„Musik ist Freiheit“

Der Boston Globe bezeichnete sie 2003 als die „vielversprechendste Jazzsängerin seit langer, langer Zeit“. Die FAZ schrieb 2009: „Ihre Sinnlichkeit, ihre charakteristisch kehlige Stimme aus der Baritonregion bis in die Stratosphäre eines Soprans, ihre Intensität und geradezu atemraubende Dramaturgie, ihre Urwüchsigkeit und ungebrochene Kraft sind der Körper des Jazz.“ 2011 gewann Lyambiko, die in Greiz geboren und aufgewachsen ist, den Echo Jazz. Aktuell tourt Deutschlands beste Jazz-Sängerin mit ihrem elften Album „Love Letters“ durchs Land. TOP traf die 42-Jährige in Dresden.

Dresden, ein regnerischer Novembernachmittag. Im Jazzclub Tonne, vis-à-vis der Frauenkirche, probt Deutschlands beste Jazz-Sängerin mit ihrer Band für das abendliche Konzert. Während des Einspielens eines Songs fragt Schlagzeuger Tilman Person: „Biko, kannst du mir bitte ein Zeichen geben, wenn du an dieser Stelle wieder einsetzt.“ Nein, das könne sie bei diesem Stück nicht, sie wisse erst genau in jenem Moment, dass sie jetzt wieder einsetzt, erwidert die Sängerin. Nach der Probe erzählt mir Lyambiko, dass sie meistens aus dem Bauch heraus agiere. Sie legt sich nicht gerne fest. Musik ist für die 42-Jährige „Freiheit“. Und bei diesem Stück könne sie eben nicht, wie es üblich ist, dem Kollegen ganz genau signalisieren, wann ihr Part kommt.

Aufgewachsen ist Sandy Müller, wie Lyambiko mit bürgerlichem Namen heißt, in der unfreien DDR. In der ostthüringischen Kleinstadt Greiz. Mit drei Geschwistern, die Mutter alleinerziehend. Natürlich merkt sie sehr schnell, dass sie und ihre Geschwister anders aussehen. „Wir waren die bunten Hunde.“ Die Blicke, das Tuscheln der Leute, dumme Sprüche. Das alles lässt sie nicht an sich herankommen. Aber es prägt sie. Bis heute. Gerade heute. Sie flüchtet in die Musik. Schon der Opa hatte in der Nachkriegszeit in einer Swingband gespielt. Sie singt für sich zu Hause, im Schulchor, lernt Klarinette und Saxophon, bekommt eine klassische Gesangsausbildung und tritt mit ihrem Bruder auf. Die Mutter hört Al Green, Abba, Michael Jackson. Richtig toll findet die Tochter aber Janis Joplin und Tracy Chapman. Die Musik und vor allem die individuellen und unverkennbaren Stimmen inspirieren sie. Fünf Jahre nach dem Mauerfall, sie ist gerade 17 Jahre alt, gründet sie ihre erste eigene Band. Eine Girl-Band, alle mit Brille und braunen Augen. Die Six Brown Eyes. Sandy singt und spielt Saxophon, die beiden anderen Gitarre. Folk, Pop, Blues. Nach ersten kleineren Gigs in Nachbardörfern gewinnen sie bei einem Bandcontest den ersten Preis: Sie dürfen zwei Stücke in einem Tonstudio aufnehmen. Parallel spielt sie Saxophon in einer Free Jazz Band, den media nox – noch heute ein Begriff in Greiz.

Musiklehrerin möchte sie nach der Schule werden. Beim phoniatrischen Test werden aber Knötchen auf den Stimmbändern festgestellt. Das Aus für den Traumberuf. „Ich war am Boden zerstört und wusste mit meinem Leben nichts mehr anzufangen. Für mich war klar, Musik wird also nie meine Profession werden.“ Zum Glück kam es anders. Dafür musste sie aber raus aus ihrem Umfeld. In Greiz war sie gestrandet. Sie hatte mit dem Singen aufgehört, die Six Brown Eyes gab es auch nicht mehr. 1999 geht sie nach Berlin. „Es war wegen der Musik, aber das war mir damals nicht klar.“ Sie schreibt sich an der Humbold-Universität für Musikwissenschaften ein und nimmt Gesangs- und Klavierunterricht. Für ein Semesterprojekt geht sie abends in Jazzclubs. Unter anderem in die Dircksenstraße, wo heute das B-Flat ist. Bei den Jazz-Sessions merkt sie, „das ist genau das, was ich mir für mich vorstellen könnte“. Zu Hause hört sie Ella Fitzgerlad, „traumhaft schön“. Und dann Nina Simone. „Da war es passiert, ich wollte Jazz-Sängerin werden“, erinnert sie sich. Sie erarbeitet sich ein kleines Repertoire an Jazzstandards und steigt bei den Sessions ein. Durch die Empfehlung des bekannten Jazz-Sängers Mark Murphy bekommt sie im April 2000 im A-Train ihren ersten Auftritt als Sängerin. Ein Erfolg. Sie spielt mit verschiedenen Musikern. Schnell kristallisiert sich eine feste Band heraus. In einer Garage nehmen sie das erste Demoband auf und bekommen einen Plattenvertrag. Im April 2001 gibt sie ihrer Band, bestehend aus Pianist Marque Lowenthal, Bassist Robin Draganic und Schlagzeuger Torsten Zwingenberger, den Namen Lyambiko & Band. Der Familienname ihres Vaters.

