Das Gespräch
„Der junge Pianist aus dem Thüringer Eichsfeld belässt es nicht bei einem anonymen Fingerspiel. Reduziert auf Klavier entstanden auf seinem Albumpaar „Tag“ und „Nacht“ jenseits von deutungsschwerer Klassik oder Pop-Pathos hinerzählte Landschaften und skizzenhaft gemalte Kompositionen. Der extrem minimale Ansatz und die Schönheit in den detailverliebt arrangierten Figuren werden zum Sog.“ So beschreibt die ARD das Klavierspiel von Martin Kohlstedt, der auch immer wieder die Elektrotanzbretter der Welt bereichert. Im Herbst erscheint die dritte Platte des 27-jährigen Tastenvirtuosen.
TOP besuchte den Breitenworbiser in seiner Wahlheimat Weimar.
„Wenn ich Geld hätte, würde ich mir lieber so einen kaufen als einen Porsche.“ Was Martin Kohlstedt mit „so einen“ meint, wurde 2001 in Hamburg gebaut, ist 2,75 Meter lang, wiegt 580 Kilogramm und hat 240 Saiten. Er steht auf der Bühne im Festsaal des Fürstenhauses der Hochschule für Musik (HfM) in Weimar. Er heißt D. Steinway Konzertflügel D.
Während der Fotograf das Licht einstellt, setzt sich Martin Kohlstedt an das Kult-Klavier schlechthin, gebaut von den wohl berühmtesten Klavierkonstrukteuren der Welt -Steinway & Sons. Behutsam öffnet er Klaviatur und Gehäusedeckel. Und fängt an zu spielen. „Ich schaue erstmal wie alles klingt, das ist so unglaublich präzise, die unterschiedlichen Stufen jeder einzelnen Taste, das volle Bankett“, gerät der 27-Jährige ins Schwärmen. Der Saal ist ihm vertraut, an der HfM hat er Unterricht genommen. Hier spielt er ab und zu mit gleichgesinnten Musikern.
„Wie heißt denn das Stück?“, fragt mich Nicole Rickert, die Pressemitarbeiterin der Hochschule. „Das ist kein Stück, er spielt einfach!“, erwidere ich. Wunderschön. Ohne Noten. Versunken in sein Spiel.
Er habe Respekt vor dem Gerät, sagt er. Er traue sich gar nicht, richtig in die Tasten zu hauen. Das sei schließlich jahrhundertelange Arbeit. Und wann habe er denn mal die Gelegenheit, zwei Meter lange Basssaiten zu spielen? Da habe einer eine Vision gehabt, als er diesen Flügel baute.
Seine eigene Vision sieht Martin Kohlstedt früh vor Augen. An einem verstimmten Klavier im Wohnzimmer der Eltern in Breitenworbis im
Eichsfeld. In der nächstgelegenen größeren Kleinstadt, in Leinefelde, besucht er die Musikschule und macht seinen Klavieroberstufenabschluss. „Viele wurden in die Musikschule gezwungen und haben dann in der Pubertät aufgehört. Ich habe dort einen Gesprächspartner gesucht, der meine Probleme versteht. Unter anderem die mit Mädchen“, erinnert er sich schmunzelnd. Das Klavier hört ihm zu. Angefangen hat er mit Keyboardunterricht. Jazz. Das fördert die Harmonie und die Eigenständigkeit, weil man sich viel selbst erarbeiten muss. Der klassische Leitfaden hätte ihm nicht gut getan, „weil man erst viel nachspielen muss“. Da bleibt die eigene Identität auf der Strecke. „Ich wollte mich ausdrücken, dafür brauchte ich mein eigenes Vokabular und nicht das von einem Genie von 1700-irgendwas.“
Deshalb schreibt er auch nicht auf, was er komponiert und spielt immer ohne Noten. Noten engen ihn ein, gerade bei Konzerten. Seine Stücke sind nicht fertig, sie entwickeln sich weiter. Wenn er live spielt, kommt alles aus seinem Kopf, seinem Inneren.
„Ich habe ein Stück, das basiert auf einem A, ich drücke diesen Ton ganz meditativ hintereinander durch. Dann beginne ich, mit der anderen Hand ganz langsam die Sachen drumherum zu bauen. Das ist wie ein Sog. Das Stück kann acht Minuten lang werden oder zwanzig. Deshalb ist live für mich so wichtig. Auf der CD ist das Stück nicht fertig, es beschreibt einen Zustand. Ich bin ganz frei damit. Live kann ich damit machen, was ich will, je nachdem wie der Abend läuft, das Publikum reagiert. Dadurch ist es ein echtes Gespräch, ich habe keine Floskeln mehr. Es ist mir wichtig, auf der Bühne immer wieder an Grenzen zu kommen. Deswegen spiele ich auch elektronische Konzerte, um meine Musik und die Zuhörer zu öffnen. Das ist eine ganz schöne Reise.“
Seine Reise führt Martin Kohlstedt nach seinem Oberstufenabschluss mit 18 nach Weimar, für die Prüfung vertonte er einen eigenen Film über seinen Hund. An der Bauhausuniversität studiert er Mediendesign und fängt an zu programmieren. Weimar wird zu seinem Spielplatz, hier findet er Ruhe, um mit sich selbst zu sein. Freiheit. Er denkt in alle Richtungen, schafft sich Möglichkeiten. Hier lernt er den Professor und Musiker Carsten Daerr kennen. Mit ihm fängt er an, die Musik noch einmal ganz anders aufzurollen, denn Daerr projiziert die Musik auch aus seinem Inneren heraus. Hier beginnt er in einer Garage Hip-Hop zu machen. In Erfurt ist er viel im Zughafen, wo er mit Clueso jammt. Schiebt dicke Beats und fette Raps, elektronisches Zeug mit Karocel. Er lernt viel, spielt gleichzeitig in sieben Bands und komponiert Filmmusik. Seine eigene Musik, das Pianospiel, steht im Hintergrund. Er will und muss das nicht mit anderen teilen. Noch nicht.
