Auf Zeitreise mit einem überdurchschnittlich Durchschnittlichen
„Langweilig wird es nie auf dieser Zeitreise, die das Leben ist, bei den Beobachtungen am Rande der Geschichte.“ Das ist der letzte Satz in Stefan Austs Autobiografie „Zeitreise“, die 2021 erschien. Der preisgekrönte Journalist hat aber nicht nur beobachtet, er hat berichtet und aufgedeckt: Baader-Meinhof-Komplex, Hitler-Tagebücher, Parteispendenaffäre, NSU-Mordserie… Dabei sei er immer „skeptisch gegenüber den Regierenden, aber auch skeptisch gegenüber deren Gegnern“ gewesen. In der Erfurter Kaufmannskirche erzählte der 75-Jährige im Rahmen der Frühjahrslese aus seinem bewegten (Journalisten)Leben.
Am 22. Oktober 1522 schlichtete ein gewisser Martin Luther in der Erfurter Kaufmannskirche St. Gregor predigend einen Konfessionsstreit. Ein sechs Meter hohes Denkmal vor den Kirchenmauern erinnert an diesen Auftritt des Reformators, der von 1501 bis 1511 in Erfurt studierte und als Mönch im Augustinerkloster lebte.
Auf der Vorderseite des Standbildes steht der Bibelvers „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkünden.“
Knapp siebenhundert Jahre später verkündete nun der renommierte und mehrfach ausgezeichnete Journalist Stefan Aust an selber Stelle sein Werk. Dies führte zwar bis jetzt zu keiner Reformation, aber es reformierte zum Beispiel 1988 mit der Gründung von Spiegel-TV und ein paar Jahre später von Spiegel Online den deutschen Medienmarkt. Schon Luther wusste um die Bedeutung des geschriebenen Wortes, aber hätte es zu seiner Zeit Bewegtbilder oder gar das Internet gegeben, wie viel mehr Menschen hätte er erreichen können. Stefan Aust erreicht als Investigativ-Journalist beim NDR-Fernsehmagazin „Panorama, als Spiegel-Journalist und -Chefredakteur sowie als Welt-Herausgeber und Autor Millionen Menschen.
An diesem kalten Märzmittwochabend waren es vielleicht 100 Zuhörer in der Kaufmannskirche. Und die froren wie Stefan Aust, der zunächst mit Jacke und Mütze auf dem Podium (oder um bei Luther zu bleiben: auf der Kanzel) neben MDR-Thüringen-Intendant Boris Lochthofen Platz nahm. Es entwickelte sich trotzdem ein unterhaltsames Gespräch mit vielen Anekdoten über bedeutende Ereignisse der Bundesrepublik Deutschland, niedergeschrieben und nachzulesen in Stefan Austs Autobiografie „Zeitreise“.
„Wir sind mit einem Fuß in einem großen Krieg.“
Auf Seite 243 zeigt ein Foto drei Männer mit einer Kerze in der Hand. Der linke ist Stefan Aust, der rechte Wladimir Putin, damals Ministerpräsident Russlands. Aufgenommen wurde das Bild zur Osterandacht 2000 im Zarenschloss von St. Petersburg. Der Anlass war die Rückgabe eines von den Nazis 1941 beschlagnahmten Mosaiks aus dem sagenumwobenen Bernsteinzimmer aus dem Katharinenpalais in Zarskoje Selo bei St. Petersburg. Beschlagnahmt wurde die Beutekunst 1997 in Bremen. Das 55 mal 70 Zentimeter Mosaik aus Marmor und Onyx in einem Goldblechrahmen, der mit Halbedelsteinen besetzt ist, zeigt zwei Paare vor einer italienischen Gartenlandschaft mit einem voluminösen Torbogen, an dem zwei Hunde spielen.
