„Ich spüre die Verantwortung.“
Jünger, diverser, weiblicher. Mit dem Wahlsieg der SPD ist eine neue Generation in den Bundestag in Berlin eingezogen. Über die Hälfte der 206 Fraktionsmitglieder ist jünger als 40, 25 Prozent sind sogar erst 30 Jahre alt oder jünger. Zu jenen gehört auch Tina Rudolph, die erstmals im Bundestag ihren Wahlkreis Eisenach – Wartburgkreis – Unstrut-Hainich-Kreis vertritt. Ein Besuch im Abgeordnetenhaus und in den heiligen Hallen des Reichstages.
„Du bist jetzt übrigens drin.“ Diesen von ihrem Freund ins Ohr geflüsterten Satz wird Tina Rudolph so schnell nicht vergessen. Gefallen ist er am 27. September 2021 gegen halb neun morgens. Drei Stunden zuvor ist die SPD-Direktkandidatin für den Wahlkreis Eisenach – Wartburgkreis – Unstrut-Hainich-Kreis noch mit gemischten Gefühlen ins Bett gegangen. Einerseits feiern die Genossen ausgelassen den Sieg der SPD im Bund, andererseits scheint Tina Rudolph den Einzug in den Bundestag knapp verpasst zu haben.
Gegen 22 Uhr am Wahlabend denkt sie noch, dass es nicht reichen wird. In der Nacht kommen erste Gerüchte auf, dass es doch noch klappen könnte. Wenn, ja wenn die CSU, ausgerechnet die CSU, bundesweit auf fünf Prozent kommen würde. Dann erhalten nämlich die anderen Parteien sogenannte Überhangmandate, die zusätzliche Sitze im Bundestag bedeuten. Viel darauf geben will Tina Rudolph nicht. Und auch als sie ihr Freund am nächsten Morgen mit den erlösenden Worten weckt, kann sie es noch nicht wirklich glauben. So richtig realisiert, dass sie jetzt dem neuen Bundestag angehört, hat sie es erst, als sie tatsächlich in Berlin ihren Abgeordnetenausweis erhält, das erste Mal im Plenarsaal Platz nimmt und das Mikrofon ausprobiert. Einfach nur cool sei das gewesen.
Zwei Monate später sitzt Tina Rudolph an einem grauen wolkenverhangenen Novembermorgen an ihrem Schreibtisch im Paul-Löbe-Haus vis-à-vis Kanzleramt und Reichstag. Das Machtdreieck der Republik. Nach Macht sieht es in der dreizimmergroßen Büroeinheit, die sie sich aktuell noch mit einem Fraktionskollegen teilt, nicht gerade aus. Tina Rudolph winkt ab, so viel brauche sie auch gar nicht. Ihr reichen Kühlschrank und Kaffeemaschine, wobei Letztere noch auf sich warten lässt. Und die leeren Regale hinter ihrem Schreibtisch sollen sich auch gar nicht wieder mit neuen Aktenbergen füllen. Stichwort Nachhaltigkeit. Soweit es geht, soll die Kommunikation digital vonstatten gehen. Das Faxgerät musste auch schon dran glauben, es steht zusammen mit ein paar alten Computer-Tastaturen zur Entsorgung bereit.
Auch wenn das wuselige Treiben im fünften Stock des Abgeordnetenhauses es noch nicht erahnen lässt: Tina Rudolph und die anderen jungen Wilden der SPD wollen frischen Wind in den Bundestag bringen. Über die Hälfte der 206 Fraktionsmitglieder ist jünger als 40 Jahre, 25 Prozent sind sogar 30 oder jünger. Tina Rudolph ist 30. Cool fanden das die Schüler einer zehnten Klasse aus Gotha, die sie kürzlich besuchten, dass jetzt im Bundestag so viele junge Leute sind. Dann würde sich doch bestimmt auch etwas ändern. Das hofft Tina Rudolph – an ihr soll es nicht scheitern. Die Ärztin kämpft für eine sozialere Gesundheitspolitik. Im Idealfall möchte sie sich im Gesundheitsausschuss für eine Bürgerversicherung und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege einsetzen. Auch die Reformierung der umstrittenen Fallpauschale in den Krankenhäusern steht auf ihrer Agenda. Für ihre Wahlheimat Thüringen möchte sie zudem die Themen Transformation, Strukturwandel und Nahverkehr ganz nach oben auf die Beschlussvorlagen bringen.