„Was bedeutet Lyambiko?“, möchte ich wissen. Die Sängerin lacht. Sie glaubt die Geschichte nicht, die ihr Vater ihr erzählt hat. Und die geht so: Ein Mann hat gestohlen, weil er Hunger hatte. Zur Bestrafung wird er in einen Lehmtopf gesteckt und soll gekocht werden. Wenn er überlebt, ist er frei. Wenn nicht, hat er seine Strafe erhalten. Der Topf zerbricht, der Dieb hat überlebt und ist fortan ein freier Mann. Lehmtopf heißt auf Swahili Lyambiko. „Mein Vater ist ein ziemlicher Geschichtenerzähler, wahrscheinlich hat er sich das nur ausgedacht.“

Viele Jahre hat Lyambiko nichts von ihrem Vater gehört, der kurz nach ihrer Geburt zurück nach Tansania geht. Die Mutter spricht nicht über ihn. Erst von der Tante bekommt sie heimlich seine Adresse. Und schreibt ihm, obwohl sie vermutet, dass er dort längst nicht mehr wohnt. Er antwortet nicht. Als die Mutter stirbt, gibt sie sich den Künstlernamen Lyambiko. „Ich wollte den Namen in die Welt hinaustragen, in der Hoffnung, mein Vater nimmt mich so zur Kenntnis.“ Schließlich ist er auch ein Musiker, er sang früher in Greiz bei den media nox, der Band, bei der seine Tochter, ohne das zu wissen, Saxophon gespielt hat. Erst später bekam sie von den Bandmitgliedern Fotos und Kassettenaufnahmen vom Vater. Bei einem Konzert 2003 in Berlin spricht sie ein Pfarrer an. Er arbeite in Tansania und kenne wahrscheinlich ihren Vater, sagt er zu ihr. Vierzehn Tage später telefoniert sie das erste Mal in ihrem Leben mit ihrem Vater. 2004 besucht sie ihn in Tansania. Mit dem Begriff Vater tut sie sich schwer, sie hat schließlich 30 Jahre ohne ihn gelebt. Heute ist der Kontakt sporadisch.

Lyambiko hat ihre eigene Familie gegründet und lebt seit sieben Jahren in der Schweiz. Zu Hause entflieht sie dem Trubel, da ist sie Familienmensch. Auf Tournee oder im Studio kann sie dagegen ganz sie selbst sein, sich selbst finden und verwirklichen. Mit ihrer Band tourt die „stolze Thüringerin“ durch Europa und die USA. Der Boston Globe bezeichnet sie 2003 als die „vielversprechendste Jazzsängerin seit langer, langer Zeit“. Die FAZ schreibt 2009: „Ihre Sinnlichkeit, ihre charakteristisch kehlige Stimme aus der Baritonregion bis in die Stratosphäre eines Soprans, ihre Intensität und geradezu atemraubende Dramaturgie, ihre Urwüchsigkeit und ungebrochene Kraft sind der Körper des Jazz.“ 2011 gewinnt sie den Echo Jazz in der Kategorie „Beste Sängerin“. Mit Elementen aus Swing, Latin, Soul und Pop präsentieren Lyambiko gemischten, modernen Jazz und haben sich dank dieser Vielseitigkeit eine herausragende Position innerhalb der deutschen Jazz-Szene erspielt. Ihr musikalischer Traum ist ein Album mit Stücken, die sie zusammen mit ihren Bandkollegen während eines Aufenthalts in Tansania schreibt. Im Heimatland ihres Vaters würde sie zudem gern auf einem Musikfestival spielen, an Workshops teilnehmen und sich mit einheimischen Künstlern austauschen und inspirieren lassen.

Zum aktuellen 11. Album „Love Letters“ inspirierten die 42-Jährige, die die Vermischung verschiedener Musikgenres spannend findet, wiedergefundene Liebesbriefe aus der Familie ihres Mannes. Das Ergebnis ist eine Mischung aus eigenen Songs mit Klassikern wie „Close Your Eyes“, „Stardust“ oder „Someday My Prince Will Come“, die vor dem Hintergrund der Liebesbriefe eine ganz neue Geschichte erzählen. Erzählt werden die Geschichten auf der aktuellen Tournee durch Deutschland. An diesem Abend in der Jazztonne in Dresden. Am 9. April 2018 beginnt die Frühjahrstour.

Lassen Sie sich das nicht entgehen, es ist ein Fest für Ohren und Augen!

www.lyambiko.com

Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus