„Die Profiteure tanzen in den Palasthotels.“
29.525 Prozent. 1 Dollar = 4,2 Billionen Mark. Das sind die nackten Zahlen zum Höhepunkt der Hyperinflation im Herbst 1923 im Deutschen Reich. 100 Jahre später hat das Thema Inflation wieder Hochkonjunktur. 10 Prozent in der Spitze reichen, damit die alten Ängste der Deutschen zurückkehren. Aber wie konnte es vor 100 Jahren überhaupt so weit kommen?
„Sich aufblasen“. Das ist die Übersetzung des lateinischen Wortes „inflatio“. Daraus wurde eingedeutscht Inflation. Sie bezeichnet laut Fachsprache „die Steigerung des Preisniveaus bzw. die Entwertung des Geldes in einer Wirtschaft über einen bestimmten Zeitraum“. Für die Hyperinflation gibt es dagegen keine allgemein akzeptierte Definition, eine 1956 von Phillip D. Cagan aufgestellte Faustregel von monatlichen Inflationsraten von 50 Prozent, die einer jährlichen Rate von rund 13.000 Prozent entsprechen, ist aber weit verbreitet. In den letzten dreißig Jahren pendelte sie sich in Deutschland zwischen 0 und 3 Prozent ein. Laut Europäischer Zentralbank liegt der Idealzustand bei 2 Prozent. Mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine und der daraus folgenden Energiekrise ab Februar 2022 blies sie sich hierzulande auf fast 10 Prozent auf. Und die Angst der Deutschen vor einer Rückkehr des Traumas Hyperinflation bekam neue Nahrung, angefüttert durch mediale Bildwelten von vor 100 Jahren. Obwohl die aktuellen Inflationsraten, Februar 2023 mit 8,7 Prozent, nie auch nur annähernd die Werte der 1920er Jahre erreichten, reagiert die Öffentlichkeit sehr sensibel auf Ausschläge.
Dazu passend erschienen und erscheinen im „Jubiläumsjahr“ zahlreiche Bücher, Artikel, Filme und Dokumentationen über das Jahrhundertereignis Hyperinflation. Die Gründe für das Zusammenbrechen der Währung und damit der gesamten Volkswirtschaft werden aufs Neue wissenschaftlich, historisch und literarisch beleuchtet. Das Interesse an der Währungskatastrophe scheint ungebrochen groß. Dabei hat sich an den Fakten nichts Gravierendes geändert. Eine ganze Heerschaar von Historikern kommt übereinstimmend zu folgenden Schlüssen: Das Ungemach begann schon vor 1923, nämlich ab 1914 mit der Kriegsfinanzierung auf Pump. Der Kaiser und seine kriegstrunkenen Mitstreiter borgten sich Geld (Kriegsanleihen) beim patriotisch verblendeten Volk und verschuldeten sich obendrein bei der jubilierenden Kriegswirtschaft. Die stetig steigende Geldmenge führte zu einer kontinuierlichen Geldwertverschlechterung und sinkender Kaufkraft. Nach dem Ende der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie sie der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan 1979 als Erster bezeichnete, erbte die junge demokratische Weimarer Republik die finanziellen Belastungen aus dem Weltkrieg. Mit der militärischen Niederlage 1918 blähte sich die Geldmenge weiter auf. Nach Bekanntgabe der im Londoner Ultimatum von 1921 festgesetzten Höhe der alliierten Reparationsforderungen beschleunigte sich die Inflation nochmals. Auch durch Ausgaben der Republik für gesellschaftliche Stabilität und sozialen Frieden und trotz der Bemühungen um eine gerechte Lastenverteilung (z.B. die Steuerreform von Matthias Erzberger). Zudem standen dem überraschenden Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg mit niedriger Arbeitslosigkeit und hohem Exportüberschuss, aufgrund der billigen Mark, gleichzeitig steigende Löhne und Preise sowie politische Krisen gegenüber. Als schließlich im Januar 1923 französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten und die Reichsregierung den Widerstand dagegen finanzierte, nahm der Geldstrom kein Ende mehr.
Das Ergebnis ist bekannt. Das Kartenhaus brach nach elfmonatiger Hyperinflation mit durchschnittlich über 50 Prozent, Höchstsatz 29.525 Prozent im Oktober, im Herbst 1923 zusammen. 1 Dollar kostete 4,2 Billionen Mark! Die Ersparnisse zahlloser Familien waren vernichtet.