Die junge Politikerin macht sich viele Gedanken, trifft sich mit Interessensgruppen und schreibt eifrig Positionspapiere. Bis sie diese aber in die AG Gesundheit oder in Form von Gesetzesentwürfen einbringen kann, wird es aufgrund der Koalitionsverhandlungen noch eine Weile dauern. „Das ist hart für mich als neue Abgeordnete. Eigentlich darfst du jetzt mitmachen, aber dann heißt es, erst muss der Ampel-Vertrag stehen. Und damit ist dann ja auch schon festgelegt, was wir die nächsten vier Jahre machen.“ Mitmachen sieht anders aus.
Natürlich können noch Anträge eingebracht, beraten, diskutiert, beschlossen und im besten Falle in ein Gesetz gegossen werden. Das passiert im Bundestag. Dorthin sind wir jetzt unterwegs. Unterirdisch geht es zum Reichstag. Von der Besuchertribüne aus zeigt uns Tina Rudolph ihren Platz im Plenarsaal. Wobei es bei der SPD für die auf Schienen nach vorn und hinten beweglichen blauen Stühle keine festgelegte Sitzordnung gibt. Die ersten zwei Reihen bleiben trotzdem dem Spitzenpersonal vorbehalten. Tina Rudolph hält sich weiter hinten auf.
Es ist eben immer noch ein ungewohntes Gefühl. Aber auch ein schönes: „Man wird anders behandelt, wenn man den Abgeordnetenausweis vorzeigt. Man hat ein eigenes Büro und Mitarbeiter.“ Euphorisch werde sie deshalb aber nicht. Sie weiß genau, dass das alles temporär ist und einen hohen Preis mit sich bringen wird. 60 bis 70 Arbeitsstunden in einer Sitzungswoche sind keine Seltenheit, dazu kommen am Wochenende digitale Termine und Veranstaltungen im Wahlkreis. Zeit für Sport, Kino, Treffen mit Freunden und endlich Gleitschirmfliegen lernen? Eher nicht. Dennoch sei sie „dankbar für die Position“, sie spüre aber auch, „wie schwer die Verantwortung wiegt“.
Alleine kann sie so oder so nichts bewirken, das geht nur im Team. In der Fraktion sind formell alle gleichberechtigt, jeder darf sich in den Sitzungen zu Wort melden. Die Jusos vernetzen sich zwar in einer Chatgruppe, ein Juso-Block, der immer genau das Gegenteil von dem macht, was die anderen tun, sei das aber nicht. Tina Rudolph fühlt sich respektiert, auch wenn sie noch oft höre, wie jung sie doch wirke. Die „30“ würde man ihr gar nicht ansehen. Wenn es ihr zu viel wird, fragt sie schon mal, „ob man denn nur mitmachen darf, wenn man 70 ist“? Nur weil sie keine 40 Jahre Berufserfahrung habe, müssen ihre Ideen doch nicht weniger wert sein. Und wegen ihres Lebenslaufes müsse sie sich schon gar nicht verstecken.