Natürlich ging es Boris Lochthofen bei seiner Einstiegsfrage an seinen prominenten Gast nicht um das florentinische Marmor-Mosaik, das die menschlichen Sinne darstellt. Sondern um Putin. Und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Aust outete sich zunächst als Putin-Versteher, wobei er unterscheidet zwischen „Verständnis haben“ und „kapieren, wie jemand tickt“. Verständnis, dass sich Putin von der Nato-Ost-Erweiterung bedroht fühlt, habe er schon gehabt. Aber was er jetzt in der Ukraine mache, das sei „nicht mehr logisch, aberwitzig und nicht nicht im Interesse seines Landes.“ „Große Sorgen wie noch nie“ mache sich der 75-Jährige. „Wir sind mit einem Fuß in einem großen Krieg.“
Aust selber wächst im Nachkriegsdeutschland auf einem Bauernhof im norddeutschen Stade auf. Erste journalistische Erfahrungen sammelt er bei der Schülerzeitung „Wir“. Dass der eigentlich gute Schüler die zehnte Klasse wiederholen musste, steht aber nicht in seinem Buch. Der Lektorin sei es auch nicht aufgefallen, witzelte Aust. Er selber habe es einfach vergessen. „Wirklich. Ich stehe doch dazu. Ich hatte mir damals einen Arm gebrochen und noch andere Interessen.“ Wie auch immer. Einen Tag nach der Abi-Party im Mai 1966 hat er in Hamburg bei der linken Zeitschrift „konkret“ seinen ersten Arbeitstag. Verantwortlich ist er zunächst für Layout und Titel. Später schreibt er auch seine ersten Texte.
Nach zwanzig Minuten entledigt sich Stefan Aust seiner Jacke und Mütze. Er habe sich jetzt „warmgeredet“.
So richtig warm geworden sei er dagegen mit der DDR aber nie, berichtet der Norddeutsche. „Ich war kein DDR-Versteher, die haben ihre Leute eingesperrt, das ist nicht diskutabel.“ Vielmehr habe er „gar kein Verhältnis“ zum Arbeiter- und Bauernstaat gehabt. „Die Straßen im Osten waren breiter, die Plätze größer. Es war einfach kälter als im Westen.“ (Und dieser Eindruck schien sich and diesem Abend mal wieder zu bestätigen.) Sogar ein Interview mit dem DDR-Journalisten Hans-Dieter Schütt über die Deutsche Demokratische Republik flog wieder raus aus der „Zeitreise“.
„Dann fing Wolf Biermann an zu singen.“
Lediglich dreimal war Aust vor dem Mauerfall im Osten. 1966 in Rostock. Ein Jahr zuvor auf Klassenfahrt nach West-Berlin – mit einem Abstecher in den Ostteil der geteilten Stadt. Noch sehr gut erinnere er sich an den Besuch im Kabarett-Theater Distel in der Friedrichstraße. „Ein Mann steht mit einer Gitarre auf der Bühne und sagt kein Wort, er macht nichts. Im Publikum wurde es langsam unruhig. Schließlich fing einer an zu lachen, bis alle lachten. Dann fing Wolf Biermann an zu singen.“
Beim dritten Mal fuhr Aust zusammen mit Rudi Dutschke auf dem Weg nach Prag durch die halbe DDR. Der Wortführer der Studentenbewegung in West-Berlin und in Westdeutschland sollte einen Text für „konkret“ liefern. Ein paar Tage später trafen sie sich in West-Berlin. Er müsse nur noch ein paar Unterlagen besorgen, sagte Dutschke zu Aust. Am nächsten Morgen, Gründonnerstag 1968, wurde Rudi Dutschke, nachdem er in einer Apotheke Nasentropfen für seinen Sohn kaufte, auf offener Straße niedergeschossen. „Am Abend habe ich zusammen mit Ulrike Meinhof vor dem Springerhochhaus demonstriert und die Steine nach vorne durchgegeben“, erinnert sich Aust. Ironie der Geschichte: Seit 2014 arbeitet Aust für den Springer-Verlag – als Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“ und seit 2016 als Chefredakteur der „Welt N24“-Gruppe.
„Wir waren die erste Generation, die sich mit dem 3. Reich auseinandergesetzt hat, dann kam der Vietnamkrieg, die RAF, die Wiedervereinigung…“
Zwei Jahre nach dem Dutschke-Attentat gründeten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und die Journalistin Ulrike Meinhof die Rote Armee Fraktion (RAF). „Meinhof habe ich das niemals zugetraut, sie war viel zu ungeschickt“, erinnert sich Aust über die Terroristin, die er bei „konkret“ kennenlernte.
Bis heute ist Stefan Aust der deutsche RAF-Experte. Sein Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ (1985, Aktualisierungen 1997, 2008, 2017, 2020) gilt als Standardwerk über die linksextremistische Terrorgruppe, die zwischen 1970 und 1998 33 Morde verübte. Für die Recherchen studierte Aust 30.000 Seiten Ermittlungsakten, darunter die Wortprotokolle des Stammheimprozesses 1984 und die dazugehörigen Tonbänder. Dazu produzierte Aust mehrere Dokumentationen. Sein Buch war zudem die Vorlage für den gleichnamigen Kino-Film (Anm. d. Red.: 2008 mit Moritz Bleibtreu und Martina Gedeck in den Hauptrollen).
„Früher haben die Journalisten immer alles kritisch hinterfragt. Heute sind viele konformer geworden.“
Aust wollte und will mit seiner journalistischen Arbeit immer „Bruchstellen der Gesellschaft zeigen, die ihre Probleme aufdecken“. Stichwort Aufdeckung der gefälschten Hitlertagebücher („Sie glauben gar nicht, wie einfach das war.“), Barschel-Mord („Ich habe eine Theorie, die ich aber nicht erzählen kann.“), Parteispendenaffäre um Helmut Kohl, NSU-Mordserie („Es war nicht so, wie es in den Gerichtsakten steht.“). Aust will immer „beschreiben, wie es ist, nicht, wie es sein sollte“. Dabei sei er „immer skeptisch gegenüber den Regierenden, aber auch skeptisch gegenüber deren Gegnern“ gewesen.
Das vermisse er bei der heutigen Journalistengenration. „Früher haben die Journalisten immer alles kritisch hinterfragt. Heute sind viele konformer geworden, sie sind nicht kritisch den Regierenden gegenüber. Sie wollen ihre eigene politische Agenda umsetzen. Das ist ein Problem.“ Deshalb gehe er auch so gut wie in keine Talkshow mehr, „weil immer dieselben Leute zu bestimmten Themen wie Corona eingeladen werden“.
Ein paar offene Fälle gibt es noch…
Ein paar journalistische Träume beziehungsweise offene Fälle habe er aber doch noch. Das Bernsteinzimmer möchte er finden, den Barschel-Mord und die NSU-Mordserie aufklären. „Und den Kennedy-Mord?“, fragt ein Zuhörer. „Der ist aus meiner Sicht aufgeklärt“, antwortet Aust, „das war ein Putsch. Oliver Stone hat das nach der Einsicht von Akten mit seiner Dokumentation „JFK Reviseted“ (2021) bestätigt. Er lag also mit seinem Film „JFK“ (1991) richtig.“
Es gebe noch so viel zu erzählen (lesen Sie doch das Buch), aber aufgrund fortschreitender Unterkühlung beendete Boris Lochthofen nach eineinhalb Stunden den unterhaltsamen Abend. Eines wollte der Intendant aber doch noch von seinem Gesprächspartner wissen, warum der sich denn selber als überdurchschnittlich Durchschnittlichen bezeichnet. „Ich habe beim Spiegel viele Jahre Titelbilder entworfen, die mich interessierten. Die haben sich meistens gut verkauft, also bin ich der Durchschnitt“, antwortete Aust mit seinem spitzbübischen Lächeln. Anschließend schrieb er noch fleißig Autogramme und signierte Bücher. Mit Jacke und Basecap. Es ist kalt im Osten.
Text: Jens Hirsch
Foto: Mario Hochhaus