Um sich diese Geldentwertungsmaschine besser vorstellen zu können, lohnt ein Blick zur damaligen Reichsbank und Reichsdruckerei. Die ließ noch im Februar 1924 als höchsten Wert einen Geldschein über 100 Billionen Mark (100.000.000.000.000 M) drucken. Zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs wurden riesige Mengen an Scheinen benötigt. Bis zu 133 Fremdfirmen mit 1.783 Druckmaschinen arbeiteten Tag und Nacht. Das dafür erforderliche Banknotenpapier wurde von 30 Papierfabriken produziert, 29 Werkstätten stellten dafür rund 400.000 Druckplatten her. Insgesamt waren etwa 30.000 Menschen mit der Herstellung der insgesamt ca. 10 Milliarden staatlich ausgegebenen Inflationsscheine beschäftigt. Trotzdem reichten die verfügbaren Zahlungsmittel nicht aus, die Druckmaschinen konnten den schwindelerregenden Wertverlust einfach nicht mehr durch vermehrten Notendruck ausgleichen. Deshalb wurden von mehr als 5.800 Städten, Gemeinden und Firmen eigene Notgeldscheine herausgegeben. Insgesamt sind über 700 Trillionen Mark (700.000.000.000.000.000.000 M) als Notgeld und rund 524 Trillionen Mark (524.000.000.000.000.000.000 M) von der Reichsbank ausgegeben worden.
Die grotesken Auswüchse der Hyperinflation haben sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben. Sie machten aber nur einen Teil der damaligen Lebenswirklichkeit aus. Der Ernst der Inflation bleibt in den Bildern meist verborgen. Zu Tage tritt er umso eindringlicher in den Zeitzeugenberichten:
Dorothea Günther aus Berlin, damals 9 Jahre alt, 2010:
„Die Herbstferien verbrachten meine Schwester Hilde und ich gern bei den Verwandten in Guben, die eine Drogerie und Samenhandlung besaßen. Besonders gern half ich meiner Tante Röschen beim Verkaufen. Abends ging es ans Geldzählen. Im Herbst 1923 wurden täglich Milliarden eingenommen, dann sogar Billionen. Wir Kinder konnten mühelos mit diesen heute unvorstellbaren Summen umgehen. Entsprechende Geldscheine gab es bald nicht mehr, sondern aus alten Hunderter- und Tausenderscheinen wurden durch einen roten Aufdruck Millionen- und Milliardenscheine gemacht. Das Geld wurde nach dem Zählen gebündelt und in großen Taschen zur Bank gebracht. Zu Hause machte uns die Hyperinflation das Leben schwer. Mein Vater, Gewerbeoberlehrer von Beruf, erhielt in dieser Zeit seine Gehaltszahlung täglich. Wenn er mittags mit einer Aktentasche voller Geldscheine nach Hause kam, lief Mutter sofort zum Kaufmann. Oft kam sie enttäuscht wieder, weil der Ladenbesitzer vor ihrer Nase die Rollläden heruntergelassen hatte: Mittagspause! Die nutzte er dann, um die Preisschilder zu ändern. Wären in dieser Zeit nicht ab und zu Lebensmittelpakete aus Guben gekommen, hätte es schlimm ausgesehen mit der Versorgung der fünfköpfigen Familie.
Tante Berta, eines der sechs Geschwister meiner Mutter, hatte in dieser Zeit ein schreckliches Erlebnis. Sie war ein herzensguter, hilfsbereiter Mensch, allerdings nicht mit geistigen Gaben oder praktischen Fähigkeiten gesegnet. Zu allem Übel war sie unverheiratet und damit gesellschaftlich nicht angesehen. Ihre Gutmütigkeit wurde von den Mitmenschen oft schamlos ausgenutzt. Berta hatte ihr Erbteil angelegt, indem sie den Geschwistern Geld lieh in Form von Hypotheken auf ihren Anteil an den Immobilien der Familie. Außerdem hatte sie Kriegsanleihen gezeichnet und Aktien gekauft. Diese Geldanlagen waren schon kurz nach dem Krieg verloren, aber der härteste Nackenschlag traf Berta, als Emma, eine der Schwestern, ihr das Geld für die Hypotheken ohne Vorankündigung im Jahr 1923 zurückzahlte. Weinend rannte Berta mit den Geldscheinen hinunter in den Laden zu ihrem Bruder Wilhelm. Und der verkaufte ihr für das Geld einen Salzhering. Dieser Hering wurde zu einer Legende in der Familiengeschichte.“
Klaus Mann (* 18. 11. 1906 in München, † 21. 5.1949 in Cannes, deutsch-amerikanischer Schriftsteller und ältester Sohn von Thomas Mann) über Prostituierte in Berlin, 1923:
„Einige von ihnen sahen aus wie wilde Amazonen, die in hohen Stiefeln aus grünem, glänzendem Leder stolzierten. Eine von ihnen schwang einen geschmeidigen Stock und starrte mich an, als ich vorbeikam. ,Guten Abend, Madam‘, sagte ich. Also flüsterte sie mir ins Ohr: ,Willst du mein Sklave sein? Kostet nur sechs Milliarden und eine Zigarette. Ein Schnäppchen.‘“
Doch wie bei jeder Wirtschaftskrise und bei jedem Krieg gibt es nicht nur Millionen Verlierer – vor allem traf die Hyperinflation die Mittelschicht, also Geschäftsinhaber, Professoren, Beamte, Juristen, Pfarrer, Lehrer, Hausbesitzer – sondern auch wenige Gewinner, die durch Glück und Geschick ein Vermögen machten. Vom Volksmund als „Raffkes“ geschmäht, kauften sie alles auf, was andere notgedrungen verkaufen mussten. Der Schriftsteller Klaus Mann beschrieb das so: „Der blutige Aufruhr des Krieges ist vorbei: Genießen wir den Karneval der Inflation. Es ist eine Menge Spaß und Papier, bedrucktes Papier, schwaches Zeug – nennen sie es immer noch Geld? Für fünf Milliarden davon kann man einen Dollar bekommen. Was für ein Witz! Die Yankees kommen diesmal aber als friedliche Touristen. Sie kaufen einen Rembrandt für ein Sandwich und unsere Seelen für ein Glas Whisky. Krupp und Stinnes werden ihre Schulden los, wir von unseren Ersparnissen. Die Profiteure tanzen in den Palasthotels.“
Weil die Reichsbank der Industrie kurzfristige Kredite zur Verfügung stellte, konnten viele Unternehmen ihren Besitz mit Hilfe der fortschreitenden Geldentwertung erweitern. Gemäß dem Grundsatz „Mark = Mark“ konnten Kredite, die in höherwertigem Geld aufgenommen worden waren, mit entwertetem Geld zurückgezahlt werden. Schulden lösten sich so quasi in nichts auf. Als größter Profiteur gilt der Großindustrielle Hugo Stinnes, auch „der Inflationskönig“ genannt. Der geniale wie skrupellose Unternehmer aus Mülheim an der Ruhr errichtete in der Inflationszeit durch die Aufnahme hoher Schulden ein gewaltiges Firmenimperium. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses ist er an mehr als 4.000 Industrie und Handelsbetrieben beteiligt. Nach seinem Tod 1924 zerfällt der Konzern allerdings binnen kurzer Zeit. Ein noch größerer Profiteur war jedoch „Vater Staat“: Seine gesamten Kriegsschulden in Höhe von 154 Milliarden Mark beliefen sich bei der Währungsumstellung am 15. November 1923 auf gerade einmal 15,4 Pfennige!
Zur Bekämpfung der Inflation wurde am 16. Oktober 1923 die Deutschen Rentenbank gegründet. Trotzdem stieg der Dollarkurs wenig später auf 40 Milliarden Mark. Vor allem in Sachsen und Thüringen kam es verstärkt zu Unruhen republikanisch-proletarischer Kräfte, die eine „großkapitalistische Militärdiktatur“ befürchteten. In Bayern riefen rechtsgerichtete Wehrverbände zu einen bewaffneten „Marsch nach Berlin“ auf, in Aachen wurde eine separatistische Rheinische Republik ausgerufen und in Hamburg kam es zu bewaffneten Straßenkämpfen zwischen Kommunisten und der Polizei. Adolf Hitler wollte schließlich mit seinem Putschversuch vom 8./9. November 1923 in München die Republik stürzen und eine Diktatur nach dem Vorbild Mussolinis errichten. Das Vorhaben scheiterte kläglich. Die Weimarer Republik war gerettet.
Mit der Währungsreform trat am 15. November 1923 eine neue Währungsordnung in Kraft – die Inflation war schlagartig beendet. Es begannen die „goldenen“ zwanziger Jahre.
Hoffentlich stehen uns diese, 100 Jahre später, noch bevor!
Quellen: Deutsches Historisches Museum, Berlin; Weimarer Republik
Fotos: BArch, Thomas Müller (Weimar)
Text: Jens Hirsch