„Ich schaue zu Menschen auf, die es irgendwie geschafft haben, mit sich ins Reine zu kommen, das machen, was sie wollen, egal wie groß die Sache ist. Dann strahlen sie Energie aus. Das inspiriert mich.“
Durch ein ganz persönliches Erlebnis verspürt er plötzlich das Bedürfnis, in seinem 13 Quadratmeter großen Zimmer etwas Eigenes fertigzustellen. „Tag“ erscheint 2012. Darauf verarbeitet er „tiefe Risse“, die ihn sehr beschäftigt haben. Er schaut zurück in die Vergangenheit, bearbeitet Stücke, die er schon mit 15 komponiert hat. Er stellt Fragen, sucht nach Lösungen. „Tag“ ist verspielt. „Nacht“ (2014) ist ein Monolog. Sie versucht ihn zu beruhigen. Das braucht er nach dem Erlebten. Jetzt ist es abgeschlossen, aber für immer gespeichert. Viele Menschen verstehen seine Musik, haben ihren eigenen Film dazu, das gibt ihm Energie. Jetzt kann er seine Musik auch endlich ernstnehmen, was er lange nicht vermochte. Er gibt alle Bandprojekte auf. Auf Tournee, wenn er live spielt, kommt das Innere nach außen. „Das Gift muss raus“, nennt er das. Seine typische Metapher dafür, „überhaupt in irgendeiner Form künstlerisch aktiv zu sein“.
„Eigentlich ist das Instrument für die Art Musik, die ich mache, egal. Ich habe begonnen für Bilder Musik zu machen und gelernt, dass ich einfach ein Instrumentalmusiker bin. Für mich hat das einen viel höheren Stellenwert, als wenn man mit Worten versucht, das noch einmal zu unterstreichen. Es ist total schön, damit umzugehen, wenn man mit sich selbst am Klavier spricht.“
Das Solopiano verkleinert seinen Kosmos, es limitiert ihn. Das Elektronische hat dagegen eine Tür geöffnet. Beim Spielen auf dem Synthesizer lernt er, dass er genau in diesem Moment etwas sagen kann. Man kann auch mal schreien, drüberwischen, ausbrechen. Das Klavier sei dagegen eine ausgetüftelte Sprache, das Gespräch mit sich selbst, es behandelt die Retrospektive. Mit dem Mix aus Klavier und Synthesizer hat er für sich quasi ein neues Instrument gewonnen – introvertiert und extrovertiert.
„Ich kann den leisesten Klavierton spielen und gleichzeitig ein krassen Synthesizerton drüberlegen. Das schmerzt auch manchmal. Die Lieblichkeit des Klaviers kommt dann wieder durch und ist gefangen. So ist das Leben. Es wäre nicht mein echtes Leben, wenn man nur von der Vergangenheit bzw. von der Klavierseite erzählt. Es passieren auch ganz viele kleine Unglücke in diesem Moment, wenn ich live spiele, die zu neuen Stücken führen. Deswegen ist live eigentlich das, wofür ich Musik mache. Das Gespräch mit dem Publikum! Die Musik ist dabei immer einen Schritt voraus. Was du spielst, ist immer der Blick in die Zukunft, so soll es sein.“
In der Gegenwart sind das Fotoshooting und damit leider auch das kleine Privatkonzert beendet. Die Zukunft wird für Martin Kohlstedt und sein kleines eigenes Label spannend. Er macht Musik für Computerspiele, für Imagefilme, für Filmprojekte, spielt auf Festivals. Anfang September spielt er in Mailand im Deutschlandpavillon auf der Weltausstellung Expo 2015, in Hamburg auf dem Reeperbahnfestival vor großen Festivalorganisatoren. Und er spielt ein Solo auf der neuen Platte seines Freundes Mathias Kaden, dem erfolgreichen DJ aus Gera. Demnächst erscheint eine Re-Work-Platte, auf der internationale Musiker Martin Kohlstedts Klavierstücke interpretieren. Anschließend geht er mit seinen eigenen elektronischen Re-Works auf Tour. 2016 wird dann etwas ganz Neues herauskommen, was, weiß er noch nicht genau. Es geht in Richtung Elektronik. Im Ursprung soll das Klavier oder zumindest ein Tasteninstrument aber erhalten bleiben. Und vielleicht erfüllt sich ja auch der Traum, einmal für einen Tatort die Filmmusik zu komponieren. Hollywood wäre aber auch ein schönes Ziel.
Martin Kohlstedt lacht und verlässt den Festsaal. Es war ein schönes musikalisches Gespräch. Gut, dass der Porsche noch warten muss.
Fotos: Mario Hochhaus