Aufgewachsen ist Tina Rudolph auf der wunderschönen Sonneninsel Usedom in Mecklenburg-Vorpommern. Bereits in jungen Jahren arbeitet sie nach der Schule in der Gastronomie und sieht, wie schwer es Familien mit niedrigem Einkommen haben, gut für ihre Kinder zu sorgen. Sie interessiert sich für Gesellschaftswissenschaften, Geschichte und Sozialkunde. Politisch aktiv wird sie aber erst während ihres Medizin-Studiums ab 2010 in Jena. Gleich in der ersten Woche geht sie zum Debattierclub und trifft endlich Leute, mit denen sie über Politik reden kann. In der vorlesungsfreien Zeit arbeitet sie in der Pflege – damals noch für einen Stundenlohn unter sieben Euro. Dank der SPD wird der Mindestlohn eingeführt, was ihr ein paar Nachtschichten erspart. Für die Studentin ist das Motivation genug, selbst politisch tätig zu werden. Sie will „etwas Positives im Leben der Menschen bewirken“, so wie sie es selbst erfahren habe. Auf Studienreisen in Sambia und den Philippinen sieht sie, wie gut das deutsche Gesundheitssystem bereits im Vergleich zu denen in den meisten anderen Ländern in der Welt ist. Trotzdem möchte sie sich fortan dafür einsetzen, „dass jede und jeder auch in Zukunft die bestmögliche Gesundheitsversorgung erhält, Pflegebedürftige und pflegende Angehörige zu entlasten und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass diejenigen, die im Gesundheitssystem für die Gesellschaft einen wertvollen Dienst leisten, dies nicht mit ihrer eigenen Gesundheit bezahlen müssen.“
Nach dem desaströsen SPD-Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017 will sie nicht mehr meckern, sondern selbst mitmachen. Sie tritt in die sozialdemokratische Volkspartei ein. Nach einem Jahr wird sie in den Stadtrat von Jena gewählt. Auf Landesebene arbeitet sie aktiv in der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit mit. 2019 schnuppert sie zum ersten Mal die berühmte Berliner Bundestags-Luft. Sechs Wochen lang arbeitet sie dort für den SPD-Abgeordneten Edgar Franke, anschließend digital von Jena aus. Wohlgemerkt neben ihrem Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität. Die Tage sind voll, doch befriedigend. Auch wenn das letzte Wort immer der Abgeordnete hat. Edgar Franke gehört dem konservativen Seeheimer Kreis an. Bei Kleinigkeiten kann es da schon mal zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Mehrmals hört sie den Satz: „Wenn du das anders machen willst, musst du selber kandidieren.“ Gesagt, getan. Im Juni 2021 wagt sie auf dem Landesparteitag die Kandidatur für den vierten Listenplatz der Thüringer SPD zur Bundestagswahl. Per Abstimmung besiegt sie die vom Landesvorstand vorgeschlagene Konkurrentin und wird Direktkandidatin des Wahlkreises Eisenach – Wartburgkreis – Unstrut-Hainich-Kreis. Zu Beginn des Wahlkampfes steht die SPD bei 15 Prozent. Tina Rudolph weiß: Wenn sie ihren Wahlkreis nicht per Direktmandat gewinnt, sind die Chancen, über die Liste in den Bundestag einzuziehen, mehr als überschaubar. Eigentlich ist es ein unmögliches Unterfangen. Tina Rudolph geht es an. Sie bereist das westliche Thüringer Land, das sie selbst noch kaum kennt – von Bad Langensalza über Eisenach bis nach Geisa. Sie geht zu den Menschen, spricht mit ihnen und hört vor allem zu. Sie spürt, dass die Leute der SPD gegenüber aufgeschlossen sind. Das war nicht immer so in jüngster Vergangenheit. Sie kämpft mit ihrem Team bis zum letzten Tag. Es reicht nicht. Am Wahlabend steht es 24 zu 25 Prozent. Sie wird zweiter Sieger, der kein Sieger ist, hinter dem Kandidaten der AfD. Der Rest ist Geschichte. Dank der CSU.
Noch mal will sie auf bayrische Hilfe nicht angewiesen sein. In vier Jahren möchte sie „ihren“ Wahlkreis gewinnen und wieder in den Bundestag einziehen. Bis dahin hat sie aber noch einiges zu tun, denn die Bürger werden sie vor der nächsten Bundestagswahl 2025 fragen, was die SPD und sie von ihren Wahlversprechen umgesetzt haben. Sie würde sich „schuldig fühlen, wenn man im Wahlkampf etwas verspricht und das dann nicht halten kann, obwohl man in der Regierung ist“. Ist das Naivität, Unerfahrenheit oder der Geist einer neuen Politikergeneration? Abgerechnet wird in vier Jahren.
Mittlerweile ist es halb zwei. Über dem Regierungsviertel hängen immer noch graue Wolken. Auf Tina Rudolph wartet der nächste Termin.
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus