem Scheitern gelernt. Unser Grundgesetz ist ein Dokument dieser Lektion. Die Demokratie, die 1949 begründet wurde, ist eine wehrhafte. Die Verfassungsväter und -mütter haben Sicherungen eingebaut, dass sich die Demokratie nicht selbst abschafft – Sicherungen auch gegen Mehrheiten, funktionierende Sicherungen gegen verfassungsfeindliche Parteien und Bestrebungen, Sicherungen durch Gewaltenteilung und eine starke, unabhängige Justiz. Unsere politische Kultur ist geprägt von der Erfahrung dieses Scheiterns der ersten deutschen Demokratie. Wir sind sehr sensibel für mögliche Gefährdungen der Demokratie und halten sie bei uns keineswegs für allzeit gesichert. Manche meinen ja, wir könnten uns selbst inzwischen mit mehr demokratischem Selbstbewusstsein und Vertrauen begegnen. Aber wir bleiben vorsichtig und haben eben gelernt: Es bedarf unser aller Eintreten als Bürgerinnen und Bürger, um die liberale Demokratie lebendig und stark zu halten. Sie muss Tag für Tag aufs Neue verteidigt werden.

 

Kommen wir zu den positiven Aspekten. Ganz einfach gefragt: Was verdanken wir heute der Weimarer Republik?

Ganz einfach geantwortet: Wir verdanken der Weimarer Republik die erste parlamentarische, rechtsstaatliche, sozialstaatliche Demokratie auf deutschem Boden. Sie ist ein wertvoller Teil unserer nicht eben üppigen Freiheitsgeschichte – und hat es nicht verdient, nur aus dem Blickwinkel ihres Endes und dessen, was dann kam, beurteilt zu werden. Ihre Verfassung ist der große deutsche Freiheitstext zwischen Paulskirchenverfassung und Grundgesetz. Sie hat große Politiker hervorgebracht, an die wir uns mit Stolz erinnern dürfen – wie Friedrich Ebert, Matthias Erzberger, Gustav Stresemann, Walther Rathenau, Gustav Radbruch als Justizminister oder Hugo Preuß als Vater der Weimarer Verfassung.

 

Und wie können wir auf den Errungenschaften der ersten deutschen Republik aufbauen?

Indem wir in der politischen Kultur unseres Landes dieses Lehrstück nie vergessen: Das Lehrstück einer freiheitlichen Demokratie, die der Übermacht widriger Bedingungen, wirtschaftlicher Krisen, politisch-struktureller Hypotheken und mentaler Vorbehalte am Ende nicht gewachsen war. Bleiben wir demütig und wachsam! Halten wir die Freiheit, die wir haben, nie für selbstverständlich!

Politiker haben derzeit einen schweren Stand. Laut Friedrich-Ebert-Stiftung sind nur 38 Prozent der Deutschen zufrieden damit, wie die Demokratie in unserem Land funktioniert. Eine besorgniserregende Entwicklung. Was können Sie als Bundesjustizminister dagegen tun?

Ich sehe da tatsächlich das Bundesjustizministerium in einer guten Position. Es ist ein Verfassungsressort, das heißt, es ist in besonderer Weise verantwortlich für die Vereinbarkeit all dessen, was die Regierung tut, mit unserem Grundgesetz, der Verfassung. Und das Grundgesetz erfreut sich größter Wertschätzung im Land. Ich denke, wenn wir – wie wir es in der Pandemie, vor allem seit dem vergangenen Jahr, gezeigt haben – die Verfassung und die Grundrechte sichtbar unsere Politik bestimmen lassen, dann erfährt das auch Zustimmung. Wir sind Recht und Freiheit verpflichtet. Ein zweiter Gedanke: Russlands grausamer Angriffskrieg gegen die Ukraine gilt zugleich unseren westlichen Werten, unserer Demokratie. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine in ihrem Kampf, sich selbst zu verteidigen, mit so großer Entschiedenheit – politisch, finanziell, militärisch. In Deutschland selbst haben wir die massiven wirtschaftlichen Folgen dieses Kriegs abgefedert. Die Vorhersagen eines „heißen Herbstes“ und von Aufständen im Winter haben sich nicht bewahrheitet. Unsere Demokratie mag nicht vollkommen sein und der kritische Zweifel ist mir selbst etwas Sympathisches – aber ich kenne kein besseres politisches System als unsere liberale Demokratie mit Recht und Freiheit.

 

Sie selbst sagten in einem Interview: „… dass der Rechtsstaat und die Weltoffenheit unseres Landes wanken. Vieles, das vor kurzem noch selbstverständlich war, steht wieder zur Disposition. Wir fordern einen Rechtsstaat, der Freiheit und Sicherheit so ausbalanciert, dass er konkreten Gefahren entschieden entgegentritt, ohne aber die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu verletzen.“

Das ist die große Herausforderung! Wir haben etwa in der Pandemie immer darauf gedrungen, die Einschränkungen der Freiheitsrechte so schnell wie möglich zurückzunehmen, also sobald es die Lage erlaubte und wie es unsere Verfassung verlangt. Die Pandemie mit ihren Einschränkungen war die Ausnahme, Freiheit ist die Regel. Wir folgen hier wie in anderen Bereichen wieder dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Jede Einschränkung unserer Freiheit muss geeignet, erforderlich und angemessen mit Blick auf den angestrebten Zweck sein. Wir winken nicht jede Freiheitseinschränkung durch, nur weil behauptet wird, sie bringe mehr Sicherheit – das gilt heute gerade auch für die Bürgerrechte im Netz.

 

Sie sitzen seit 2009 im Bundestag. Stimmt es, dass Sie zur Politik eher zufällig kamen, weil eine Lehrerin über einen defekten VHS-Rekorder fluchte und meinte, Gesamtschulen seien bestens ausgestattet, Gymnasien würden vernachlässigt? Dem wollten Sie auf den Grund gehen und landeten bei den Jungen Liberalen?

Das war so, ja. Bei meiner Umschau bei den Parteien damals stieß ich überall sonst auf einen ziemlichen Jammerton. Den mochte ich nicht. Bei den Jungen Liberalen gab es nette Leute, die gesagt haben: Jammern hilft nichts. Der damalige Kreisvorsitzende war eine Autorität für mich, er war an der Ruhr-Universität Bochum Korrekturassistent. Der sagte mir immer: Junge, lass dir nichts einreden. Mach, was du für richtig hältst.

 

Haben Sie als Regierungsmitglied überhaupt noch Zeit für das schönste Hobby der Welt, wie Sie es nennen, die Musik?

Wenn ich teilweise viele Stunden im Auto auf Dienstreisen verbringe oder mal eine ruhige Stunde zu Hause habe, mache ich ab und zu noch Musik. Ich schreibe dann gerne soundtrackartige Stücke.

 

Herr Dr. Buschmann, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: BMJ / Dominik Butzmann